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Zum 100. Geburtstag von Georges Simenon

Simenon: Zwischen Trance und Disziplin

Von Ingeborg Waldinger

Es regnet viel im "Archipel" Simenon. Regen, der an das Blendwerk bourgeoiser Fassaden peitscht und in die fahlen Gesichter der "kleinen Leute". Nichts Reinigendes haftet ihm an, schon gar nichts Romantisches. Er fällt zu später Stunde, in düsterer Jahreszeit und meist schon im ersten Satz. "Ein feiner kalter Regen fiel." Oder: "Draußen, irgendwo - das heißt in der Rue Léopold - spielt sich ein sonderbares Leben ab, düster, weil die Nacht hereingebrochen, lärmend und gehetzt, weil es fünf Uhr nachmittags ist, feucht und träge, weil es seit mehreren Tagen regnet."

Da ist sie wieder, die dumpfe Atmosphäre des verregneten Lüttich. Jener Stadt im wallonischen Belgien, wo Georges Simenon am 13. Februar 1903 das Licht einer kleinbürgerlichen Welt erblickt. Mutter Henriette, eine Flämin, trägt hart an nervöser Erblast, am sozialen Abstieg ihrer Familie und am Ethno-Spott der Wallonen. Für zärtliche Mutterschaft bleibt da kein Raum. Vater Désiré ist Wallone. Ein Mann mit weichem - wenn auch krankem - Herzen. Ein selbstzufriedener Versicherungsbeamter ohne Sozialversicherung, dessen Einkommen zum Auskommen mit dem "Allernotwendigsten" zwingt. Wie oft muss Mutter Henriette dies betont haben, dass Sohn Georges immer wieder davon sprechen wird, später, als Schriftsteller. Etwa in seinem autobiographischen Roman "Pedigree" oder im "Brief an meine Mutter", den er sich drei Jahre nach deren Tod von der Seele schreibt. Das war im Jahre 1974, als er die Produktion weiterer "Maigrets" und "Non-Maigrets" eingestellt hatte und sich nur noch der Erkundung des eigenen Ich widmete. Die Memoiren und Tonbandprotokolle füllen wiederum zig Bände. Sie geben auch Aufschluss über die Idole, Dämonen und Obsessionen des kleinen Georges. Schließlich, so Simenon, kenne man ". . . einen Menschen nur dann wirklich, wenn man seine Kindheit kennt." So ging vom Großvater, dem geachteten Deichmeister, eine magische Aura aus; Mutters Drohungen mit der "Endstation Nervenklinik" waren ein Alb und Onkel Léopolds Nonkonformismus eine gefährliche Faszination.

Die Romanfabrik

Kritiker und Biografen subsumieren das Phänomen Georges Simenon gerne unter den Prädikaten Kontinent, Archipel oder Fabrik: seine Produktionsweise zwischen Trance und eiserner Disziplin; die 500 Millionen Mal verkauften, vielfach übersetzten und verfilmten Romane; die prominente Leserschaft von Mao über Chaplin bis C. G. Jung.

Nach seinen Lehrjahren als Chronist der katholisch-konservativen "Gazette de Liège" war Simenon kurz als Sekretär französischer Rechtsdenker tätig, ehe er höchst einträgliche Groschenromane verfasste - unter der Maske von siebzehn Pseudonymen. Der "Gips" war also angerührt, wie Simenon seine Einübung ins Romanfach nannte. Nun konnte es an die eigentliche Arbeit gehen.

Simenon lässt Lüttich hinter sich, erkundet das Paris der zwanziger Jahre. Er frequentiert Nachtbars, Cabarets, Künstlerzirkel - oft in Begleitung von Joséphine Baker. Mit "Tigy", einer belgischen Malerin, hat er sich (zu) früh vermählt; mit "Boule" (Kugel), einer Köchin aus der Normandie, einen Küchen-Joker gezogen.

