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Vor 100 Jahren wurde der Dichter Albert Vigoleis Thelen geboren

Thelen: Ein unstetes Wanderleben

Von Rainer Mayerhofer

Ich bin nicht von memoirenfähiger Geburt, und eine vielseitig verkrachte Existenz dazu, vermerkte der Schriftsteller und Übersetzer Albert Vigoleis Thelen im Prolog seines vor nunmehr 50 Jahren veröffentlichten Buches "Die Insel des zweiten Gesichts", das anlässlich seines 100. Geburtstages neu aufgelegt wird. Und rechtzeitig zum 100. Geburtstag erschien auch im Arche Verlag die Thelen-Biografie "Wanderer ohne Ziel" von Cornelia Staudacher.

An der Geburt des kleinen Albert, der als dritter von vier Söhnen des Buchhalters Louis Thelen und seiner streng gläubigen Frau Johanna am 28. September 1903 in der Ortschaft Süchteln am Niederrhein zur Welt kam, war vielleicht nichts memoirenverdächtiges, aber schon die Taufe hatte es in sich: Die männliche Taufgesellschaft feierte nämlich das Ereignis ausgiebig und auf der Schnapsfahrt durch verschiedene Kneipen blieb der Täufling auf einem Schanktisch liegen und wurde später, als man die Kneipentour sehr flüssig rekonstruiert hatte, der Mutter gegen eine Flasche "Alten Korn" ausgeliefert. "Aber: war ich noch derselbe? Hatte sich mein Taufzug nicht mit einem anderen, ebenso unchristlichen gekreuzt? War ich ein fremder Säugling, den man nach der heiligen Handlung auch zu Biere getragen?", fragt der Autor in seinem Hauptwerk, der schon erwähnten "Insel des zweiten Gesichts".

Unspektakuläre Anfänge

Die Jugendzeit des vielleicht vertauschten Täuflings jedenfalls verlief ziemlich ereignislos. Dem vorzeitigen Abgang vom humanistischen Gymnasium in Viersen folgte eine Schlosserlehre in einer Weberei und nach einem Jahr Berufstätigkeit als Technischer Zeichner in einer Zentrifugenfabrik in den Jahren 1923/24 der Besuch einer Textilfachschule in Krefeld und ab 1925 in Köln ein Studium in den Fächern Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, das er ein Jahr später in Münster mit den zusätzlichen Fächern Zeitungswissenschaft und Niederländische Philologie fortsetzte. 1928 wirkte er an der Internationalen Presseausstellung "Pressa" in Köln mit, wo er seine spätere Frau Beatrice Bruckner kennen lernte. Anschließend arbeitete Thelen bis 1931 auf der Geflügelfarm seines älteren Bruders Joseph und bemühte sich um erste literarische Veröffentlichungen.

1931 reiste er mit seiner Lebensgefährtin nach Mallorca, von wo ein Hilferuf von Beatrices Bruder gekommen war, der angeblich im Sterben lag. Und damit begann das unstete Wanderleben Albert Vigoleis Thelens und seiner Frau Beatrice, dessen Produkt eines der schönsten Bücher des 20. Jahrhunderts ist: "Die Insel des zweiten Gesichts", ein viele hundert Seiten dicker Roman von barocker Breite, in dem das Leben auf Mallorca vor dem Tourismusboom beschrieben wird.

Vorerst befreite Beatrice, die eben eine kleine Erbschaft gemacht hatte, ihren Bruder Zwingli von allen Schulden, die dieser wegen seiner feurigen Geliebten Pilar, einer gottbegnadeten Hure, gemacht hatte. Und kaum waren die Gläubiger verschwunden, setzte die temperamentvolle Pilar die Verwandten ihres Geliebten vor die Tür, womit deren Kreuzweg begann. Ins hitlerbedrohte Deutschland wollten Albert Vigoleis und Beatrice nicht zurück, aber ihre Barschaft schmolz immer mehr zusammen. Aus der Pension eines anarchistischen Conde, voll mit skurrilen Gästen, übersiedelte man an den Stadtrand, in den Torre del Reloj, ein Gebäude, das sich als Schmugglerzentrum und Oberpuff herausstellte. Sprachstunden, die Beatrice erteilte, und Besprechungen deutscher Exilliteratur, die Albert Vigoleis Thelen unter dem Pseudonym Leopold Fabrizius in der niederländischen Zeitung "Het Vaderland" publizierte, erlaubten nur ein äußerst ärmliches Davonkommen, das durch Fremdenführertätigkeiten aufgebessert wurde. Ausgerechnet der Antinazi Albert Vigoleis Thelen musste Reisenden aus seiner Heimat, die mit Kraft-durch-Freude-Schiffen auf die Insel gebracht wurden, die Schönheiten Mallorcas zeigen. Es gehört zu den amüsantesten Seiten des Romans, wie er die frühen Vorfahren der Neckermänner auf die Schaufel nimmt, ihnen eine alte Kaschemme in Soller als jene Stätte verkauft, in der Cervantes seinen Don Quijote geschrieben hat, und den geschmacklosen Fisch, der dort serviert wird und den die Touristen als Saufraß ablehnen, als gekrollten Hai, als besondere Delikatesse einredet, für die sie in Paris Unsummen zu bezahlen hätten.

