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Der Schriftsteller Milo Dor wird 80 Jahre alt

Dor: Gegen die Gleichgültigkeit

Von Dieter Scherr

Es wundert ihn selbst, dieser Tage das achtzigste Lebensjahr zu vollenden, denn "für einen Menschen, der Hitler und Stalin überlebt hat, sind all die Jahre nachher ein reines Geschenk", sagt Milo Dor im Gespräch. Der ehemalige serbische Widerstandskämpfer überlebte Verhaftungen und Folter, Deportation und Zwangsarbeit in Wien, wo er nach Kriegsende geblieben ist.

Milutin Doroslovac - seinen eigentlichen Namen hat er von Amts wegen nie umschreiben lassen - wurde am 7. März 1923 in der Budapester Josefstadt geboren, wohin sein Vater nach erfolgreich abgeschlossenem Medizinstudium mit seiner frisch anvermählten Jugendliebe zog, um dort sein Spitalsjahr zu absolvieren. Der eher zufallsbedingte Geburtsort sollte dem Schriftsteller viele Jahrzehnte später einen angesehenen ungarischen Kulturpreis einbringen. Dors umgehende telefonische Aufklärung des Missverständnisses fruchtete nichts, der Ministerrat hatte den Preis bereits beschlossen! "Um Gottes willen, habe ich gedacht. Da bin ich halt hingefahren, es war sehr rührend - als Budapester sozusagen, der nicht Ungarisch kann. Ich habe mich dann entschuldigt, dass ich mit meinen Landsleuten deutsch reden muss. Nie habe ich etwas für die ungarische Kultur getan."

Leidenschaftlicher Leser

Aufgewachsen ist er in verschiedenen Dörfern des Banats und der Batschka, später in Belgrad. Das Lesen beherrschte er bereits im Alter von fünf Jahren. Neben Defoe, Cooper und Dostojewski interessierten ihn bald die Lyriker der serbischen Moderne, die deutschen Expressionisten und die französischen Surrealisten aus der Bibliothek des Großvaters. Dieser, selbst leidenschaftlicher Leser, war auch Abonnent der Literaturzeitschrift "Letopis matice srpske" ("Annalen des serbischen Bienenkorbs"), die laufend über die modernen Strömungen in der europäischen Literatur informierte.

"Da ich Deutsch und Französisch konnte, las ich auch deutsche und französische Bücher, vorwiegend jedoch Lyrik, weil ich mich selbst, zu Recht oder Unrecht, für einen Dichter hielt. Ich kann mich an Trakl erinnern sowie an einen Band chinesischer Lyrik, die Klabund ins Deutsche übersetzt hat, und von den Franzosen an Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé sowie an André Breton und Paul Eluard. Eine Belgrader Zeitschrift druckte ein Gedicht von mir ab, das ich mit vierzehn geschrieben hatte. Von da an schrieb ich Gedichte, von denen die meisten nicht nur in Jugendzeitschriften, sondern auch in literarischen Zeitschriften erschienen."

Seit 1945 schreibt Dor in deutscher Sprache Romane, Prosa, Stücke und - die über Jahrzehnte zuverlässlichste Einnahmequelle - Arbeiten für Radio und Fernsehen. Immer noch in Schulhefte, immer noch zu nachtschlafender Zeit. Die in den ersten Nachkriegsjahren zugewiesene Wohnung bestand nur aus Zimmer und Küche, so dass er sich daran gewöhnen musste, in der Küche zu schreiben, nachdem sich seine Frau und sein kleiner Sohn schlafen gelegt hatten. Mit dem 1976 verstorbenen Reinhard Federmann schrieb er aber auch Bücher im Kaffehaus: Kriminalromane, Sachbücher, Übersetzungen. Der Thriller "Internationale Zone" entstand zur Gänze im Café Eisenbahnerheim am Margaretengürtel.

Dor war einer der ersten österreichischen Schriftsteller nach 1945, die auch in Deutschland Fuß fassen wollten. Während der Arbeit am Roman "Tote auf Urlaub" ging ihm das Geld aus. Mit zwei Mark und einem Empfehlungsschreiben vom Präsidenten des Österreichischen P.E.N.-Club fuhr er per Autostopp nach München, um einen gewissen Dr. Erich Kästner im Café Leopold in der Leopoldstraße zu suchen. "Da bin ich also zu Fuß hingegangen, und da sitzt wirklich der Kästner. Ich habe ihm gesagt, ich hätte einen Brief von Csokor für ihn. Er hat den Brief gar nicht angeschaut, er hat gleich in die Brieftasche gegriffen und gesagt: 'Ist Ihnen mit 50 Mark geholfen?'"

