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Über Leben und Werk der Linzer Schriftstellerin Margit Schreiner

Schreiner: Die Erfindung der Erinnerung

Von Veronika Doblhammer

Der Jahrgang 1953 feiert heuer den Fünfziger. Auch bei Margit Schreiner, der in Linz geborenen Dichterin und Schriftstellerin, wird es am 22. Dezember so weit sein. Soeben publizierte sie ihr neues, vielbeachtetes Buch "Heißt lieben", in dem sie in der Auseinandersetzung mit dem Tod einer Mutter dem von ihr geprägten Liebesmuster auf die Spur kommt.

Margit Schreiner hat sich ihren Platz in der deutschsprachigen Literatur als Chronistin weiblicher Lebenserfahrung erschrieben, die berichten will und nicht urteilen, die das Verschwiegene im Alltäglichen ohne Selbstschonung zur Sprache bringt.

Als Tochter eines Voest-Buchhalters und seiner Frau geboren, maturierte Schreiner 1972 am Wirtschaftskundlichen Realgymnasium in Linz. Sie schloss ein Studium der Germanistik und Psychologie in Salzburg ab und begann bei Walter Weiss eine Dissertation über "Die Kategorie des Schönen in der Faustdichtung".

Mit der Doktorarbeit im Gepäck, folgte sie ihrem Mann, einem Sprachwissenschaftler, 1977 nach Japan. Im fernen Übersee trat das Interesse an der Dissertation hinter erste literarische Arbeiten zurück; es entstand die Erzählung "Die Bindermichler". Wieder in Salzburg, nahm sie einen Halbtagsjob als Sekretärin an und widmete sich nun intensiv der Literatur. 1981 brach sie das Studium endgültig ab und schrieb ab nun systematisch. Lesungen, kleinere Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelbänden folgten.

Die ersten literarischen Versuche zeigen ähnliche Ansprüche wie die schwierige, theoretisch angelegte Dissertation. Später ironisiert die Schriftstellerin diese ersten Arbeiten, wenn sie über ein Frühwerk ihrer Erzählerin schreibt: "Es wimmelte nur so von Anspielungen auf die (.) Zeichnungen Picassos und die griechische Mythologie."

Frau mit "Kinderblick"

Als nach fünfjähriger Odyssee durch die deutsche und österreichische Verlagswelt 1989 endlich ein Manuskript mit dem Titel "Die Rosen des Heiligen Benedikt" von dem unkonventionellen Schweizer Haffmans-Verlag publiziert wird, zeigt sich die Erzählerin darin von einer ganz anderen Seite. Sie wählt die Haltung einer Naiven, einer Frau mit "Kinderblick", und schreibt in der Ich-Form. Dieser Erzählerin, die nicht urteilen, sondern nur berichten will, ist jedes Ereignis gleich viel wert, somit wird auch Peinliches, Abgründiges, Gewöhnliches in das Alltägliche verwoben. Die bevorzugte Form ist die novellenartige Erzählung. Mehrere Geschichten gewinnen untereinander Zusammenhalt durch die Zeit, in der sie handeln, oder durch eine thematische Klammer.

Seit 1980 lebt Margit Schreiner nach der Trennung von ihrem Mann mit ihrem späteren zweiten Ehemann, einem deutschen Schriftsteller, zusammen. Sie pendelt zwischen Paris und Salzburg, später auch zwischen einem Bauernhaus in Italien und der gemeinsamen Wohnung in Berlin. Struktur erhält ihr Tag durch ein Mindestpensum von drei Stunden Schreibarbeit täglich.

1990 veröffentlicht der Haffmans-Verlag einen neuen Band. Der Kinderblick der Erzählerin wendet sich nun zurück, in die Zeit der Kindheit: In "Mein erster Neger. Afrikanische Erinnerungen" beharrt die Erzählerin auf ihrer kindlichen Vorstellung, verkörpert in einem braungebrannten Südländer, den sie mangels Vergleichsmöglichkeiten für einen "Neger" hält, um dann als Erwachsene ihre träumerischen Vorstellungen in der Realität des touristischen Afrika verlieren zu müssen. Ein zentrales Thema Schreiners wird hier deutlich: Wie Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen, unsere Erwartungen und Handlungen bestimmen. Der Erzählband ist u. a. der "ZEIT" und der "Süddeutschen" eingehende Rezensionen wert.

