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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Auf den Spuren der rätoromanischen Lyrikerin Luisa Famos

Famos, Luisa: Schwalben schlagen ihre Flügel

Von Susanne Schaber

Was will ich hier eigentlich? Es ist kalt, ein eisiger Wind fegt mir um die Ohren, keine warme Stube, in die ich mich flüchten kann. Kein Mensch auf der Straße. Ramosch ist wie ausgestorben. Wo sind die alle geblieben? Bald ist Heiliger Abend. Wer aus der Stadt kommt wie ich, wo Rauschgoldengel, Rentiere und Santa Claus seit Monaten lärmen, staunt über die Stille. Keine Lichtergirlanden an den Türen, keine Gestecke in den Fenstern, nicht einmal eine Tanne mit elektrischen Kerzen am Hauptplatz. An der Kirchenmauer lehnen ein paar verhungerte Fichten, Weihnachtsbäume, von niemandem abgeholt. Am Dorfbrunnen ein Plakat: Concert d'Advent, Sala da gimnastica a las 20.30 ura. Das ist zwei Tage her. Was suche ich hier? Was bilde ich mir ein? Was sehe ich überhaupt in der Dämmerung? Gespenster.

"Ant Nadal" - "Vor Weihnachten" heißt eines der Gedichte von Luisa Famos, und vielleicht bin ich auf der Suche nach jenen Landschaften und jenem Dorf, die ich aus dieser Lyrik schon lange zu kennen glaube: Ramosch oder Remüs, wie der Ort auf Rätoromanisch heißt, ist ein kleiner Flecken nahe Schuls, unweit der Tiroler Grenze: ein paar Straßen, die bergauf führen, dazwischen Wege, die immer noch nicht gepflastert sind. Ein Brand zerstörte 1880 einen Großteil des Dorfes und damit auch viele der alten Häuser. Auf dem Parkplatz hinter dem Hotel Heinrich steht ein einziges Auto, holländisches Kennzeichen. Aber sonst? Was suche ich hier? Und wenn schon: Was kann ich hier in Ramosch, wo Luisa Famos 1930 geboren und 1974 gestorben ist, überhaupt finden? Klingen ihre Verse jetzt anders, da ich durch die Dorfstraßen streune?

Ant Nadal

Cumün sainza champs

Sainza üert e sunteri

Mo plain d'sömmis

La not

As distach' üna staila

Da l'ur dal tschêl

E voul s'unir

A la terra.

Vor Weihnachten

Dorf ohne Felder / ohne Garten und Friedhof / aber voll von Träumen / In der Nacht / löst sich ein Stern / vom Saum des Himmels / um auf die Erde / zu kommen.

Eine fremde Zunge, eine Geheimsprache: Vallader, jenes rätoromanische Idiom, das im Unterengadin gesprochen wird. Die Gedichte von Luisa Famos sind alle in dieser Sprache geschrieben. Natürlich, ich kenne die Übersetzung, aber hier, in Ramosch, mag ich davon nichts wissen. Als müsste ich lernen, mich auf diese Sprache einzulassen, sie aus der Stille herauszuhören, mir jene Gedichtzeilen, die sich in meinem Ohr eingenistet haben, leise vorzusagen.

Das Engadin steckt voller literarischer Stimmen, in vielen Sprachen und Tonlagen. Die Liste der Schriftsteller, deren Gedichte und Romane, Tagebücher und Briefe sich in den Landschaften entlang des Inns angesiedelt haben, liest sich wie ein Who's Who der europäischen Literatur: C. F. Meyer, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Stefan Zweig, Marcel Proust, Arthur Schnitzler, Dino Buzzati, Robert Musil, Eugenio Montale, Paul Celan, Gottfried Benn. Es sind längst nicht alle. Die rätoromanischen Dichter indes wurden kaum gehört, schon gar nicht jenseits der Kantonsgrenzen. Oder wollten sie etwa für sich bleiben, den Aufstand proben gegen die Sprachen der Welt? Allein die Kinderbücher von Alois Carigiet und Selina Chönz, das "Schellen-Ursli" oder "Flurina und das Wildvöglein", wurden weltweit übersetzt. Doch sonst?

