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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Von einem Tier, das in die Literaturgeschichte eingegangen ist

Mann, Thomas: Ein Bär im Hause Mann

Von Oliver Bentz

Es kann dem unvorbereiteten Besucher im Münchner Literaturhaus am Salvatorplatz schon ein großer Schrecken widerfahren, wenn ihn der Fahrstuhl in die obere Etage bringt: Nachdem sich die Lifttür geöffnet hat, sieht er sich unversehens einem leibhaftigen Braunbären gegenüber, der gefährlich die Zähne fletscht. Erst der zweite Blick offenbart, dass sich hier kein Tier aus den bayerischen Wäldern in die Großstadt verirrt hat: Denn das mannshohe Geschöpf steht hinter Glas und trägt artig eine Holzschale mit einem goldfarbigem Teller in seinen Tatzen. Die angebrachte Beschriftung, die die Existenz des Bären an diesem nicht gerade passenden Ort näher erklärt, enthüllt, dass dies ein ganz ungewöhnliches Tier ist. Es hat lange in der Familie berühmter Schriftsteller gelebt, Literaturgeschichte geschrieben und im Laufe seines nunmehr über hundertjährigen ausgestopften Lebens eine Menge erlebt.

Viktor Mann, der Bruder von Heinrich und Thomas Mann, berichtet in seinem Erinnerungsbuch "Wir waren Fünf" ausführlich über den Bären: "Da stand in der großen Diele zwischen den riesigen Mahagonischränken und der mächtigen Lübecker Truhe der ausgestopfte sibirische Braunbär aufrecht auf seinem schwarzen Sockel und hielt mit den scharf bewehrten Vordertatzen die dunkelrote russische Holzschale für die Visitenkarten. (. . .) Aus dem offenen Rachen drohte das böse weiße Gebiss, aber die braunen Glasaugen und die breite rote Holzzunge wirkten gutmütig, so dass die plump dienende Haltung einigermaßen glaubhaft schien, in der das Raubtier vom Präparator verewigt worden war. Immerhin erschraken manchmal Geschäftsboten oder Handwerker, wenn sie die recht lebendig wirkende Gestalt zum erstenmal sahen, und ich war sehr stolz darauf, gelegentlich solche festen Männer mit den Worten 'Der tuat Eana nix' beruhigen zu können. "

Als Geschenk von Verwandten kam der Braunbär 1869 anlässlich der Hochzeit von Thomas Johann Heinrich und Julia Mann, der Eltern der später berühmten Schriftsteller, aus St. Petersburg in das Lübecker Haus der Familie in der Becker Grube und machte danach deren diverse Umzüge mit. So im Jahr 1892, als Julia Mann nach dem Tod ihres Mannes mit ihren fünf Kindern nach München zog. "Wir haben", so Viktor Mann, "alle fünf als Kinder in ihm eine Art Haustier gesehen, und später bedeutete er uns fast das Sinnbild des Hauses. Immer wieder entmottet, geflickt und geleimt, zog er mit uns von Wohnung zu Wohnung und kam nach meiner Heirat zunächst an mich, später zu Thomas in das Haus in der Poschinger Straße, wo er wieder in einer großen Diele spielenden Kindern zuschauen konnte."

In der Rambergstraße 2, der ersten Station der Manns in München, entstand auch das einzige erhaltene zeitgenössische Foto des Bären. Heinrich und Thomas Manns Schwester Carla schmiegt sich darauf liebevoll an das Tier. Im Hause Mann diente der die Holzschale haltende Bär also dazu, die Visitenkarten der Gäste aufzunehmen. "Der damalige Brauch, diese sich ständig mehrenden papierenen Höflichkeitsbeweise jahrelang sichtbar aufzustapeln", so Viktor Mann, "wird mir ewig unerklärlich bleiben."

Natürlich fand bei einem Schriftsteller wie Thomas Mann, der die Umgebung, in der er lebte, für seine literarischen Zwecke ausgiebig als Steinbruch benutzte, auch der Bär Eingang ins schriftstellerische Werk. Ihm hat Thomas Mann in seinem 1901 erschienenen Erstlingsroman, den "Buddenbrooks", für den er 1929 den Nobelpreis erhalten sollte, ein literarisches Denkmal gesetzt. Anlässlich der Taufe ihres jüngsten Sohnes Hanno kommt der Familie Buddenbrook das Tier als Präsent zu: "Übrigens haben sie (Pastor Sievert Tiburtius und seine Frau Clara, die Schwester von Thomas, Christian und Toni Buddenbrook) den Buddenbrooks ein prachtvolles Geschenk mitgebracht: einen mächtigen, aufrechten, ausgestopften braunen Bären mit offenem Rachen, den ein Verwandter des Pastors irgendwo im inneren Russland geschossen und der jetzt, eine Visitenkartenschale zwischen den Tatzen, drunten auf dem Vorplatz steht." Der junge Hanno Buddenbrook ist es auch, der seine Schulbücher in die fangbereiten Arme des mächtigen Bären wirft.

Nachdem sich Thomas Mann 1914 eine geräumige Villa in der Poschingerstraße gekauft hatte, fand der Braunbär aus seinem Elternhaus bei ihm im Treppenhaus Obdach. Die Erstürmung des Hauses 1919 durch die Roten Garden verhinderte der Schriftstellerkollege Ernst Toller. Von den zwanziger Jahren bis zum Reichstagsbrand wurde das Haus zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt der Stadt. Es verkehrte dort, was im kulturellen Leben Rang und Namen hatte, so etwa Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind oder Gerhart Hauptmann.