1990 markiert auch das Jahr einer bösen Erfahrung: Margit Schreiner wird als Favoritin beim Klagenfurter Bachmann-Preis gehandelt und während des Lesens wegen einer in der "Wiener Zeitung" unter anderem Titel erschienenen Erstfassung der Geschichte disqualifiziert. Die Chance ist verspielt, eine nochmalige Teilnahme 1998 wird nicht den erhofften Erfolg bringen.

Roman in Geschichten

Es folgt eine Babypause: Tochter Oktavia wird 1991 geboren. Neben der Erziehungs- und Pflegearbeit geht das Schreiben an dem nächsten Band nur schleppend voran. Das Hörspiel "Bohrmaschine oder Warten auf Berlin" wird 1992 produziert. 1995 erscheint schließlich ein "Roman in Geschichten" mit dem Titel "Die Unterdrückung der Frau, die Virilität der Männer, der Katholizismus und der Dreck". Wieder geht es um die "erinnernde Erfindung" der Kindheit, der

Jugend - und um den großen

Wendepunkt im Leben einer

Frau: die Schwangerschaft. Das komische Element tritt in diesem Buch stärker hervor.

Mit "Nackte Väter" publiziert die Autorin 1997 wieder einen umfangreicheren Text, der ein starkes Echo findet. Zwei große Tabubereiche schildert sie darin: den Eros zwischen Vater und Tochter (gipfelnd im Bild des "Hineinpassens" in den Vater) und das Leiden der pflegenden Umgebung an einem dahinsiechenden Alzheimer-Patienten. Virtuos setzt sie einmal mehr den erzählerischen "Kinderblick" ein: Rückblenden in die Kindheit, die den noch jungen starken Vater zeigen, gestalten die Gefühle angesichts des Sterbenden umso berührender. Gegen jede Versuchung, ins Abstrakte oder gar in den Kitsch abzurutschen, schreibt sie an, "in ihrem Willen, standzuhalten, auch den leiblichen Niedergang sprachlich zu benennen und das lange Sterben im doppelten Sinne des Wortes wahrzunehmen".

Gewiss ohne es zu ahnen, hat Margit Schreiner nach dem Tod des betagten Vaters 1994 mit "Nackte Väter" eine "Trilogie der Trennungen" begonnen. 1998 stirbt auch ihre alte Mutter. Um den Tod zu verarbeiten, benötigt Schreiner einige Jahre. Auf "Nackte Väter" folgt deswegen 2001 nach der Trennung von ihrem zweiten Mann der Roman "Haus, Frauen, Sex", wieder in Ich-Form geschrieben. Diesmal wählt Schreiner als Erzählerfigur einen durchaus reflektierten und sprachgewaltigen, durch seine machistische Beschränktheit jedoch tragikomisch wirkenden Mann. In einem wütenden Monolog kommentiert er seine Scheidung.

Aufsehen erregend ist daran, dass das Leiden und die Motive der geschiedenen Frau verständlich werden, ohne dass die Gefühlswelt des erzählenden Mannes verachtet wird. Der Roman kann deswegen gleichzeitig als feministische Abrechnung und als Verständigungstext für Männer rezipiert werden. Eine lange Rezension von Henryk M. Broder im "Spiegel" feiert das Buch als Abrechnung "mit dem Größenwahn der Männer, mit der Hinterlist der Frauen". Die Verkaufszahlen schnellen in die Höhe, umso mehr, als das Buch am 14. Dezember 2001 im "Literarischen Quartett" besprochen wird.