Im Jahre 1929, als Simenon auf seiner "Ostrogoth" durch die Nordsee schippert, beginnt im niederländischen Hafen Delfzijl eine neue Ära: Kommissar Maigret übernimmt den ersten von gut achtzig Fällen ("Maigret und Pietr der Lette"). Der einfühlsame Pariser Polizist wird mehr Interesse an der Seele der Täter zeigen als an deren Bestrafung. Akribische Indizienklauberei ist seine Sache nicht. Er pflegt die Taktik des Belauerns und Zermürbens, nimmt die Fährte des Verdächtigen auf, lebt ein Stück mit: "Zwischen Verfolger und Verfolgtem, zwischen dem Mann, dessen Bart immer länger, dessen Kleider immer zerknitterter werden, und Maigret, der seine Beute keinen Augenblick loslässt, hat sich eine merkwürdige Vertrautheit entwickelt", heißt es in der Maigret-Geschichte "Der Mann auf der Straße". Jener Erzählung, die Gabriel García Márquez so beeindruckt hatte, dass er 1994 dazu einen eigenen Text verfasste ("Dieselbe Geschichte, nur anders").

Kommissar Maigret schafft Ordnung für eine Ordnung, deren Ideologie er oft genug relativiert. Privatmann Maigret ist ein Durchschnittsbürger, der sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreut. Ein Angler und Pfeifenraucher (!), der sich gerne in sein Häuschen an der Loire zurückzieht. Als Ehemann ist ihm stabiles häusliches Glück beschieden. Sollte Maigrets verständnisvolle Natur ein idealisiertes Vaterbild, sein unterschwelliger Anarchismus einen Wesenszug des Autors widerspiegeln? Pure Fiktion jedenfalls bleibt des Kommissars harmonische Ehe. Simenons Eltern lebten sie nicht, der verkorkste Frauenheld Simenon lebte sie nicht. Seine Verbindung mit der emanzipierten "Tigy" ging in Brüche, auch die zweite Ehe mit der ungestümen Francokanadierin Denise. Letztere präsentiert ihm via Enthüllungsbuch eine delikate Quittung. Erst die Lebensgemeinschaft mit dem treuen Faktotum, der um zwanzig Jahre jüngeren Italienerin Teresa, hat Bestand, - ohne Trauschein.

Der "häusliche Nomade"

Georges Simenon, nach Eigendefinition ein "häuslicher Nomade", legt einen weiten Weg zurück. Er bereist die Welt, erlebt im Afrika der 1930er den "riesigen Betrug" der Entkolonialisierung und in den USA der frühen 1950er jene Moderne, die Europa damals noch

bevorstand. Von der kleinen Ranch in Arizona aus betrachtet muten

die Pariser Intellektuellenzirkel längst "ausgesprochen extravagant" an. 1956 übersiedelt der Mann ohne Sinn für Nationalismus in die Schweiz, weil man da Armut

nicht kenne, die Privatsphäre des Einzelnen sakrosankt und das Schulwesen exzellent seien. (Aus Simenons Ehen gehen drei Söhne hervor und eine Tochter, die 1978 freiwillig aus dem Leben scheidet.) Simenon wird an die dreißig Häuser kaufen, bewohnen und wieder abstoßen. Er nennt sie "Schutzhäfen", Alibis vor den Versuchungen des absolut wahrhaften Seins. Schließlich sind wir ja alle "verkaufte Typen".

Kommissar Maigret hatte seinen Erfinder reich gemacht. Das Krimi-Schema will indes nur als "Geländer" für eine nächste Dimension gedient haben: In seinen rund 150 "romans durs", den ernsten Gesellschaftsromanen, lässt Simenon diese Krücke los. Mit viel Psychologie erschafft er einen neuen Kosmos, um die conditio humana zu ergründen. Dies gelingt am besten, wo der Protagonist an einem Wendepunkt anlangt. Wo eine unerwartete Wendung zu Selbstbesinnung zwingt und längst Verschüttetes zu Tage kommt. Simenon schlüpft in die Haut seiner Figuren, entwirft Skizzen ihrer Häuser und Wohnungen, um sich darin zu bewegen wie in den eigenen vier Wänden. Seine Helden sind schwach, hilflos und einsam. Dumpf oder hellsichtig Verzweifelte, von ihrem Milieu geprägt und in diesem gefangen. Sie "scheuern sich wund" an einem sozialen Korsett, das nicht nach ihrem Maße ist.

