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Charles Perrault (1628 bis 1703), ein Märchenerzähler, der Rätsel aufgibt

Es war einmal . . . -aber was?

Von Andrea Traxler

Zu warten eine Weile auf den Mann, / Der reich ist, schön, galant und sanft, / Ist wohl natürlich auf der Welt; / Doch hundert Jahre schlafend auszuharren! / Man findet keine Mädchen mehr, / Die so in Ruhe schlafen können! / Dies Märchen scheint uns zu erklären noch: / Oft machen Hymens angenehme Bande / Nicht minder glücklich, sind sie nicht so schnell geknüpft; / Denn man verliert durch Warten nichts. / Doch dies Geschlecht mit so viel Feuer / Verlangt gar sehr nach ehelichem Bund, / Und ich hab nicht die Kraft und nicht das Herz, / Zu pred'gen ihm Moral.

Und dennoch: "La Belle au bois dormant" - als Dornröschen bekannt - präsentiert sich mit dieser Beigabe.

1697 erschien bei Claude Barbin in Paris avec Privilège de Sa Majesté, aber ohne Angabe eines Autors eine Sammlung von acht "Histoires ou Contes du Temps Passé. Avec des Moralitéz", eröffnet mit einer Dedication an Mademoiselle, an die zu diesem Zeitpunkt 21-jährige Élisabeth-Charlotte d'Orléans: Nichte von Louis XIV. und Tochter von dessen Bruder Philippe (Duc d'Orléans) aus zweiter Ehe mit Liselotte von der Pfalz. Gezeichnet ist diese Widmung mit "P. Darmancour", wobei es sich um den dritten, 1678 geborenen Sohn von Charles Perrault handeln soll: Pierre.

Varianten und Hypothesen

Nebst "Dornröschen" sind in dem Band vier weitere Märchen versammelt, die die Brüder Grimm auch in ihre 1812 publizierten Kinder- und Hausmärchen hineinsammelten: "Le Petit Chaperon Rouge" als "Rotkäppchen", "La Barbe-Bleue" als "Blaubart", "Cendrillon ou La Petite Pantoufle de Verre" als "Aschenputtel" und "Le Maître Chat ou Le Chat Botté" als "Der gestiefelte Kater". Der Stoff aus "Les Fées" ist in Grimms "Frau Holle" und "Die drei Männlein im Walde" wiederzuerkennen, und "Le Petit Poucet" findet sich wiederum in Ludwig Bechsteins 1845 erschienenem Märchenbuch als "Der kleine Däumling". Das letzte Märchen dieser Sammlung, "Riquet à la Houppe" (Riquet mit dem Schopf) findet keine deutsche Entsprechung. Hingegen wurde bereits 1634 in Giambattista Basiles "Pentamerone" einerseits der Dornröschen-Stoff in "Sole, Luna e Talia", andererseits das Aschenputtel in "La gatta cenerentola" vorgeführt.

Aber während in Basiles Aschenkatze am Ende deren garstige Schwestern nach der für sie ungelungenen Schuhprobe verärgert sich eingestehen müssen: "Ein Narr ist, wer's mit Sternen aufnehmen will", bereuen die französischen ihre Ekelhafigkeiten und werden dafür von Aschenputtel belohnt: Auf das Schloss ihres Prinzen mitgenommen, werden sie auch noch passablen Ehemännern zugeführt, nicht ohne moralische Mitgift aber. Und während die Grimm'schen nur erbleichend erschrecken, nachdem sie unter mütterlicher Anteilnahme ihre Füße kaum glaublich malträtierten, um die Schuhprobe doch zu verlieren, bekommen Bechsteins Schwestern von einem Vogel die Augen ausgepickt grauslicherweise, auf dass sie "für ihren Neid und ihre Bosheit mit Blindheit geschlagen (sind) ihr Leben lang".