Der Bär und die Nazis

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kehrten Thomas Mann und seine Frau Katia von einer Vortragsreise zum Thema "Leiden und Größe Richard Wagners" aus den Niederlanden und Frankreich nicht mehr nach Hitler-Deutschland zurück und entgingen so der sicheren Verhaftung. Sie ließen sich zuerst in Frankreich, dann in der Schweiz und später in den USA nieder. Thomas Mann wurde 1936 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, da er "nicht würdig (sei), den Namen Deutscher zu tragen" (so die Presseanweisung der Nazis). Die Münchner Villa beschlagnahmten die Nazis und versteigerten in einer Aufsehen erregenden Auktion im Oktober 1937 den Hausrat. Nur einige unersetzbare Manuskripte, Bücher und wenige Möbelstücke konnten Thomas Manns Kinder Erika und Golo sowie eine den Autor bewundernde Buchhändlerin in gefährlichen Aktionen ins Exil retten. "Wie das 'Bilderbuch für artige Kinder' fiel unser Bär", so Viktor Mann, "dort dem Dritten Reich zum Raub. Entweder hat ein 'Herrenmensch' sich ihn schlankweg angeeignet, oder ein 'Volksgenosse' hat ihn bei der Versteigerung erworben."

In die Villa zog die Organisation "Lebensborn" ein. Der Braunbär kam in den Besitz eines Münchner Lederwarenhändlers, der ihn im Schaufenster seines Geschäfts ausstellte. Auch nach dem Umzug des Ladens in den fünfziger Jahren fand er als Dekorationsstück Verwendung und stand über vierzig Jahre neben Lederwaren in der Auslage, wo das Tier "billige, aber echte Fenster- und Autoleder" statt der ursprünglichen Holzschale in seinen Tatzen trug.

Im Zuge der Recherche zu Heinrich Breloers Dokumentarspielfilm "Die Manns" kam es zur Wiederentdeckung des einstigen tierischen Hausgenossen. Elisabeth Mann Borgese, die jüngste Tochter Thomas Manns, erkannte ihn im oben genannten Laden wieder. Im Film jedoch, für den sogar die längst abgebrochene Villa Thomas Manns originalgetreu nachgebaut wurde und in dem auch das Tier in vielen Szenen auftaucht, musste der Braunbär "gedoubelt" werden, da sich seine betagte Besitzerin nicht von ihm trennen wollte. Freudig erinnerte sich Elisabeth Mann Borgese im zweiten Teil der Filmtrilogie an die Wahrnehmung des Tieres in ihrer Kindheit: Es hatte eine fühlbare Schusswunde am Kopf, stand "bei uns auf der oberen Diele" und "hatte eine Schale, einen Silberteller".

Nach dem Tod der Ladenbesitzerin und der Schließung des Geschäfts im November 2000 kam der "dahingegangene Angehörige" (Viktor Mann) als Dauerleihgabe an die Stadt München, die im Literaturhaus einen Platz für ihn suchte.

Es fehlten die Schale zwischen seinen Tatzen und der von Elisabeth Mann Borgese erwähnte Silberteller, an den sich niemand sonst erinnerte.

Doch auch hier half der Zufall: Durch den Film auf das Tier aufmerksam geworden, meldete sich, wie der Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer berichtet, im Jänner 2002 die Tochter eines Kunstmalers, die im Besitz des Tellers war. Deren Vater hatte 1937 zusammen mit einem Freund die Vorbesichtigung zur Nazi-Auktion besucht und dieser habe, so die Dame, das Stück kurzerhand unter seinen Mantel gesteckt, gestohlen und später ihrem Vater geschenkt. Seitdem befand sich das Stück im Atelier des Malers in Familienbesitz. Von der Geschichte des Tellers habe ihr der Vater oft erzählt, erinnerte sie sich und gab das auf dunklen Wegen erworbene Gut zurück.

Der literarische Spurensucher Dirk Heißerer weiß über die Geschichte des Tellers zu berichten, dass

Thomas Mann den "Silberteller", der eigentlich aus Messing ist, wahrscheinlich während seiner

ersten Ägyptenreise gekauft hat, die er 1925 zusammen mit seiner Frau auf Einladung der "Stinnes-Linie" unternommen hatte. Aufdringliches "Arabergesindel", so schrieb Mann später, habe ihm damals "allerlei zweifelhafte Souvenirs" angeboten.

Dafür, dass der Teller auf diese Weise in den Besitz des Schriftstellers kam, spricht auch die Tatsache, dass es sich bei dem Stück um touristische Massenproduktion handelt. Die Inschriften und Bilder, die in seine Oberfläche eingelassen sind, ergeben keinerlei Sinn und stammen wohl aus der Hand eines handwerklich begabten Analphabeten. Da Thomas Mann vielleicht - wie so viele Touristen - mit dem in Reisestimmung erworbenen Souvenir aus dem Basar zu Hause nicht mehr viel anzufangen wusste, ist es möglich, dass er ihn einfach auf die Holzschale des Bären gestellt hat.

Wie immer es auch gewesen sein mag: Seit seiner Restaurierung wacht der Braunbär aus dem kalten Russland jetzt im Münchner Literaturhaus. Komplett ausgestattet mit der nach dem historischen Foto rekonstruierten Holzschale sowie dem "Silberteller" versetzt er auch heute wieder nichts ahnende Besucher in Angst und Schrecken.

Freitag, 13. Juni 2003

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