Im Jahr 2000 ist Margit Schreiner, die Globetrotterin, mit Tochter Oktavia in ihre Heimatstadt Linz übersiedelt, wo sie auch heute noch lebt. Als dritte Trennungsgeschichte erschien im August 2003 bei Schöffling & Co. (welcher Verlag seit dem Konkurs von Haffmans ihre Bücher betreut) "Heißt lieben", eine berührende Auseinandersetzung mit Mutterliebe, Tod, Trennung und Neubeginn.

Der erste, oft abweisende Eindruck eines Schreiner-Textes ist jener des Autobiographischen. Der Leser meint sofort zu ahnen: So muss das tatsächlich passiert sein, wie es hier erzählt wird. "Mit dem Schein der Authentizität kann ich den Leser dahin bringen, dass er mir zu Abgründen folgt, wohin er mir vielleicht sonst nicht folgen würde", meint die Autorin über ihr literarisches Konzept. Freilich reizt dieses "Autobiographische" bei jedem Buch der Schreiner aufs Neue zum Widerspruch, denn das Beschreiben des Erlebten hat dort seine Grenze, wo Persönlichkeitsrechte verletzt werden könnten. Im Unterschied zu anderen Autoren (etwa Thomas Bernhards "Holzfällen") hat sich bisher aber noch niemand wegen einer Darstellung durch Margit Schreiner öffentlich verletzt gezeigt.

Dennoch ist dieses konsequente Schreiben hart am selbst Erlebten ein Tabu brechender Akt, sonst kämen Interpreten des Werkes nicht immer wieder darauf zurück. Was nicht sein darf, worüber man nicht sprechen darf - all das reizt Margit Schreiner. Es reizt sie, weil sie wie alle ihrer Generation in einem Klima des Verschweigens und Vertuschens aufgewachsen ist, mit einem Geschichtsunterricht, der nur bis 1918 reichte, weil die Lehrer Angst hatten, sich bei den Eltern und Vorgesetzten in die Nesseln zu setzen.

Die Akzeptanz der Schreiner-Texte wird durch das "Autobiographische" gestört: etwa wenn sie, wie zuletzt in "Heißt lieben", beschreibt, was pflegende Angehörige nicht aussprechen dürfen: Dass die Hilfsbedürftigkeit der Pflegefälle belastend ist und Wutgefühle auslöst, die unterdrückt werden müssen. Das Authentische verstört, stößt ab und bindet gleichzeitig an den Text, weil das eigene Erleben darin wieder erkannt wird. Da ist eine Frau, die der Leserin, vielleicht einer verzweifelten pflegenden Tochter, sagt: Auch ich hatte Wutgefühle, als ich meine todkranke Mutter pflegen musste.

Unter- und Übertreibung

Dennoch schreibt Margit Schreiner nicht an ihrer Autobiographie. Es geht ihr um das präzise Neuerfinden innerhalb der Erinnerung. Das erfordert Unter- oder Übertreibung, um den Anschein des Authentischen zu erzeugen. Den erreicht sie durch harte Arbeit an der Genauigkeit ihrer Texte, anknüpfend an Adalbert Stifter, den sie nach eigener Aussage immer wieder liest. Sich nähern - und sich entfernen: beides gehört zur Ars amandi (et scribendi) der Margit Schreiner. Das Sich Nähern bezieht sich auf das Stiftersche Stilideal, auf das Wirken des Allgemeinen (der Liebe) im Besonderen. Erzwungene Nähe dagegen erzeugt Wut und den Wunsch nach Entfernung. Dies wird sprachlich mit Verallgemeinerungen und Wiederholungen erzeugt, Stilmittel, wie sie in der Literatur vor allem seit Thomas Bernhard bekannt sind, auf den Schreiner auch immer wieder ironisch Bezug nimmt.

Mit ihrem letzten Buch geht Margit Schreiner in ihrer schonungslosen Selbstreflexion weiter als bisher: Die einverleibende Liebe der Mutter erscheint als Modell nun auch für das Erzähler-Ich; das Schreiben erfindet das einverleibte Objekt nicht nur, sondern erkennt auch die Gefahr, es zu zerstören. Man ahnt schon: Auch Margit Schreiners nächstes Buch wird spannend sein.

Freitag, 12. September 2003

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