Variantenreich sind auch die philologischen Hypothesen, die sich an die "Histoires ou Contes du Temps Passé" anschließen: Die der Frage etwa, ob der Autor sich als Autor mit Erscheinen dieser Sammlung nicht hat deklarieren wollen oder nicht hat können. Einerseits wird angenommen, sie sei das Produkt von Perrault fils, und Perrault père habe sie nur stilistisch und moralisch verfeinert; andrerseits wird angenommen, sie sei das Produkt von Perrault père, der Transport desselben unter dem Namen des Sohnes aber das Produkt einer Spekulation auf eine mögliche Protektion, die der Sohn eben hätte notwendiger brauchen können. Eine "hommage intéressé" sozusagen. Darüber hinaus wird erwogen, Perrault habe sich in einer Zeit, da das Genre Märchen mehr eine feminine Neigung war, nicht just als Académicien auf diesem Terrain etablieren wollen. Oder: diese Textsorte sei um diese Zeit in Frankreich zu neu, zu "frivole" gewesen, als dass Perrault es riskieren hätte wollen, sich mit 69 Jahren zu blamieren. Geteilt sind die Meinungen auch darüber, ob Perrault sich zu Lebzeiten noch als Autor bekannt hat: Einerseits wird behauptet, er habe sich nach dem großen Erfolg der Contes erklärt, andrerseits wird behauptet, er habe die Autorschaft weder zugegeben noch bestritten.

Das Rätsel der Widmung

Die erwähnte Widmung behauptet: "Man wird es nicht seltsam finden, dass es einem Kind Vergnügen machte, die Märchen dieser Sammlung zu schreiben, man wird jedoch erstaunt sein, dass es die Kühnheit besaß, sie Euch zu überreichen." In der Folge wird der Märchen gewinnbringende Verwendung und deren "sehr nützliche Moral" erhellt. Und die Komposition, darin "der löbliche Eifer" der einfachen Familien in der Kindererziehung vermittelt werden will, der Geschichten entstehen lässt, "die ohne logische Vernunft sind, weil man sich den Kindern anpasst, die solche Vernunft noch nicht besitzen", führt zu der rhetorischen Frage: "Wem aber steht es besser an, zu wissen, wie das Volk lebt, als denjenigen, die vom Himmel ausersehen sind, es zu führen?"

Diese Kühnheit war gut adressiert: Mademoiselles Vater war potentieller Thronfolger immerhin. Erstaunlich aber, dass ein Kind einen derartigen Text zu verfassen sich bemüßigt fühlen sollte. Im selben Jahr erschien eine weitere Ausgabe mit demselben Titel und der Notiz: "Par le Fils de Monsieur Perreault de l'Académie François". Monsieur durfte 1671 einen der 40 begehrten Fauteuils in der Académie Française beziehen: No 23. Das kolportierte Kind war 1697 19 Jahre alt, auch wenn bevorzugt das Bild eines Zehnjährigen transportiert wird. 1707 erschien die Sammlung mit dem Titel "Contes de Monsieur Perrault. Avec des Moralitéz", 1724 wurde als Autor "Ch. Perrault" gesetzt und in der Folge dann der ganze Name angegeben, es variieren nur noch die Titel: "Contes de Feés par Charles Perrault", "Les Contes de Charles Perrault", "Contes du Temps Passé par Charles Perrault" usw. usf.

Der Sohn als Bruder?

Bemerkenswertes zu dieser rätselhaften Edition hat Marc Soriano in seinem Buch "Les Contes de Perrault. Culture savante et traditions populaires" (1968) ausgearbeitet: Über eine Sentenz, die Perraults "Mémoires" einleitet, darin er die Existenz seines sechs Monate nach der Geburt verstorbenen Zwillingsbruders François erwähnt, entwickelt Soriano die Hypothese - "qui reste évidemment une hypothèse" -, Perrault habe diesen Verlust nie zu überwinden gewusst und habe das Zwillingspaar neu formieren wollen. Dazu habe er Pierre verwendet, ihn in die Rolle des ersehnten Zwillingsbruders gedrängt, und für beide seine denkbare Jugend zu kreieren versucht, deren Krönung ein Fabelbuch gewesen sein müsste. Pierre habe das zwar zugelassen, dabei aber eine umfangreiche Agressivität ausgebildet, die, permanent komprimiert, dann umso gewaltiger hervorbrach: Guillaume Caulle. Mit ihm war Pierre 1697 in einen tätlichen Streit geraten, der für Caulle tödlich endete. Dieses Malheur wollte seitens Perrault père mit einer Entschädigung über 2.000 livres an die Mutter Caulle für Medikamente, Verbände und das Begräbnis abgegolten werden. Mutter Caulle aber, mit Signatur ihr Einverständnis erklärend zunächst, stellte kurz darauf die gebotene Summe als möglicherweise zu niedrig in Frage. Die gerichtliche Austragung führte dann dazu, dass die Summe gleich blieb, der Fall aber der Nachwelt zugänglich ist.