Kästner brachte ihn auch mit Hans Werner Richter, dem autokratischen Haupt der legendären Gruppe 47, zusammen. "Ich kann mich erinnern, ich bin dann wie im Staffettenlauf durch ganz Deutschland von Redaktion zu Redaktion, von Rundfunkstation zu Rundfunkstation gezogen, immer mit Empfehlungen der Freunde und Kollegen in der Tasche."

Ursprünglich wollte er dem Wunsch der Eltern entsprechen und etwas Ordentliches studieren, angewandte Chemie oder Medizin. Doch zu viele Jahre waren bereits verloren. Im Rückblick sind es nun mehrere Karrieren geworden: Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber, Kulturfunktionär. Seit 1979 ist Milo Dor Präsident der Interessengemeinschaft österreichischer Autorinnen und Autoren.

Jugendlicher Revolutionär

"Als ich ganz jung war, fühlte ich mich als Revolutionär, der die Welt umkrempeln und besser machen wollte. Da es ganz und gar unmöglich ist, die ganze Menschheit zu beglücken, und die sich von den aufgebrachten Jünglingen auch nicht beglücken lässt, habe ich mich darauf beschränkt, wenigstens für die Rechte meiner Schriftstellerkollegen zu kämpfen, um ihre Not zu lindern. Das war eine Arbeit, die ich gerne gemacht habe, zumal sie von Erfolg gekrönt war, weil es uns - damit meine ich meine liebe Freundin Hilde Spiel, meinen Generationsgenossen Federmann sowie viele andere Mitkämpfer - gelungen ist, in Zusammenarbeit mit verständnisvollen politischen Funktionären eine Reihe von Gesetzen zustande zu bringen, darunter auch das über den Sozialfonds für Autorinnen und Autoren, was unsere soziale Lage wesentlich verbessert hat. Dabei habe ich mich nie als 'Funktionär' gefühlt, sondern immer als ein freier Mann, der für die Rechte der Entrechteten kämpft. Ich habe für meine Arbeit keinen persönlichen Lohn erwartet und auch nicht empfangen, außer dem der Genugtuung, etwas Notwendiges getan zu haben."

Finanzquelle Rundfunk

Zu dieser Arbeit hat ihn das Beispiel deutscher Kollegen angeregt: Heinrich Böll und Günter Grass, die sich in den sechziger Jahren vehement für die Rechte der Autorenkolleginnen und -kollegen eingesetzt hatten. "Auf dem falschen Dampfer", um den Titel eines seiner berühmtesten Bücher zu bemühen, fühlte sich Dor finanziell zeitlebens. Trotz hoher Auflagen und häufiger Neuausgaben konnte er von den Büchern alleine nie leben, "das ist nur ein Taschengeld".

Die Haupteinnahmen brachte, wie gesagt, der Rundfunk, "aber das ist langsam weggefallen, weil auch diese Möglichkeit eingeschränkt wurde. Damals haben die Rundfunkstationen auch einstündige Wortsendungen gebracht. Das gibt es nicht mehr, alles ist zusammengeschrumpft. Und das Fernsehen produziert kaum mehr nennenswerte Filme, man macht nun hauptsächlich Serien. Im letzten Jahr Gerd Bachers sind 30 Filme produziert worden. Ich war mit Bacher nie einverstanden, aber er war ein großer Intendant und hat Respekt vor den Leuten gehabt, die etwas gemacht haben. Und jetzt produziert man einen einzigen Film, wenn überhaupt. Man ist jetzt viel mehr auf Bücher angewiesen, von denen man aber nicht leben kann, und auf Lesungen."

Die einstigen "großen Apparate" (sowohl der demokratisch verbrämte Kapitalismus als auch der so genannte Staatssozialismus) sind für Dor nahtlos in die Globalisierung übergegangen. "Angesichts der Ohnmacht der Einzelnen vor der Übermacht des einzig herrschenden 'Apparats' denke ich mit Wehmut an meine jugendliche Haltung eines 'Anarchisten'. Ich möchte gerne einen 'Bund demokratischer Anarchisten' gründen, aber das ist unter lauter Individualisten schwer möglich. Als Autor kann ich jedoch die vielseitigen und vielfältigen Unterdrückungsapparate in Frage stellen und sie so im Namen der Einzelnen bekämpfen. Unser größter Feind ist die Gleichgültigkeit der Menschen, die man nur

mit Tricks zum Lesen anders denkender Autoren bewegen kann, und das gleicht der Quadratur des Kreises."

