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1933 schwärmte Gottfried Benn vom "neuen biologischen Typ"

Benn: "Das Gehirn ist ein Irrweg"

Von Martin G. Petrowsky

Am 30. Jänner 1933 wird Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler gekürt. Von seiner neuen Rolle als Chef einer Koalitionsregierung erwartet sich die deutsche Öffentlichkeit die Zähmung dieses "Wilden". Doch bereits die folgenden Wochen machen deutlich, wie falsch diese Erwartung gewesen ist.

Am 24. April schockiert der angesehene expressionistische Lyriker Gottfried Benn, der bis dahin noch nie politisch in Erscheinung getreten ist, seine Freunde und Anhänger mit einer Rundfunkrede unter dem Titel "Der neue Staat und die Intellektuellen". Die darin vertretenen Thesen sind nicht nur aus heutiger Sicht abstrus; kritische Reaktionen von Kollegen veranlassen Benn vier Wochen später zu einem zweiten, ebenso abenteuerlichen Rundfunkvortrag, in dem er sich noch tiefer in die Theorie von der historischen Notwendigkeit der Heranzüchtung eines neuen biologischen Typs - als "vielleicht letzte großartige Konzeption der weißen Rasse" hineinmanövriert. Dieser neue deutsche Mensch soll zwar auch vernünftig, in erster Linie aber mythisch, naturnah, primitiv und heroisch sein! Um das werden zu können, bedarf es der Aufgabe

der Individualität, des Verzichts

auf Geistesfreiheit, bedarf es des totalen Staates als Garant der "Verwirklichung eines neuen historischen Seins". Ein Misslingen der sich im Nationalsozialismus manifestierenden historischen Prozesse würde, meint Benn, "gar nicht mehr unter den Begriff der Katastrophe" fallen - es "müssten sich neue Begriffe bilden, in denen die Vernichtung von Jahrhunderten und die Zermalmung der weißen Rasse liegt".

Dass es zu dieser apokalyptischen Entwicklung dann sehr schnell anders, als Benn es gemeint hatte, kommen sollte, war wohl die besondere Tragik des Dichters.

Jedenfalls fragt man sich, ob dieses Maß an Naivität für "den überragenderen und den bedeutenderen Geist Gottfried Benn" (Heinz Ullstein, Benn mit Heinrich Mann vergleichend) Ende April 1933 überhaupt nachvollziehbar ist? Werfen wir einen kurzen Blick auf die Ereignisse der davorliegenden Wochen.

Die Nazis demaskieren sich

Schon im Februar wird der Reichstag aufgelöst, Neuwahlen, bei denen die NSDAP bereits über alle Kommunikationseinrichtungen des Staates verfügen kann, werden ausgeschrieben, die Presse- und Versammlungsfreiheit wird eingeschränkt. Göring, preußischer Innenminister, überzeugt die Industriellen von der Notwendigkeit großzügiger Wahlkampffinanzierung - es würde der letzte Wahlkampf in wahrscheinlich 100 Jahren sein . . . Schon werden viele jüdische oder unzuverlässig erscheinende Beamte, Universitätsprofessoren und Offiziere gefeuert, schon terrorisiert die SA (Golo Mann: "Banden von Arbeitslosen in braunem Hemd") unter dem Schutz des Staates die politischen Gegner. Am 27. Februar, inmitten des Wahlkampfes, brennt das Reichstagsgebäude. Die Verhaftung eines links stehenden Holländers als vermutlichem Brandstifter reicht aus als Begründung für die "Internierung" tausender kommunistischer Funktionäre, für das Verbot der sozialdemokratischen Zeitungen, für die Ablöse der süddeutschen, den Rechtsstaat verteidigenden Regierungen durch Reichskommissare.