Ob Pierre gezielt agiert hat, ist ungeklärt. Jedenfalls kam es hier zu einem Kontrollverlust Pierres, zu einer Entladung seiner Agressivität, die über die Umleitung Caulle wesentlich den Vater oder aber einen väterlichen Anteil gemeint haben könnte. Eine Art Übertragungs-Austragung, ein Ausbruch eines Gegängelten, eines, der begriffen hat, als Vorwand in Verwendung zu stehen? Pierre starb 1700, Soriano vermutet Selbstmord.

Was würde diese Hypothese bedeuten? Dass die "Contes" ein Produkt eines retrospektiven Glücksversuchs sind, eine Illusion, ein Konstrukt du Temps Passé?

Und Darmancour?

Dieser Name in der Widmung, auch "d'Armancour" zitiert, wird in verfügbarem Material meist unkommentiert hingenommen, eine Einstreuung glaubt zu wissen, es handle sich hier um Perraults Stiefsohn, weiß aber nicht zu sagen, wie es zu diesem hätte kommen können. In einem anderen Fall wird Darmancour schlicht durch (. . .) ersetzt und in einem weiteren mit einem nicht näher georteten Besitz der Perraults in Verbindung gebracht. Soriano liefert dazu den Nachweis, dass es zwar eine Gemeinde Armancourt im Departement l'Oise, Arrondissement de Compiègne gibt, in dem dortigen Archiv aber kein Eintrag den Erwerb eines Grundes durch einen Perrault bestätigt. Wer ist also hinter Darmancour verborgen? Der verlorene und begehrte Bruder François? Als "poupée symbolique"? Als "illusion d'optique"? Warum nicht?

Perraults "Mémoires de ma vie" geben weder über den Sachverhalt Darmancour noch über die editorischen Besonderheiten der Märchen Auskunft, sie sind nicht einmal angedeutet. Die Existenz seiner Kinder wird hingegen kurz erwähnt, da er erklärt, er habe sich nach seiner Pensionierung (1683) zurückgezogen, um für deren Erziehung Sorge tragen zu können. Dazu habe er sich in der Nähe des Faubourg Saint-Jacques installiert, von dort es für sie einfach war, in die Schule und wieder nach Hause zu kommen. In einem Pensionat, wo die Sitten nicht von großer Sicherheit sind, wollte er sie nicht wissen. Um wie viele Kinder es sich handelt, wird nicht erwähnt. Diese Memoiren seien auch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen, bemerkt Paul Bonnefon, Herausgeber der zart kommentierten Ausgabe von 1909. Perrault habe sie für seine Kinder geschrieben, ein Architekt aber, Patte mit Namen, habe sie dennoch publiziert (1759), nicht ohne "quelques lègers changements pour la correction du style" vorzunehmen, die nach Bonnefon so leger nicht waren: Es fehlten mitunter ganze Absätze. Bonnefon hat sie zurückkorrigiert.

