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Eine Marbacher Ausstellung dokumentiert Kafkas Brotberuf

Kafka: Kontrolleur von Gefahrenklassen

Von Oliver Bentz

In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen (. . .) wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppen werfen.

Es ist eine fast apokalyptische Szenerie, die ein Schriftsteller, der längst zum Klassiker der literarischen Moderne geworden ist, hier schildert. Und dennoch handelt es sich nicht um einen fiktionalen Text, sondern um eine Zustandsbeschreibung vom beruflichen Alltag dieses Autors. Denn Franz Kafka, von dem hier die Rede ist, war nicht nur Literat, sondern im ungeliebten Brotberuf von 1908 bis zu seiner Pensionierung 1922 auch Angestellter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag.

Dieser Facette im Leben eines der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts widmet sich zurzeit eine umfangreiche Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar. Sie begleitet Kafka auf seinem täglichen Gang ins Büro oder auf Dienstreisen in frühe Industrieanlagen und zeigt, welch großen Einfluss diese nicht gerade poetische Berufstätigkeit auf das literarische Werk des Autors hatte.

Als Aushilfsbeamter trat Kafka in die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt ein, deren Aufgabe es war, die Versicherung der Industriearbeiter Böhmens gegen Betriebsunfälle sicherzustellen. Er war einer von drei "Alibi-Juden" in der von Angehörigen der Prager deutschen Oberschicht geführten Firma. Man übertrug ihm zunächst die Aufgabe, die Fabriken im nordböhmischen Industrierevier in Gefahrenklassen einzuteilen. Nach Friedland, Reichenberg, Rumburg oder Gablonz führten ihn seine Dienstreisen, wo ihm heftige Widerstände der Unternehmer entgegenschlugen, da von Kafkas Einschätzung die Höhe des zu zahlenden Versicherungsbeitrags abhing.

Die katastrophale Situation der Arbeiter, die ihm während seiner Fabriksbesichtigungen vor Augen kam, bedrückte ihn und forderte ihn zu beißenden Kommentaren heraus: "Wie bescheiden diese Menschen sind", sagte er zu seinem Freund Max Brod, "sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen."

Während der Zeit als Versicherungsjurist entstanden in nächtlicher Arbeit alle großen literarischen Werke Kafkas und nicht selten findet sich die Amtswelt in diesen wieder. So etwa das Aktenchaos im Roman "Das Schloss", dem sich auch der Versicherungsangestellte Kafka oft gegenüber sah. Dienstliche Angelegenheiten führten ihn auch in viele Steinbrüche und so verwundert es nicht, dass er einen Steinbruch für das Ende seiner Romanfigur Josef K. in "Der Prozess" wählte.

Nach einem Jahr in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt bekam Kafka im September 1909 zum ersten Mal Urlaub - eine Woche. Zusammen mit seinen Freunden Max und Otto Brod fuhr er nach Riva am Gardasee, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Man besuchte die Flugschau von Brescia, von der Kafka in der Prager Zeitung "Bohemia" in einem der ersten Beiträge über Flugzeuge in der deutschen Literatur berichtete.

Wie devot man damals um eine Gehaltserhöhung bat, veranschaulicht das in Marbach gezeigte Gesuch "um durchgreifende Regelung der Gehalts- und Rangverhältnisse", das Kafka 1912 an den "löblichen Vorstand" richtete. Äußerst vorsichtig und sehr kenntnisreich argumentierte er über mehrere Seiten mit den höheren Bezügen anderer Beamter, die vergleichbare Arbeit leisteten.

Es erstaunt den Betrachter, wie viel Material über den Versicherungsangestellten Kafka sich in den Prager Archiven fast ein Jahrhundert lang erhalten hat. Klaus Wagenbach, einer der besten Kafka-Kenner, der für die Marbacher Schau mitverantwortlich zeichnet, hat es aufgespürt und hier teils erstmalig präsentiert. So existiert auch eine Tabelle, die den Werdegang des Angestellten Kafka detailliert beschreibt.

Der Betrachter kann verfolgen, wie Kafka vom Aushilfsbeamten mit einem Tagesgeld von 3 Kronen bis zum Obersekretär mit 12.900 Kronen Grundgehalt aufstieg. 1918 schlugen sich die politischen Verwerfungen auch in der Personalakte Kafkas nieder, die von da an in tschechischer Sprache geführt wurde.

In einer einzigen Nacht, vom 23. auf den 24. September 1912, schrieb Kafka die Geschichte "Das Urteil". Nach dieser schriftstellerischen Gewaltleistung verbrachte er den Vormittag mit erheblich schlechtem Gewissen im Bett. Seine Schwester schickte er mit einer Nachricht ins Büro, auf der er sein Fernbleiben mit einem Ohnmachtsanfall in der Nacht entschuldigte und seinen gestrengen Chef sogleich wissen ließ, dass er noch heute ins Büro komme, "wenn auch vielleicht erst nach 12".

Damit sich Kafka an einer Asbestfabrik beteiligen könne, stellte der Vater eine erhebliche Geldsumme zur Verfügung. Er wollte damit die Existenz des Sohnes sichern und in ihm den unternehmerischen Geschäftssinn wecken. Beides scheiterte, denn nach Beginn des Weltkrieges musste die Fabrik schließen und die Beschäftigung mit den Geschäftsangelegenheiten belastete Kafka dermaßen, dass er an Selbstmord dachte.

Während des Ersten Weltkrieges war die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für die Versorgung der heimkehrenden Kriegsinvaliden verantwortlich. Auch Kafka arbeitete auf diesem Gebiet und war 1917 maßgeblich für die Umwandlung des Sanatoriums Frankenstein bei Rumburg in eine "Kriegs- und Volksnervenheilanstalt" verantwortlich. Das Ende des Krieges verhinderte, dass ihm der dafür zugesprochene Kriegsverdienstorden noch verliehen wurde.

In den letzten Jahren seiner Tätigkeit für die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt musste Kafka aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung immer längere Kuraufenthalte einlegen. Im Juni 1922 gewährte man ihm endlich die lang ersehnte Versetzung in den vorläufigen Ruhestand. Knapp zwei Jahre später starb Franz Kafka in einem Sanatorium bei Klosterneuburg.

Die Ausstellung "Kafkas Fabriken" ist nocb bis 16. Februar 2003 im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar zu sehen.

Als Katalog zur Ausstellung ist erschienen: Kafkas Fabriken. Bearbeitet von Hans-Gerd Koch und Klaus Wagenbach unter Mitarbeit von Klaus Hermsdorf, Peter Ulrich Lehner und Benno Wagner. Marbach 2002. 160 Seiten, 80 zum Teil farbige Abbildungen. Mit einem Verzeichnis der ausgestellten Stücke als Beilage. Broschiert. ISBN 3-933679-74-5

Freitag, 24. Jänner 2003

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