Künstler und Wissenschaftler wenden sich gegen die Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit. Thomas Mann, angegriffen wegen angeblicher Verunglimpfung des Volksidols Richard Wagner, kehrt von einer Vortragsreise ins Ausland nicht mehr heim und entscheidet sich fürs Exil; Albert Einstein muss sich von Belgien aus gegen den Vorwurf der Beteiligung an der "Gräuelhetze" gegen Deutschland verteidigen, weil er den aktuellen Zustand in Deutschland als "psychologische Erkrankung der Massen" charakterisiert. Und Wilhelm Furtwängler, Berliner Generalmusikdirektor, kompromittiert sich angesichts der vielen mit Berufsverbot belegten Künstlerkollegen mit einem öffentlichen Appell an den Propagandaminister, man solle die Zulassung von Künstlern nicht nach konfessionellen, sondern ausschließlich nach qualitativen Kriterien beurteilen: "Es gibt nur gute und schlechte Kunst!" Goebbels lässt sich nicht beirren: nur jene Kunst sei gut, die aus dem vollen Volkstum selbst schöpfe.

Im ureigenen Arbeitsgebiet von Gottfried Benn, der Medizin, herrscht seit dem 7. April ebenfalls Klarheit über die Vorstellungen der Nazis. Hitler selbst erläutert den Vertretern der Ärzteschaft die Notwendigkeit der "rassenhygienischen Reinigungsarbeit": man müsse durch Ausmerzung der Überzahl jüdischer Intellektueller aus dem Kultur- und Geistesleben Deutschlands dem natürlichen Anrecht auf arteigene geistige Führung gerecht werden.

All diese Entwicklungen sind nicht etwa nur Eingeweihten bekannt - sie spiegeln sich in den offiziellen Aussendungen der Regierung und der Partei und damit in allen Medien wider. (Die österreichische Öffentlichkeit wird übrigens durch eine ständige Spalte "Die Entwicklung in Deutschland" in der "Wiener Zeitung" gut auf dem Laufenden gehalten.) Auch Benn muss somit die "Realpolitik" registriert haben, es ist nicht überzeugend, wenn Walter Lennig, Freund und Biograph Benns, die nazifreundlichen Rundfunkreden so verteidigt: "Er kannte weder das Parteiprogramm noch 'Mein Kampf', . . . war nie in einer politischen Versammlung, ja, er hatte sich . . . bis zum Tage der 'Machtergreifung' eigentlich gar nicht mit der NSDAP befasst, wenn man von der Zeitungslektüre absieht . . . Seine Reaktion auf die Ereignisse war rein stimmungsmäßiger, emotionaler Art, also kein denkerischer Akt . . ."

Es scheint notwendig, einige weitere Sätze aus "Der neue Staat und die Intellektuellen" zu zitieren, um zu zeigen, wie stark gerade bei Benn die rationale Verarbeitung der politischen Entwicklung stattfand: "Der neue Staat ist gegen die Intellektuellen entstanden. Alles, was sich im letzten Jahrzehnt zu den Intellektuellen rechnete, bekämpfte das Entstehen dieses neuen Staates. Sie, die jeden revolutionären Stoß von Seiten des Marxismus begeistert begrüßten, . . . betrachteten es als intellektuelle Ehre, die Revolution vom Nationalen her als unmoralisch, wüst, gegen den Sinn der Geschichte gerichtet anzusehen. Welch sonderbarer Sinn und welch sonderbare Geschichte, Lohnfragen als den Inhalt aller menschlichen Kämpfe anzusehen."

Oder: "Die Geschichte verfährt nicht demokratisch, sondern elementar . . . Sie lässt nicht abstimmen, sondern sie schickt den neuen biologischen Typ vor . . . und dann handelt dieser neue biologische Typ, und natürlich werden dabei zunächst gewisse Gesellschaftsverhältnisse verschoben, gewisse erste Ränge leergefegt . . ."

Und: "Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Lehrfreiheit in einem Sechzigmillionenvolk . . . - ist da der Staat nicht aus Rechtsbewusstsein verpflichtet, diese Freiheit aufs Speziellste zu überwachen? . . . Lässt sich da überhaupt ein Argument gegen einen Staat finden, der erklärt, die öffentliche Meinungsäußerung nur denen zu gestatten, die auch die öffentliche Staatsverantwortung tragen? . . . Alles, was das Abendland berühmt gemacht hat, . . . entstand . . . in Sklavenstaaten."