Wie viele Leser hatte ein Gedichtband, der in Putèr - so heißt das Oberengadiner Idiom - oder Vallader publiziert wurde? Zweihundert, dreihundert? Vierhundert - ein Bestseller. Gerade einmal ein Drittel der Oberengadiner Bevölkerung spricht und versteht Putèr. Jenseits von Brail, an der Grenze zum Unterengadin, können 80 Prozent der Leute Vallader. Insgesamt ein paar tausend Menschen. Aber die lesen mehr Lyrik als die Leute jenseits der rätoromanischen Sprachgrenzen, erklärt man mir.

"Allegra!"

So begrüßen sich die Engadiner, so werde auch ich hier begrüßt, wenn ich unterwegs bin. Und da wundere ich mich noch, wieso mich diese Sprache so heiter stimmt? Ich bilde mir ein, immer wieder Brocken zu verstehen, wenn ich die Leute reden höre. Lesen ist noch leichter. Einmal mehr weiß ich, wozu ich Latein gelernt habe. Unter Rätoromanisch, schlage ich nach, verstehe man heute das Friaulische, Dolomitenladinische und Bündnerromanische, in der Schweiz von etwa 70.000 Menschen gesprochen. Eine Art Vulgärlatein rätischer Prägung, das sich kurz nach der Erobe-

rung Rätiens durch die Römer um 15 v. Chr. entwickelt und schnell durchgesetzt hat. Über Jahrhunderte hinweg bleibt das Rätoromanische bestimmend. Erst nach 1800 beginnt man um die unverwechselbare Sprache und Kultur des Engadins zu bangen. Die zunehmende Germanisierung der Schweiz und der aufkommende Fremdenverkehr verdrängen die Bündner Idiome. In wirtschaftlicher Hinsicht seien sie ohnehin nur hinderlich, meinen viele. "Cul rumantsch nu puost vender gnac'üna charva", hieß es, mit dem Rätoromanischen könne man nicht mal eine Geiß verkaufen, und schon gar kein Hotelbett.

Doch will man das, sich aufgeben für die Fremden? Nicht ganz. Kulturvereine entstehen und sorgen für eine rätoromanische Renaissance: Heimatliteratur ist wieder en vogue, man pflegt das Brauchtum, geht an seine Wurzeln. "Nur nicht nachgeben!" lese ich in Peider Lansels Gedicht "Tamangur" (1923): "Niemand wird dem romanischen / Volk sein angestammtes Recht nehmen, und/ das ist: innerhalb seiner Grenzen, heute und immer, / die Sprache seines Herzens zu bewahren." Seis linguach dal cour,

die Sprache des Herzens. Dafür kämpft man.

Die Volksabstimmung vom 20. Februar 1938 wird für die schweizerischen Rätoromanen zu einem denkwürdigen Ereignis. Über 90 Prozent der Bevölkerung, die zu den Wahlurnen pilgert, entscheiden sich dafür, das Rätoromanische neben dem Deutschen, Italienischen und Französischen als vierte Landessprache anzuerkennen. Soviel Einhelligkeit erstaunt, eine seltene Zuneigung zum Vergessenen und Verdrängten. Die Bündner Idiome seien die schweizerischsten Sprachen überhaupt, wird argumentiert, die Rätoromanen folglich die besten Patrioten. Und das gilt etwas. Eine Haltung, die sich aus der Zeit und den politischen Entwicklungen jenseits der Grenzen erklärt.

Juristen kommen ins Schwitzen. Wie sollen Erlässe in einer Sprache formuliert werden, die keine einheitliche Schriftsprache besitzt? In Graubünden haben fünf rätoromanische Idiome überlebt, dazu etliche geographische Eigenheiten. Jedes Tal eine kleine Insel. Wie sollte man da eine Standardsprache schaffen? Geht einfach nicht, dachte man lange Zeit. Und es ging doch. Seit 1982 gibt es das Rumantsch Grischun, eine Gemeinsprache für alle Bündner Rätoromanen. Ein Kompromiss, Produkt eines wissenschaftlich durchdachten Systems, das die verschiedenen Idiome nach besten demokratischen Absichten vertritt. Eine

Sprache aus der Retorte klagen die einen, eine vitale neue Sprache schreien die anderen, die uns

alle zusammenschließt und der bündnerischen Identität neues Selbstbewusstsein verleiht: Seit März 1996 ist das Rumantsch Grischun gesetzlich als Teilamtssprache anerkannt, wie es im Bürokratendeutsch heißt.

