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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Die Schriftstellerin und Psychotherapeutin Anna Maria Jokl

Umschau halten und verstehen

Von Hertha Hanus und Claudia Stefanizzi-Wurzinger

Was nur viereinhalb Stunden dauerte, war in Wahrheit eine Reise, die 27 Jahre zurückführte - zurück in die eigene Vergangenheit, zurück an einen Ort, der abgelegt worden war "wie ein schlechtsitzendes Kleid, das dankenswert gegen Kälte geschützt hatte", um Lebensbilanz zu ziehen und sich der kommenden Wende bewusster zu werden.

Es ist ein wunderbares Buch, eines das aus der eigenen Büchergeschichte klar und beeindruckend hervortritt: Anna Maria Jokls autobiographisches Werk "Die Reise nach London" - ein Glücksfall für diejenigen, die lesen und hören können. Es ist ein Buch, das einen dazu verführt, langsam zu lesen, um zu verstehen, wieder zu lesen, um erneut von der Wahrhaftigkeit und Poesie der Worte verzaubert zu werden.

Im Herbst 1977 sah sich Anna Maria Jokl veranlasst, nach London zurückzukehren, dem Ort ihrer Emigration, an dem sie von 1939 bis 1950 gelebt hatte, ein Ort aber, der ihr nie zur Heimat geworden, im Wesen fremd geblieben war.

London ermöglichte es Jokl, den Ereignissen, Menschen und Plätzen ihres Lebens wieder zu begegnen. Ein Baum, Symbol des Lebens, in Kensington Gardens: Während der deutschen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg war die Krone dieses Baumes zersplittert worden, doch trotz dieser schweren Verletzung wuchs der Baum im nächsten Frühling in seltsamer Form und viel wilder als zuvor weiter. "Den Baum war ich suchen gekommen, am Jom Kippur in London. Ich fand ihn nicht mehr."

Die Begegnung mit C. G. Jung

Was sie wiederfand, war die kleine Querstraße, in der sie sieben Jahre lang gewohnt hatte, doch auch hier Veränderung. "Ich war noch immer dieselbe, während mit London eine unfassbare Veränderung vorgegangen war." Zwei Jahre lang war Anna Maria Jokl von hier aus regelmäßig zu Toni Sussmann gegangen, einer Psychotherapeutin und Jung-Schülerin, die ihr vorgeschlagen hatte, sie auszubilden. Die

Begegnung mit den Schriften C. G. Jungs war für Jokl "wie ein Donnerschlag". Die Gedanken darin vertraut, aber bisher unaussprechlich, waren endlich formuliert worden - und so entschloss sich Jokl innerhalb von 24 Stunden für

eine neue Zukunft, die der Therapeutin.

Im März des Jahres 1950 ging Jokl nach Zürich, um an Jungs Institut für Komplexe Tiefenpsychologie zu studieren. Mit hohen Erwartungen war sie gekommen, vor allem das menschliche Niveau betreffend, doch hier erfuhr sie, was Rache, Denunziation und Kleinheit der Seele bedeutet. Der berühmte C. G. Jung spielte ein falsches Spiel, ließ sich auf Tricks und Intrigen ein, um es ihr, einer unbekannten Jüdin, aber brillanten Studentin zu verunmöglichen, an seinem Institut als Erste ein Diplom zu erlangen.

Jokl verließ die Stadt. "Ich hatte in Zürich in einen Abgrund geschaut und darin ,die Banalität des Bösen' erblickt - die Banalität daran noch erschreckender als das Böse."

Als A. M. Jokl 1965 - nach Wien, Berlin, Prag, London und wieder Berlin - das fünfte Mal "Aufgebautes und Verwirklichtes" hinter sich gelassen hatte, um in Israel von Neuem ihr sechstes Leben in der vierten Sprache zu beginnen, tat sie diesen Schritt freiwillig als "historische Konsequenz". Denn "dieses uralte moderne Land, diese Wiedergeburt wider die Geschichte" hatte sie schon bei ihrem ersten Besuch 1956 "atavistisch getroffen".