Schließlich: "Große, innerlich geführte Jugend . . . die Intelligenz, die dir schmähend nachsieht, war am Ende: . . . eine Villa, damit endete für sie das Visionäre, ein Mercedes, das stillte ihren wertesetzenden Drang. Halte dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat!" So endete diese unglaubliche Rede Benns.

Merkwürdigerweise haben die deutschen Parteizeitungen, die jeden Flankenschutz seitens prominenter Nicht-Nazis groß herausbrachten, auf den Benn-Vortrag sehr zurückhaltend reagiert. Vielleicht war ihnen der ehemalige intellektuelle Bürgerschreck, seine Fortschritts-Skepsis und sein Zivilisationshass suspekt; vielleicht wollten sie diesen Dichter, der viele Jahre später bekannte, seine eigene frühe Lyrik nur dank "zahlreicher Apéritifs und Cocktails für Gemüt und Magen" zu vertragen - "dann allerdings erschien mir das Ganze als Wurf und Wahnsinn gut . . .", vielleicht wollten sie diesen Dichter, dem sie bald den Vorwurf der entarteten Kunst machen sollten, nicht als Bundesgenossen. Benn selbst sprach jedenfalls von vielen Bedrohungen, Angriffen, Beleidigungen - neben "einer Menge Zustimmung". Einer, der entsetzt reagierte, war der in Südfrankreich weilende Klaus Mann: "Das Versagen Gottfried Benns - (will's noch nicht glauben.)" schrieb er am

2. Mai in sein Tagebuch und verfasste eine Woche später jenen "langen polemischen Brief", der wohl als Auslöser der zweiten Rundfunkrede Benns, "Antwort an die literarischen Emigranten", angesehen werden kann. In dieser öffentlichen Replik weigerte sich Benn, mit "Flüchtlingen" zu diskutieren - diese hätten "die Gelegenheit versäumt, den ihnen so fremden Begriff des Volkes nicht gedanklich, sondern erlebnismäßig . . . in sich wachsen zu fühlen." - "Wie stellen Sie sich denn nun eigentlich vor, dass die Geschichte sich bewegt?" fragte Benn rhetorisch, "meinen Sie, sie sei in französischen Badeorten besonders tätig?" Deutschland hätte den Emigranten "nicht viel getan, wenn sie hier geblieben wären", sie mögen sich aber nicht täuschen, "hinter dieser Bewegung steht friedliebend und arbeitswillig, aber, wenn es sein muss, auch untergangsbereit, das ganze Volk". Und Benn schloss mit der Forderung, "an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken" - eine herrschaftliche Rasse könne "nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen".

Der Aufschrei Erika Mitterers

Im Sommer kommen die Rundfunkreden, ergänzt um einige weitere Aufsätze (darunter "Züchtung": "Gehirne muss man züchten, große Gehirne, die Deutschland verteidigen, Gehirne mit Eckzähnen, Gebiss aus Donnerkeil . . .") als Buch heraus. Die junge österreichische Schriftstellerin Erika Mitterer, damals nur in Fachkreisen durch ihren 1930 erschienenen ersten Gedichtband bekannt, kauft das Buch und schreibt am 4. September in ihr Tagebuch: "Benn lesen 'Der neue Staat und die Intellektuellen', sehr aufgeregt, nachmittags lange Erwiderung geschrieben". Auf vier Schreibmaschinen-Seiten geht Mitterer auf die wesentlichen Thesen Benns ein. "Dieser Brief . . . ist der Ausdruck eines Menschen, der sich dagegen empört, dass man allen die Ehrlichkeit ihres Suchens abspricht, die der neuen Religion nicht glauben, deren Liebe zu ihrem Volk verleumdet wird, weil sie nicht imstande sind, es mit seiner gegenwärtigen Staatsform zu identifizieren. . . . Die Sie ironisch anreden als die Villenbesitzer in Ascona . . . sind wohl nicht ausgewandert erhobenen Hauptes . . . Sie sind gegangen, weil es in Deutschland für sie keine Möglichkeit der Arbeit und des Lebens mehr gab. Verbannte sind sie. Wie wagen Sie es, in ihnen schlechtweg die Mercedes- und Villeninhaber zu sehen, die ihr Schäfchen ins Trockene brachten? . . . So zeihen Sie Thomas und Heinrich Mann, Albert Einstein und Bruno Walter der flachen leichtsinnigen genusssüchtigen Auffassung? . . . Glauben Sie, dass es ihnen allen Genugtuung bereitet, wenn ihre Bücher im Ausland gekauft werden, weil sie den Stempel tragen in Deutschland verbrannt! - ihre

