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Der wenig gelesene Schriftsteller Paul Scheerbart

Scheerbart: Ein kosmischer Fantast

Von Franz Rottensteiner

Paul Scheerbart (1863 bis 1915) wird unter den verschiedensten Etiketten diskutiert und vereinnahmt, als Vorläufer der Moderne, als Autor von Lautgedichten vor den Dadaisten, als Vorläufer des Surrealismus, als Prophet und Vorkämpfer der Glasarchitektur mit Einfluss auf Architekturströmungen der Moderne (Bruno Taut z. B.); man hat ihn apostrophiert als "Antierotiker" (Erich Mühsam), als "Dichter der Sternenwelt" (Franz Servaes), als "weisen Clown" (O. J. Bierbaum), als "wiedergeborenen Dionysus" (Anselm Ruest), aber auch als "literarischen Eigenbrötler" (Kurt Aram). Für Arno Schmidt, der das Schreiben als harte Arbeit am Wort sah und nichts hielt von der leichten Eingabe der Muse war er nur ein "kosmischer Schwadroneur mit beschränkter Haftung".

Natürlich sind auch Scheerbarts Anklänge an die Sciencefiction unübersehbar, und einige Kommentatoren haben aufgezählt, was er alles an technischen Neuerungen vorausgesehen haben soll, als fiele Scheerbart als Autor in dieselbe Rubrik wie Jules Verne. Als solcher qualifiziert ihn vor allem seine "Flugschrift" "Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten" (1909), in der er in anscheinend paradoxem Zynismus verkündete, der Krieg lasse sich nicht durch Pazifismus überwinden, sondern nur durch die größtmögliche Perfektionierung der Zerstörungsmittel, durch geballte Luftbombardements, vor denen alle Festungsanlagen und Flotten zunichte würden. Das rückt ihn jedoch eher in die Nähe Jonathan Swifts als die Jules Vernes.

Scheerbart selbst hat sich als "Phantasten" bezeichnet. Aber seine kosmischen Welten, wenn auch wissenschaftsverneinend, märchenhaft und antiempirisch anmutend, haben nichts Übernatürliches an sich; sie entspringen zwar einem Missbehagen an der irdischen faktischen Welt mit ihren Kriegen, Elend, Existenznöten und Lebensqualen, aber sie werden für die wahre, kosmische Wirklichkeit ausgegeben, in der das irdische Jammertal nur ein nicht sonderlich bedeutsamer Unglücksfall einer höheren Welt kosmischer Harmonie, ästhetischer Ordnung und in ihrer Unfassbarkeit erhabener Größe ist. Aber es gibt den vielbeschworenen "Riss in der Wirklichkeit" nicht, keinen Konflikt zweier Weltordnungen, einer diesseitigen und einer jenseitigen, keine Andeutung von Supernaturalismus.

Das wichtigste Sinnesorgan im Scheerbartschen Kosmos ist zweifellos das Auge; es ermöglicht seinen Kosmosbewohnern, immer neue Aussichten zu entdecken, die ständigen wunderbaren Metamorphosen, die sich im All vollziehen, zu verfolgen und stets neue ästhetische Eindrücke zu empfangen. Wie Gustav Theodor Fechner stellte er sich auch die Planeten und Sonnen als lebende, denkende Wesen vor. Die Natur kommt seinen skurril ausgesonnenen Sternenbewohnern zu Hilfe, häufig sind sie mit überlegenen Sinnesorganen ausgestattet, etwa ausfahrbaren Teleskopaugen, die es ihnen ermöglichen, das Geschehen in der Sternenwelt, das der Autor in einem opulenten Kaleidoskop mannigfaltiger visueller Eindrücke schildert, genau zu verfolgen. Oder ihr Himmelskörper selbst stellt ihnen natürliche Linsen Beobachtung der astralen Welt zur Verfügung. Scheerbarts irdische Schauplätze, vor allem der Orient oder das ferne Australien sind in ihrer Exotik nicht weniger bunte "Wunderweltlaternen" als die astralen Gefilde.