Zu wenig von Kultur die Rede

Seine Bücher sieht er wie Kinder, "auf die man keinen Einfluss mehr hat. Man hat sie in die Welt gesetzt, dann leben sie ihre eigenen Leben". Dem überzeugten Europäer wird der wirtschaftliche Zusammenschluss der Union zu sehr betont.

"Man spricht zu wenig von der Kultur. Dabei wird Europa eher durch die Kultur zusammengehalten als durch andere Dinge. Es gibt eine ausgesprochen europäische Kultur, die sich von anderen Kulturen unterscheidet! Von der ist wenig die Rede. Die italienische Renaissance, die europäischen Humanisten, die Aufklärer, die englischen Ökonomen, die deutschen Dichter und Philosophen, die russischen und spanischen Dichter - das ist doch alles eine Einheit. Keine einzige Kultur der europäischen Völker ist auf dem eigenen Mist gewachsen, jede ist durch die Einflüsse anderer Völker und eben dieser gesamteuropäischen Kultur entstanden. Es gibt nur kleine Variationen, und jeder Ethnologe und jeder Musiker kann erklären, dass es diese gemeinsamen Wurzeln gibt. Also kann man wirklich von einer gesamteuropäischen Kultur sprechen, die das Ganze sozusagen als Mörtel zusammenhält. Aber davon ist wenig die Rede!

Unlängst hat mich eine junge ORF-Reporterin gefragt, was ich zu diesem und jenem sage, da ich doch aus einer anderen Kultur stamme. Ich habe geglaubt, ich falle vom Sessel! Wie kommt sie im Jahre 2002, es war im Vorjahr, dazu, mich zu einer anderen Kultur zu zählen?! Da habe ich ihr langsam erklärt, dass ich in der Schule über Aristoteles unterrichtet wurde, dass ich Französisch gelernt habe, Deutsch, dass ich Goethe gelesen habe und Victor Hugo und Charles Dickens und auch russische Dichter, dass ich kurzum in der europäischen Kultur aufgewachsen bin.

Sie hat sich dann entschuldigt. Das Bewusstsein dieses Zusammenhangs und der Zusammengehörigkeit ist verlorengegangen, obwohl wir der EU beigetreten sind. Und das ist schade. Auf der einen Seite wird von Globalisierung geredet, auf der anderen teilen wir Europa immer noch in verschiedene Kulturen . . . Es ist nun eine Zeit des Abwartens. Ich weiß nicht, worauf man wartet, anstatt kulturell offensiv vorzugehen."

Spätaufsteher im Café

Nein, im Kaffeehaus schreibe er keine Bücher mehr; das heute stark verkleinerte Café Eisenbahnerheim am Margaretengürtel meidet er schon lange. Aber mit etwas Glück trifft man den Spätaufsteher im Café Hummel in der Josefstädter Straße. "Dort gehe ich zum Zeitunglesen hin, die haben auch 'Le Monde' und 'Corriere della Sera', es gibt Schweizer und deutsche Zeitungen. Ich stehe um halb elf auf, bis mittag frühstücke ich - am Abend laufe ich so langsam an. Eine Katastrophe, wenn ich wo in der Früh erscheinen muss!"

Ein Verleger fragte ihn unlängst, was für eine Zielgruppe er vor Augen habe, wenn er schreibe, und brachte ihn damit in große Verlegenheit: "Im Grunde genommen halte ich Zwiesprache mit den Toten, wende mich aber an die ganz Jungen von heute, weil ich der Meinung bin, dass sie einen jung gebliebenen Alten als Gesprächspartner brauchen."

Rechtzeitig zum 80. Geburtstag Milo Dors am 7. März 2003 erscheinen bei Picus "Grenzüberschreitungen", ein Band mit Essays, bei Otto Müller "Mitteleuropa. Mythos oder Wirklichkeit", "Roman über Milo Dor" (ein originelles Porträt - verfasst von 16 serbischen Schriftstellern) sowie Neuauflagen der drei Romane der "Raikow-Saga". Bei Mandelbaum erscheinen die Memoiren eines Antihelden, Dors Kindheitsfreundes Jovan Sekelj aus Groß-Betschkerek. In Spanien, Frankreich und Italien kommen neue Übersetzungen heraus. Ein neues Buch ist eigentlich schon fertig, nur weiß Dor noch nicht, ob es schon im Herbst oder erst nächstes Jahr erscheinen soll, er hat es damit nicht so eilig. In der Schublade liegt auch noch eine Arbeit und viel Material über die Familie Strauß, zugleich eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, die Herkunft, geschichtlichen Hintergrund und natürlich die Beziehung des Vaters Strauß zu dessen Söhnen behandeln soll.

Freitag, 07. Februar 2003

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