Adelige und Mystiker

Aber nicht nur ungebildeten, tölpelhaften Touristen aus der Heimat begegnete Thelen auf Mallorca, sondern auch sympathischen Hochstaplern, wie Mamu, einer amerikanischen Backpulvererbin, die um ihr Erbe prozessierte und eine seltsame christliche Frauenrunde um sich duldete, die immer mehr dem Nazismus verfiel. Oder der skurrilen adeligen Familie Sureda, die schon lange ihr Stammschloss in Valdemossa hatte aufgeben müssen und von Erinnerungen an die alten Zeiten lebte, als Könige in ihren Betten geschlafen und Künstler ihre Salons geziert hatten. Im Haus der Suredas begegnete Thelen auch dem Werk des portugiesischen Mystikers Teixeira de Pascoaes, das er später ins Deutsche und Niederländische übersetzte.

Mit Sekretärsarbeiten für die Schriftsteller Robert Graves und Harry Graf Kessler, den die Machtergreifung der Nazis ins Exil vertrieben hatte, konnte Thelen der ärgsten Armut auf Mallorca entkommen, dem braunen deutschen Konsul und seinen Nachstellungen allerdings nicht. Wiederholt wurde ihm gedroht, dass seine Angehörigen in Deutschland - die sich mit Hitler mehr oder weniger arrangiert hatten - die Konsequenzen für seine politische Haltung zu tragen hätten. Man versuchte ihn aber auch mit Angeboten wie der Leitung einer deutschen Auslandszeitung in Spanien zu ködern, ein Versuch, der mit dem hochkantigen Hinauswurf des Werbers aus der Thelenschen Wohnung in Palma endete.

Nicht ganz so erfolgreich im Abwimmeln war Thelen allerdings bei manchen Emigranten, die seine Hilfe suchten, wie jenem, dem der Zoll in Palma seine umfangreiche Sammlung pornografischer Literatur beschlagnahmt hatte. Immerhin: es wurde ein äußerst amüsantes Kapitel in der "Insel".

Im Juni 1935 begann Thelen einen Briefwechsel mit dem portugiesischen Dichter Teixera de Pascoaes, der bis zum Tod des Dichters am 14. Dezember 1952 dauern sollte. Im Brief vom 2. Juni bat er um die Erlaubnis, Pascoaes' Biografie des heiligen Paulus ins Deutsche übersetzen zu dürfen, bereits ein Monat später bittet er auch um die Erlaubnis für eine Übertragung ins Niederländische. Als der wohlhabende Gutsbesitzer Pascoaes erkannte, in welch ärmlichen Umständen Thelen lebte, schenkte er ihm alle Tantiemen aus den Übersetzungen.

Mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges wurde die Lage für Thelen und Beatrice auf Mallorca lebensgefährlich. Die deutschen Nazis hatten es geschafft, die beiden auf die Liste der von der Falange zu exekutierenden Personen zu reklamieren. Nur dem Zufall und der Tatsache, dass sich Thelen nie um die spanische Politik gekümmert hatte, verdankten die beiden, die die kritischen Wochen im Haus einer Freundin auf dem Land verbracht hatten, ihr Leben. Mit einem englischen Schiff wurden sie von der Insel evakuiert und gelangten über Marseille nach Basel, wo Beatrices Familie herstammte. Aber auch dort wurden sie ständig von den Nazis belästigt. Beatrice, die durch ihre Heirat die Schweizer Staatsbürgerschaft verloren hatte, sollte mit Albert Vigoleis "heim ins Reich".

1937 übersiedelte das Ehepaar deshalb nach Auressio im Tessin, wo Thelen an der Übersetzung des "Paulus" arbeitete. Schwierigkeiten mit der Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz führten zur Übersiedlung nach Frankreich und bei Kriegsausbruch zur Flucht nach Portugal, wo Pascoaes ihm Exil auf seinen Gütern angeboten hatte.

Die Flucht durch Spanien, wo Thelen noch immer auf der Liste der Gesuchten stand, gleicht einer Köpenickade, die Thelen in der geplanten Fortsetzung der "Insel" ausführlich beschrieb. (Diese Fortsetzung erschien nie, das Manuskript wurde angeblich vernichtet, die Tonbandaufnahme einer Lesung hat jedoch das neue spanische Abenteuer Thelens der Nachwelt erhalten.)