In gewissem Maße ist der Scheerbart'sche Kosmos auch ein ideales Gegenstück zu seinen eigenen, von Hunger bedrohten bohemehaften Alltagsexistenz, in der er oft und oft mehr flüssige als feste Nahrung zu sich nahm. Häufig zitiert wird die von seinem Verleger Ernst Rowohlt gemachte Mitteilung, Scheerbart habe sich von "geschabten Heringen auf Brot" ernährt. Ähnliche Anekdoten, die den Autor als absonderlichen, eigensinnigen Außenseiter hinstellen, als schrulligen Kauz und auf Pump lebenden trinkfreudigen Philosophen sind in vielen Darstellungen der Berliner Boheme zu finden. Es scheint, dass er nur dank der Unterstützung seiner immens geduldigen Zimmervermieterin und späteren Frau Anna lange genug am Leben blieb, um 1915 buchstäblich zu verhungern - aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg, wie man u. a. bei Erich Mühsam lesen kann.

Scheerbart wurde verhältnismäßig viel kritische Aufmerksamkeit zuteil, auch solche von großem Verständnis, aber gelesen wurde er kaum; nicht zu Lebzeiten, und nicht heute, und darin hat auch die inzwischen an Umfang und Qualität respektable Sekundärliteratur nichts geändert. Der Vergessenheit in die er in den Jahrzehnten nach seinem Tod geriet, wurde er zwar entrissen, und seine alten Bücher sind inzwischen begehrte Sammlerstücke, aber seine Neuauflagen haben kaum einen größeren Leserkreis gefunden. "Seine Tragik ist, dass er viele Anhänger hat, aber kaum Leser" (Klaus Völker). Die sechs Scheerbart-Bände in der "Phantastischen Bibliothek" bei Suhrkamp waren so wenig ein Erfolg wie Einzelausgaben in den Insel Taschenbüchern, bei dtv oder anderswo, und die elf Bände der Gesammelten Werke in der kleinen "Edition Phantasia" waren sündteuer und hatten eine Auflage von nur dreihundert Stück. Die schönen, von Mechthild Rausch mustergültig kommentierten Ausgaben bei der edition text + kritik dürften kaum höhere Auflagen haben.

Der Asteroiden-Roman "Lesabéndio" (1913) - die Originalausgabe wurde von Alfred Kubin illustriert, der das Werk vermutlich auch erst an den Georg Müller-Verlag vermittelt hat - ist wohl Scheerbarts reifster Roman, eine Sciencefiction, die ganz ohne menschliche Charaktere auskommt. Der titelgebende Pallas-Bewohner Lesabéndio betreibt das Projekt, durch einen babylonischen Turmbau den Planetoiden Pallas, aus zwei verbundenen Trichtern bestehend, mit seinem durch eine gewaltige Wolke verhüllten "Kopfsystem" zu verbinden und dadurch mit dem großen All Verbindung aufzunehmen. Wie Clemens Brunn detailliert nachweist, ist der täuschend einfach geschriebene Roman keineswegs nachlässig darauflosgeschrieben, so wie es Scheerbart gerade in den Kopf gekommen ist (wie Arno Schmidt annehmen mochte), sondern streng durchkomponiert und gegliedert, nicht nur in vertikaler Hinsicht (dem Streben nach dem Höheren), sondern auch im horizontalen Aufbau der Figuren, und bietet eine tiefgründige Reflexion über die wechselseitigen Bedingnisse von Ästhetik, Technik und selbst Religion. Schon Walter Benjamin hat dazu angemerkt: "Dabei hat die geistige Überwindung des Technischen ihren Gipfel erreicht, da die Nüchternheit und Sprödigkeit des technischen Vorgangs zum Symbol einer wirklichen Idee geworden ist." Der Lesabéndio hat, in den Worten Walter Benjamins, jene Reinheit, die man Stil nennt.

Der Anspruch der Kunst, die Welt umzuformen, wie in "Münchhausen und Clarissa" oder "Die Glasarchitektur" verkündet, wird hier einer fortschreitenden Kritik unterzogen und erreicht schließlich eine religiöse Dimension. Scheerbart stellt nicht nur die Welt, wie sie ist, in Frage, sondern auch die eigenen Ideen; charakteristisch für seine Prosa ist, dass er jeden Anflug von Pathos durch bewusste Schnoddrigkeit und clowneske Aperçus im Keim abtötet.

Scheerbart war, wie alle großen Humoristen, ein tief melancholischer Mensch, der seine zur Weltverdrossenheit gesteigerten Kritiken der verqueren Moral der bürgerlichen Gesellschaft als Narretei und Possenhaftigkeit tarnt und ihrer Scheinmoral eine radikal revolutionäre antibürgerliche Kunstauffassung entgegensetzt.

Literatur: Clemens Brunn: "Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin." Igel-Verlag Oldenburg 2000. Im selben Verlag sind auch drei Bände "über Paul Scheerbart" erschienen.

Freitag, 12. Juli 2002

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