Können Dichter in Teilamtssprachen schreiben? Was ist das für eine Sprache, wundere ich mich? Zu lesen in Bank, Post, Gemeindezentrum, zu hören in Radio und Fernsehen. Rätoromanische Dichter, einst eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich gegenseitig bestärkten und dabei mit Glacéhandschuhen anfassten, drängen nach außen und suchen die Übersetzung: Clo Duri Bezzola, Oscar und Andri Peer oder Rut Plouda. Flurin Spescha, zweisprachig aufgewachsen, war der erste, der einen Roman in Rumantsch Grischun verfasste, "Feuer und Flamme" (1993).

Ein Experiment, das viel Aufmerksamkeit erregt - und Nachahmer findet. Was will ich eigentlich, fragt sich der Autor und Liedermacher Linard Bardill, als er seinen Roman "Fortunat Kauer" vor sich liegen sieht, den er auf deutsch geschrieben hat. Macht eine Ausgabe davon in Vallader denn Sinn? Lass das, rät man ihm, wenn, dann übersetz dich selbst ins Rumantsch Grischun. Aber wie? "Lehr- und Wanderjahre durch ein neues Land", wie er bekennt. "Eines, das bisher nur wenige betreten haben." Und darin soll sein Romangarten gedeihen? Pflanzen brauchen Zeit, Zuwendung, Geduld. "Ich wanderte durch meine Beete, begoss die Keimlinge und sah zu, wie sie zu prallen Salatköpfen auswuchsen. "

Zwischen den Sprachen

Ist es der Boden, der Dünger? Das Lexikon des Rumantsch Grischun sei inzwischen bei den Buchstaben MA angekommen, höre ich von der Lia Rumantscha in Chur, die das Rätoromanische nach außen vertritt. Natürlich, es gibt sie auch weiterhin, alle jene Grammatiken und Wörterbücher, die das Idiom der jeweiligen Region festzuhalten und die Vielfalt der Sprachen zu bewahren suchen. Wörter verschwinden aus dem Alltag, werden zu Papier, leben nur in Lexika weiter. Eine Sprache bekommt ihr Museum.

Während einstmals ein guter Teil der älteren Bevölkerung ausschließlich Rätoromanisch sprach, wachsen die Kinder von heute zweisprachig auf - sofern ihre Eltern dafür sorgen, dass das Rätoromanische seinen Platz am Familientisch bekommt. Die Überzeugung, die eigene Sprache behüten zu müssen, ist größer geworden, das Selbstbewusstsein höher.

Auch Luisa Famos war tief im Vallader verwurzelt, das Rätoromanische Teil ihres poetischen Programms. Ihre beiden Gedichtbände, "Mumaints" ("Momente", 1960) und "Inscunters" ("Begegnungen", 1974), sind vor wenigen Jahren von Anna Kurth und Jürg Amann ins Deutsche übertragen worden. Endlich erfährt auch die literarische Welt außerhalb des Engadins mehr über ihr Leben und Werk. Im August 1930 in Ramosch geboren, wächst Luisa Famos auch dort auf. Sie wird Lehrerin. Schon in den fünfziger Jahren beginnt sie, Gedichte zu veröffentlichen, 1960 erscheint ihr erstes Buch. Zwei Jahre später wird sie nebenberuflich Ansagerin der ersten rätoromanischen Fernsehsendung, "Il balcun tort". Ihr Gesicht prägt sich den Bündnern ein, wird Teil ihrer Identität.