Fremde im eigenen Leben

Der Ausbruch scheitert. Was bleibt, sind die Höllen des Alltags. Wie im Roman "Die Katze": ein altes Pariser Ehepaar kommuniziert nur noch schriftlich miteinander. Emile faltet also seinen Zettel und schnellt ihn mit Daumen und Mittelfinger in den Schoß der Gattin. "Die Katze" steht da geschrieben. Ja, Marguerite hasste Emiles Liebling - bis auf den Tod. Bösartigkeiten und groteske Rituale prägen das Dasein. Ein Kraftakt der Selbstbefreiung bleibt Illusion.

Antihelden sind sie allesamt, mittelmäßig, gesetz- oder rechtlos: Hutmacher, Stammgäste und Untermieter; Ausbrecher, Erbschleicher und Wucherer; Grenzgänger und Outlaws. Oft liefert schlicht ihr Familienstand den Titel: Der Schwager, Der verlorene Sohn, Die Witwe Couderc. In schnörkellosem "Sachwörter"-Stil entwirft Simenon Szenarios von dichter Atmosphäre. Er beobachtet, ohne zu richten. Der Kritiker Jürg Altwegg hat ihn den "Goethe der schweigenden Mehrheit" genannt. Tatsächlich überwiegt das Heer der Sprachlosen. Doch selbst jene, deren Stimme Gewicht hat, versagen letztlich - die Advokaten, Medienzaren, Reeder: ". . . weil der Mensch zwangsläufig versagt . . ., bewusst oder unbewusst."

Solches schreibt der Fürst der Semi-Literatur an seinen Mentor, den Nobelpreisträger André Gide. Von 1938 bis 1950 führen die beiden einen subtilen Briefwechsel, in dem Simenon sich gerne als "anti-intellektuell" bezeichnet und Gide sein säumiges Antworten mit den Worten entschuldigt, nur "ganz brillante Briefe" schreiben zu wollen. Simenon dürstet nach dem Fachurteil Gides; jener lobt Stil, Psychologie und Treffsicherheit des Belgiers - und kritisiert ihn für manche "Allerweltsreflexionen". Der französische Nobelpreisträger bekennt sich zu seiner "Simenonitis", während der Lütticher Bestsellerautor zum "intellektuellen, gekünstelten" Werk des "geistigen Patriarchen" keinen Zugang findet. Er nimmt sich Faulkner, Tschechow oder Gogol zum Vorbild.

Ein Schüler Balzacs?

Auch den von Gide verliehenen Ehrentitel "Balzac unseres Jahrhunderts" mag er nicht. Balzac habe den "homme habillé" gezeigt, den Menschen in seinen (gesellschaftlichen) Kleidern, dessen Konflikte einem einzigen Movens entsprängen: dem Geld. Er, Simenon, leite alles Handeln von der Seele her und wolle den "homme nu", den nackten Menschen ausloten. Vor allzu tiefem Einblick aber scheue er zurück, denn der führe in die Psychiatrie.

Allen Einwänden zum Trotz: Balzac scheint doch manchem "roman dur" Pate gestanden zu haben: Zwei Mädchen aus ärmlichen Provinzverhältnissen machen sich auf, Paris zu erobern. Hübsch und höhnisch pragmatisch die eine, Sylvie; das ewige Aschenputtel die andere, "die schielende Marie". Als Saisonkräfte an der Atlantikküste verdienen sie ihr Startgeld. Ein herber Einstieg. Simenon versagt dem Leser jedes Ferienidyll. Die Konturen des reizvollen Seebades Fouras verwässern hinter ödem Sprühregen, die Pensionsgäste verströmen schalen Atem. Ein Sog nach unten setzt ein - und endet in fatalem Geldsegen: Sylvies ererbtes Palais an der Pariser Prachtavenue wird zur "Zitadelle", aus der es kein Entrinnen gibt.

Simenon selbst gibt seine monströse Luxus-Zitadelle in Epalinges auf, findet in einem alten Winzerhaus bei Lausanne sein wahres Refugium. Im Garten eine uralte Zeder, unter welcher die Asche der geliebte Tochter Marie-Jo - und seit 1989 auch jene des Autors - ruht.

Seit 1977 betreut der Diogenes Verlag, Zürich, Simenons Werk in einer deutschen Werkausgabe. Und seit 1995 werden seine Bücher im Rahmen einer Neuedition in zum Teil neuen oder überarbeiteten Übersetzungen wieder aufgelegt. Es sind derzeit 26 "Maigret"- und 31 "Non-Maigret"-Romane lieferbar.

Freitag, 07. Februar 2003

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