Das "Weggehen" und die damit verbundenen Lebensbrüche bestimmten Anna Maria Jokls Leben von Jugend an. 1911 in Wien als jüngstes von drei Kindern geboren, lebte sie ab 1928 in Berlin, wo sie ihre kreativste Zeit hatte. Hier entstanden an der Rundfunkversuchsstelle erste Experimentiersendungen. Die Beiträge, die sie gestaltete, ohne sie niederzuschreiben, sprach sie selbst und versuchte dabei, das schöpferische Moment direkt vor das Mikrofon zu bringen. Als der Film "Tratsch", ein Experiment mit Laienschauspielern, im Mai 1933 in Berlin zur Uraufführung kam, schien sie als Autorin nicht mehr im Vorspann auf. Das dazugehörige Libretto und zwei weitere Kurzfilme von ihr kamen als Buch heraus und fanden internationale Anerkennung.

Über ihre Schreiberfolge war sie todunglücklich, weil sie sich dadurch vom Sprechen entfernt hatte. Diese Bedenken fielen aber nicht mehr ins Gewicht, denn als man auf ihre schriftstellerischen Versuche aufmerksam wurde, lebte sie bereits als unbekannte Emigrantin in Prag. Die neue Lebenssituation bedeutete einen unwiderruflichen Bruch mit der Vergangenheit. Weder die Sprechexperimente noch die Filmdramaturgie wurden je wieder aufgenommen.

Weit schwerer als das ärmliche Emigrantenleben war für Anna Maria Jokl "die Bedrohung geistiger Demoralisierung" durch ein "vorläufiges Leben" zu ertragen. Um den Umständen zu trotzen, stürzte sie sich in eine "überschwere Aufgabe" und begann, einen Kinderroman über Atomphysik zu schreiben - "Die wirklichen Wunder des Basilius Knox". Für Kinder zu schreiben, betrachtete sie als Herausforderung, weil nur sie "in der Atmosphäre jener Zeit genügend ernst zu nehmen" gewesen seien.

Worte wie Arsen

"Die Perlmutterfarbe", 1937 in Prag entstanden, konnte erst 1948 veröffentlicht werden. Anna Maria Jokl beschreibt darin das Auseinanderbrechen einer Schülergemeinschaft. Sehr feinfühlig analysiert sie die Veränderungen der Jugendlichen im Umgang miteinander und legt dabei Gewicht auf das Wort, das wie Arsen in kleinen Dosen wirkt und die großen Katastrophen möglich werden lässt. Nirgendwo im Text nimmt die Autorin auf die politische Realität durch den Nationalsozialismus Bezug, und trotzdem ist dieses Ereignis immer präsent. Dass diese Geschichte in den Wirren der Zeit nicht verlorengegangen ist, grenzt an ein Wunder und ist Josef, dem "edlen Schmuggler" zu verdanken. Dieser erwies sich in den Stunden des Wartens als aufmerksamer Zuhörer, als sie ihm erzählte, dass es ihr nur um ein Manuskript leid täte, das sie zurückgelassen hatte. Nach der deutschen Besetzung gelang es ihr mittels Fluchthelfer, über die polnische Grenze nach Kattowitz zu kommen, wo sie auf ihr Visum nach Großbritannien wartete. Dort kam es noch einmal zu einem Zusammentreffen zwischen Anna Maria und dem Grenzgänger Josef, der sie im Flüchtlingslager ausfindig gemacht hatte, um ihr, in altes Zeitungspapier gewickelt, das Manuskript der "Perlmutterfarbe" zu geben. Sie hatte nichts, "um solch Unbelohnbares zu belohnen", und das wusste er. Er hat es getan, sagte er, weil sich ihre Geschichte so von den anderen Fluchtgeschichten abgehoben hatte. Die meisten Flüchtlinge weinten ihrem verlorenen Besitz nach, ihr hingegen "war nur leid um ein Buch", das sie geschrieben hatte. Das habe ihm gefallen.

Als Jokl im Sommer 1938 in Paris war, wurde ihr abgeraten, in die für verloren gehaltene Tschechoslowakei zurückzukehren. Doch sie sah ihr persönliches Schicksal mit dem des Landes und seiner Bewohner verknüpft und kehrte nach Prag zurück. Sie hat das trotz der Gefahren, in die sie dadurch kam, nie bereut; "denn das mitzuerleben damals, das Land und die Tschechen in der Situation, das ist eins der großen Lebenserlebnisse geblieben." Nach dem Krieg wollte sie in die Tschechoslowakei zurück, wo sie viele Freunde hatte, doch die sich abzeichnende politische Entwicklung ließ ihr das nicht mehr ratsam erscheinen.