Doch Luisa Famos verlässt die Schweiz. Nach der Hochzeit bekommt sie zwei Kinder und übersiedelt mit ihrem Mann, dem Ingenieur Jürg Pünter, nach Honduras, später nach Venezuela. Als die Familie 1972 zurückkehrt, machen sich erste Zeichen einer schweren Krankheit bemerkbar. Es folgen Operationen, Phasen der Hoffnung, die Verschlechterung ihres Zustands. In ihren letzten Lebenswochen zieht sich Luisa Famos nach Ramosch zurück. Sie schafft es, zusammen mit ihrem Mann, kurz vor ihrem Tod noch "Inscunters" herauszubringen. Luisa Famos stirbt am 28. Juni 1974, noch nicht einmal 44 Jahre alt. Auf dem Kirchhof suche ich ihr Grab und finde es nicht.

Friedhof, Kirche, Kirchturm. Viele der Gedichte von Luisa Famos spiegeln das religiöse Leben auf dem Land, die Festtage, die Rituale zwischen Haustür und Altar, die Liebe. Ein Kreis von Bildern kehrt leitmotivisch wieder - die Sterne, der Saum des Himmels, Ähren, Flügel. Und die Schwalbe: nistet bei den Leuten unter den Dächern und in den Ställen und lässt sich doch nicht zähmen, spürt früher als der Mensch, wenn Unheil droht und sich das Wetter wendet. Ein Vogel, der sich im Herbst Richtung Süden aufmacht und im Frühling wieder zurückkehrt an den Ort, an dem er eigentlich zu Hause ist. Erstaunlich, wie oft die Schwalbe durch diese Gedichte zieht: In den Bildern dieser wunderbar rastlosen Vögel steckt die Biographie von Luisa Famos - und so manches poetologisches Bekenntnis:

Meis Nom

Meis nom ais

Randulina

Opür eu vuless almain

D' instà chanta bodezzas

Suot la pensla

Chanzuns per vus

Ed ant cha'l sulai va adieu

Stun sül piz dal clucher

Per as verer plü bain.

Mein Name

Eine Schwalbe / heiße ich mich / und wollte ich sein /

Im Sommer in aller Frühe / unter dem Vordach / sänge ich Lieder für euch /

Und bevor die Sonne schiede / säße ich auf der Spitze des Kirchturms / Und sähe auf euch herab.

Auf dem gotischen Kirchturm von Ramosch entdecke ich Inschriften auf allen Seiten, in der Dunkelheit schwer zu erkennen. Die Kirchentüre ist verschlossen. Unterhalb des Kirchhofs ein Bauernhof, eine Frau in Gummistiefeln und Anorak treibt eine Herde Schafe in den Stall. Licht hinter den Fenstern. Ich frage eine ältere Frau, die mir auf der Straße begegnet, ob sie sich an die Famos erinnere. Ja, klar, die kenne hier jeder. Und wo hat sie gewohnt? Nicht schwer zu finden, sagt sie, direkt beim Dorfeingang, auf der linken Seite. Ein großes Haus, drei Etagen, hölzerne Veranden, mehrere Erker, ein kleiner Turm. Vor dem Haus ein Garten hinter einem Holzzaun, Äpfel- und Zwetschkenbäume, viel Gestrüpp, Himbeeren oder Brombeeren. Wer erntet sie? Wohnt hier niemand? Im Haus ist es dunkel. Vom erstenStock aus, stelle ich mir vor, blickt man Richtung Süden und Westen ins offene Land: hinunter zumInn, hinauf zu den Bergen, die das Tal von allen Seiten umshließen und den Blick bremsen.em Ortseingang steile Äcker und Felder, schwer zu bewirtschaftendes Land.

Viele der Gedichte von Luisa Famos klingen täuschend einfach. Verse, die scheinbar ganz nahe liegen und doch von weit herkommen. Sie sprechen mehrere Sprachen, künden von fernen Ländern, die nur einen Blick oder einen Gedanken von uns entfernt liegen. Wer sich darauf einlässt, wird seine Welt anders sehen.

Literaturhinweis: Luisa Famos: Poesias. Gedichte. Aus dem Rätoromanischen übertragen von Anna Krth und Jürg Amann. Mit einem Nachwort von Iso Camartin. Arche Verlag Zürich 1995, 143 Seiten.

Freitag, 20. Dezember 2002

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