Ein namenloses Kind

In den Biographien zu Perrault ist meist von vier Kindern die Rede, Name und Geburtsjahr haben aber nur drei: Charles-Samuel (1675), Charles (1676) und Pierre. Und das vierte? Marie-Jeanne Lhéritier de Villandon (1664 bis 1734), Autorin und Perraults Nichte, hatte in ihren vermischten Werken ("Oeuvres meslées" 1695), die Geschichte "Marmoisan ou l'Innocente Tromperie" an Madmoiselle Perrault dediziert. Soriano hat als mögliches Geburtsjahr 1673/74 recherchiert. So war denn ein weiblich Wesen das erste Kind aus Perraults 1672 geschlossener Ehe mit Marie Guichon (geb. 1654), die sehr jung noch, mit 24 Jahren, ein paar Monate nach Pierres Geburt starb: 1678. Perrault war zu diesem Zeitpunkt 50 Jahre alt, wurde Witwer und hatte für drei Kleinkinder und einen Säugling zu sorgen. Seine Nichte, die ihm Sorge tragen half, spricht in ihrer Widmung an Perraults Tochter ein "agréable recueil de contes" an, eine Sammlung mit erzählt bekommenen Geschichten, die Pierre angelegt hat. Diese als "exercices d'tude" interpretierte Sammlung soll unter Anleitung des Vaters entstanden sein, der mit derartigen "bagatelles" seine Kinder amüsieren wollte. Dieses Heft existiert nicht mehr, dafür aber das daraus gezogene Bild, Pierre habe Perraults "Contes" geschrieben. Über Stilrecherchen (Soriano etwa vermerkt dazu interessante linguistische Details) und Vergleiche mit den drei von Charles Perrault zwischen 1691 und 1695 verfassten "Contes en vers" ("La Marquise de Salusses ou la Patience de Griselidis, Peau d'Ane und Les Souhaits Ridicules") gilt die Autorschaft der "Contes en prose" als ziemlich gesichert.

Dass die meiste Literatur zu Perrault sich mit diesem Fabelband beschäftigt, ist nicht verwunderlich. Das Interesse an Märchenstoffen, das Tradieren und Erforschen derselben ist nun einmal größer als jenes an Debatten zur Literaturgewichtung.

Ein Literatenstreit

La Querelle des Anciens et des Modernes - Der Streit zwischen den Traditionalisten und den Modernen. Charles Perrault hatte einen sehr streitbegünstigenden Akzent gesetzt, als er Anfang 1687 in einer Sondersitzung der Académie Française, die der Huldigung des Königs Louis XIV. gegolten hat (eine 1686 notwendige Operation war überstanden), sein Poème "Le siècle de Louis le Grand" vorlas, darin er das bis dahin gültige klassische Altertum als normatives Vorbild demontierte. Seine Abwendung von der Tradition und seine Hinwendung zur Gegenwart, die Hervorhebung des Zeitalters Louis' XIV als zivilisatorischen Höhepunkt und die Betonung der Überlegenheit der zeitgenössischen Literatur

mobilisierte eine Gegenpartei: Jacques-Bénigne Bossuet, François de Salignac de la Mothe-Fénélon, Jean de la Bruyère, Jean de la Fontaine, Jean Racine und dessen Freund Nicolas Boileau (beide 1677 von Louis XIV zu seinen Historiographen ernannt) verteidigten die Antike und wollten in den königlichen Ausuferungen keinen Fortschritt erkennen.

Auf der Seite der Modernen bezogen Charles de Saint-Évremond, Pierre Bayle und Bernard le Bovier de Fontenelle Position, letzterer 1688 mit seiner "Digression sur les Anciens et les Modernes", die auf die Querelle antwortete. Boileau hatte 1674 schon in seiner "L'Art poétique" einzig antike Modelle gelten lassen, 20 Jahre später wetterte er in seinen "Refléxions sur Longin" erneut gegen "die Modernen" und extra gegen Perrault. Dieser wiederum begann 1688 seine Theorie unter dem Titel "Parellèles des Anciens et des Modernes" zu begründen. Diese Beweisführung, eine Serie von abwägenden Dialogen, ergab bis 1697 ein vierbändiges Konvolut. Anstoß dafür war Perraults Zorn über eine Bemerkung Racines, der sein "Poème" als geistreich lobte zwar, in Zweifel setzte aber, dass dasselbe inhaltlich ernst gemeint sein könnte. Wie Perrault im letzten Satz seines letzten Buches: "Mémoires de ma vie" berichtet.

Perrault starb 1703.

Das Rätsel Darmancour lebt weiter.

Freitag, 08. August 2003

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