Jokl beschloss, nach Ost-Berlin zu gehen, wo Freunde und die Verfilmung der "Perlmutterfarbe" warteten. Mit der geplanten polnischen Version des Buches verband sie die Hoffnung, für den Polen B., ihren "Das ist es-Menschen", auffindbar zu werden, hatten sie sich doch bedingt durch die Wirren dieser Epoche aus den Augen verloren. Nach zwei Monaten wurde sie ohne Begründung aufgefordert, die DDR innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Politisch und menschlich tief betroffen, kam sie nach West-Berlin, wo sie sich eigentlich nur sammeln wollte, als ihre Arbeit als Therapeutin angefordert wurde. Sie nahm das Angebot an und baute in diesen 14 Jahren ihr fünftes Leben auf.

Dass ihre Bücher auch in Ost-Berlin verlegt wurden, ließ sie manchem kalten Krieger verdächtig erscheinen. Sie enthielt sich aber jeglicher Stellungnahme, war sie doch der Ansicht, dass es keine Adresse gibt, "wo sich das eigenverantwortliche Individuum beklagen kann über unsere Zeit".

Sie hielt Umschau und versuchte zu verstehen, was in Deutschland vorgegangen ist, dass es zum Holocaust kommen konnte. Mit Unbehagen beobachtete sie auch die Nachkriegsentwicklung und das Vorgehen der beiden politischen Systeme, die ihre Besatzungszonen zu "Machtbasen" ausbauten, "und dazu die Traditionen und Apparate der Vergangenheit brauchten".

Am Beispiel naher Freunde verstand sie "die Tragödie der deutschen verlorenen Generation nach der Stunde Null in vielen Kreisen und auf den verschiedensten Seiten; als ihre Bewirkung vereitelt wurde durch die beiden Blöcke".

Die physischen und psychischen Folgen, die der Holocaust sowohl für die Nachkommen der Opfer als auch der Täter hat, beschrieb Jokl in "Zwei Fälle zum Thema 'Bewältigung der Vergangenheit'", die aus ihrer psychotherapeutischen Praxis stammten.

Vergangenheitsbewältigung

Anfang der sechziger Jahre suchten ein junger Jude und ein junger Deutscher die Praxis von A. M. Jokl in West-Berlin auf. Die zwei annähernd gleichaltrigen Männer, keiner von der Existenz des anderen wissend, kamen physisch und psychisch mit sich nicht mehr zurecht. Anna Maria Jokl zeigte durch die unvoreingenommene Gegenüberstellung der zwei Lebensgeschichten, dass das nationalsozialistische Gedankengut bei beiden vernichtende Spuren hinterlassen hatte und "dass der seelenmordende Effekt der nationalsozialistischen Ideologie für Verfolger wie Verfolgte der gleiche war".

Die Vergangenheitsbewältigung, die sie als Therapeutin in diesem Falle "mit größter Ehrfurcht und Bewunderung" miterleben durfte, charakterisierte sie als einen "Vorgang auf Tod und Leben". Sie selbst war in ihrer Rolle dreifach gefordert - als Therapeutin, als Werkzeug der Veränderung ihrer Klienten und als Mensch, der von diesen Vorgängen nicht unberührt geblieben war.

1985 beendete Anna Maria Jokl ihre therapeutische Tätigkeit - "es ist gut, aus Fertigem zu gehen" - und widmete sich dem Schreiben. In ihrem Buch "Essenzen" gibt sie Auskunft über ihr Leben und das ihrer Generation im 20. Jahrhundert, das durch den Holocaust zur irreversiblen Zeitenwende wurde.

Am Ende einer Reise findet sich Jokl wartend am Flughafen wieder. Im Durcheinander der vielen Menschen stößt sie mit einem Mann zusammen und entschuldigt sich nicht auf englisch, nicht auf deutsch, sondern mit dem hebräischen "Slicha", folgend ihrer Lebensentscheidung - doch bedeutete diese Entscheidung nicht, alles Erlebte hinter sich zu lassen und zu vergessen, denn, so Jokl, "man ist alles Gewesene".

Anna Maria Jokl starb im Oktober 2001 in Jerusalem.

Literaturhinweise:

Anna Maria Jokls Bücher "Die Reise nach London. Wiederbegegnungen" und "Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute" sind im Jüdischen Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.

Im Suhrkamp Verlag ist ihr Essayband "Essenzen" herausgekommen.

Freitag, 10. Jänner 2003

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