Konzerte überfüllt sind, weil sie,

als Juden, in Deutschland nicht mehr auftreten dürfen? Haben Sie Ihre Fantasie noch nicht bemüht, sich die entsetzliche Demütigung

s o l c h e n Beifalls vorzustellen, die größer ist als die Diffamierung in der Heimat?"

Und zur Züchtungseuphorie:

"Wir können nicht an den metaphysischen Menschen glauben, der das Züchtungsprodukt einer Rassentheorie ist. Wir erblicken in dieser Rassentheorie mehr opportunistische Fortschrittsauffassung als bei den jüdischen Geistern, die als Träger der nur intellektualistischen Weltanschauung ausgerottet werden sollen . . ." Der Durchschlag von Erika Mitterers Brief an Benn ist im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar erhalten; Benn selbst hat darauf nicht reagiert.

Berechnung war es nicht

Zur Ehrenrettung Benns muss man sagen, dass seine Anbiederung aus Überzeugung, nicht aus Opportunismus erfolgte. Bald sah er sich gezwungen, den massiv angegriffenen Expressionismus öffentlich zu verteidigen, geriet selbst ins Visier der braunen Kunsthüter und wurde 1938 sogar mit totalem Schreibverbot belegt. Geheilt von der nationalsozialistischen Ideologie wurde er schon am 30. Juni 1934, als Sondertruppen der SS auf Befehl Hitlers die gesamte SA-Führung ermordeten. 1945 beklagte er in einem Brief: "Damals unerwünscht, heute von neuem unerwünscht - . . . ich finde das richtig und eine Bestätigung meines Grundgefühls . . ., dass Kunst außerhalb der Zusammenhänge von Staat und Geschichte steht und dass ihre Ablehnung durch die Welt zu ihr gehört." Seine Arroganz hat Benn aber nicht abgelegt: ". . . Ich stehe mit keinem der früheren Kollegen mehr in Verbindung, sie haben sich alle so hundsföttisch gegen mich benommen, als es mir politisch schlecht ging, sie sind ja auch alle produktiv am Ende, keiner schreibt mehr etwas, das mich interessieren könnte", stellte er 1949 in einem Brief an Thea Sternheim fest.

Walter Lennig meint jedenfalls, die Leidenschaftlichkeit des Streits der Nachkriegszeit über "den großen Irrtum" Benns rühre in erster Linie daher, dass es nicht irgendjemandes Irrtum war, "sondern der Irrtum eines der größten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, eines dieses Jahrhundert erheblich mitbestimmenden Geistes . . .". Der Arzt Benn hatte selbst diagnostiziert "Das Gehirn ist ein Irrweg" und war so "an die Seite der braunen Kohorten" geraten (Deutsche Literatur - eine Sozialgeschichte, rororo 1983). Und viele waren es nicht, die die Forderungen des herrschenden Zeitgeistes kritisch hinterfragten; nur wenige - wie Klaus Mann und Erika Mitterer - formulierten ihren Widerspruch auch schriftlich. Aber wer will Benn für seine Verblendung verurteilen, wenn der allseits verehrte Reichspräsident Hindenburg am 20. April 1933 dem Führer mit den Worten gratulierte, ". . . gedenke ich in aufrichtiger Dankbarkeit der großen vaterländischen Arbeit, die sie geleistet haben . . ." oder wenn der amerikanische Präsident Roosevelt einige Wochen später via Presseaussendung verlauten ließ, er hätte "die Ausführungen des Reichskanzlers mit großem Beifall aufgenommen"?

Martin G. Petrowsky ist freier Autor und Geschäftsführer der Erika Mitterer-Gesellschaft.

Freitag, 09. Mai 2003

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