Niederländisch und Deutsch

Im Exil übersetzte Thelen den Roman "Hieronymus. Der Dichter der Freundschaft" von Pascoaes ins Niederländische und Deutsche und erstellte auch eine deutsche Übersetzung der Napoleon-Biografie von Pacoaes, für die er aber zeit seines Lebens keinen Verleger fand. Das Buch wurde erst 1997 von Thelens Erben veröffentlicht. Eine niederländische Übersetzung erschien dagegen bereits 1950.

1942 veröffentlichte Albert Vigoleis Thelen seinen ersten Gedichtband unter dem Titel "Schloss Pascoaes".

Bis 1947 lebten Albert Vigoleis und Beatrice Thelen im portugiesischen Exil, dann übersiedelten sie nach Amsterdam, wo Thelen weiterhin an Übersetzungen arbeitete.

1951 unterzeichnete er mit dem holländischen Verleger Geert van Oorschoot den Vertrag für sein Buch "Die Insel des zweiten Gesichts", das im Herbst 1953 gleichzeitig auf Niederländisch und Deutsch auf den Buchmarkt kam und ein literarischer Geheimtipp wurde. 1954 wurde Thelen für die "Insel" mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr veröffentlichte er auch den Gedichtband "Vigolotria".

Gesundheitliche Probleme seiner Frau Beatrice führten 1954 zur Übersiedlung in die Schweiz, wo Thelen bis 1960 in Ascona lebte und dann bis 1973 in Blonay das Anwesen einer reichen Mexikanerin verwaltete. 1955 veröffentlichte Thelen einen weiteren Gedichtband "Der Tragelaph" und 1956 den Roman "Der schwarze Herr Bahßetup", die skurrilen Abenteuer eines Diplomaten in Amsterdam, den Thelen zu betreuen hatte. In dem in Thelens Todesjahr veröffentlichten Buch "Der Magische Rand", in dem mit viel Humor der Kauf einer elektrischen Schreibmaschine geschildert wird, bekommt man Einblick in die Schweizer Jahre des Schriftstellers, die auch nicht eben von finanzieller Üppigkeit zeugen. Die Not der Jahre im Nachkriegs-Holland kann man aus den Briefen an Teixeira de Pascoaes ablesen.

1962 wurde Thelen eine Rente als Verfolgter des Nazi-Regimes bewilligt, die man ihm jahrelang mit der Begründung verweigert hatte, er hätte ja eigentlich keinen Grund gehabt, ins Exil zu gehen. 1963 veröffentlichte er als Privatdruck den Gedichtband "Runenmund", 1967 die Erzählung "Glis-Glis" und 1979 den Gedichtband "Im Gläs der Worte". Wie Cornelia Staudacher in ihrer Thelen-Biografie unter Bezugnahme auf die Witwe Beatrice schreibt, besteht das Hauptwerk des Schriftstellers in seinen unzähligen Briefen, die wohl mehr als 600.000 Seiten ausmachen. Zeitlebens hatte Thelen des Öfteren geklagt, dass andere Schriftsteller aus seiner amüsanten Korrespondenz immer wieder Anleihen gemacht hätten.

1973 - Albert Vigoleis Thelen feierte in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag und seine mexikanische Gönnerin Elita Lüttmann war verstorben - bezog das Ehepaar eine eigenen Wohnung in Lausanne-Vennes am Genfer See, die in den folgenden 13 Jahren ihre Bleibe werden sollten. Dem 81-Jährigen wurde 1984 vom Land Nordrhein-Westfalen der Professorentitel verliehen, ein Jahr später wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, aber wirklich stolz war Albert Vigoleis Thelen auf das Ehrenabitur, das ihm seine einstige Schule, die er vorzeitig verlassen hatte, verliehen hatte.

1986 übersiedelte das Ehepaar, das zunehmend unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen litt, in ein Seniorenheim in Dülken am Niederrhein, wo Albert Vigoleis Thelen am 9. April 1989 starb. Seine Frau Beatrice überlebte ihn knapp drei Jahre bis zum 19. Jänner 1992.

Literatur: Neu erschienen: Cornelia Staudacher: Albert Vigoleis Thelen. Wanderer ohne Ziel. Ein Porträt. Arche Verlag, Zürich 2003.

Neu aufgelegt: Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts. Roman. Claassen Verlag, Hildesheim 2003.

Lieferbar: Der schwarze Herr Bahßetup. Roman. Claassen Verlag.

Sie tanzte nackt auf dem Söller. Das Leben des Albert Vigoleis Thelen. Aus seinen Texten zusammengestellt von Jürgen Pütz. Claassen Verlag, 1992.

Der Magische Rand. Eine abtriftige Geschichte. Juni-Verlag, Mönchengladbach 1989.

Briefe an Teixeira de Pascoaes. Weidle Verlag, Bonn 2000.

Freitag, 26. September 2003

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