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Vor 125 Jahren wurde Hermann Hesse in Calw geboren

Hesse, Hermann: Heimathimmel, Heimathölle

Von Oliver Bentz

Er gilt heute als der im Ausland bekannteste deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts: Der Schriftsteller Hermann Hesse. Über die Qualität seines Werkes jedoch klaffen die Urteile weit auseinander. Während er für immer wieder nachwachsende Generationen von Lesern vor allem im jüngeren Erwachsenenalter Kultstatus genießt, tun ihn andere - besonders die Vertreter von Kritik und Literaturwissenschaft - als literarisches Leichtgewicht und bloßen Kitschproduzenten ab. Welcher Meinung man sich auch immer anschließen mag: Fest steht, dass Hesses weltweite Wirkung Dimensionen erreicht hat, an die kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit herankommt. Auf mehr als 100 Millionen Exemplare beläuft sich die Weltauflage der Bücher des 1946 mit dem Literaturnobelpreis Ausgezeichneten inzwischen und der "Index translatorum" der UNESCO weist Hermann Hesse als den meist übersetzten deutschsprachigen Autor seit den Gebrüdern Grimm aus.

Vor 125 Jahren, am 2. Juli 1877, wurde Hermann Hesse im schwäbischen Städtchen Calw im Nordschwarzwald in eine pietistische Missionarsfamilie hineingeboren. Dort feiert man das Jubiläum des berühmten Sohnes, der der Stadt durch seine Romane und Erzählungen einen Platz in der Literaturgeschichte einbrachte, heuer auch ausgiebig mit einem "Hermann Hesse Festival". Doch das Verhältnis zwischen Heimatstadt und Dichter war nicht immer so innig, wie es der jetzt geplante Veranstaltungsreigen glauben machen könnte. Es war vielmehr eine höchst ambivalente Beziehung, die Hermann Hesse und Calw verband - eine Tatsache, die sowohl in seinem literarischen Werk, als auch in Hesses Aufzeichnungen ihren Niederschlag fand.

Die Tannenwälder von Calw

"Wenn ich als Dichter vom Wald oder vom Fluss, vom Wiesental, vom Kastanienschatten oder Tannenduft spreche, so ist es der Wald um Calw, ist es die Calwer Nagold, sind es die Tannenwälder und die Kastanien von Calw, die gemeint sind, und auch Marktplatz, Brücke und Kapelle, Bischofstraße und Ledergasse, Brühl und Hirsauer Wiesenweg sind überall in meinen Büchern, auch in denen, die nicht ausdrücklich sich schwäbisch geben, wiederzuerkennen, denn alle diese Bilder, und hunderte andre, haben einst dem Knaben als Urbilder Hilfe geleistet, und nicht irgendeinem Begriff von 'Vaterland', sondern eben diesen Bildern bin ich zeitlebens treu und dankbar geblieben, sie haben mich und mein Weltbild formen helfen, und sie leuchten mir heute noch inniger und schöner als je in der Jugendzeit."

Dies ist die eine Seite dieser Calwer Kindheit und Jugend des Hermann Hesse: das Gefühl der Geborgenheit im überschaubaren Schwarzwaldstädtchen und die lebenslange schwärmerische Zuneigung zur umliegenden Naturlandschaft, die in ausgiebigen Wanderungen mit dem Vater erkundet wurde. Ihr gegenüber steht das an die Existenz gehende Leiden an der (geistigen) Enge sowohl im streng missionarisch-pietistischen Elternhaus - wo man von der Sehnsucht nach der "oberen Heimat", der himmlischen, getrieben wurde - als auch im "Schwarzwaldnest" selbst, mit seiner aus "Neid erwachsenden Feindseligkeit gegen alles Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige."

Hesses Vater, einen baltisch-deutschen Theologen, der vorher als Missionar in Indien gearbeitet hatte, verschlug 1873 eine Tätigkeit im damals bekannten Calwer Verlagsverein, einer äußerst umtriebigen, international wirkenden Publikationsstätte theologischer Literatur, die für die Sache der Mission warb, in die beschauliche Stadt im Schwarzwald. Dort lernte er auch Marie, die Tochter des Verlagsleiters Hermann Gundert, kennen, die seine Ehefrau und Hermanns Mutter werden sollte.

"Nach schwerem Tag", so Marie Hesse in ihrem Tagebuch, "schenkt Gott in seiner Gnade abends halb sieben Uhr das heiß ersehnte Kind, unseren Hermann, ein sehr großes, schweres, schönes Kind, das gleich Hunger hat, die hellen, blauen Augen nach der Helle dreht und den Kopf selbständig dem Licht zuwendet, ein Prachtexemplar, von einem gesunden, kräftigen Burschen." Die Eltern hatten auch den jungen Hermann dazu bestimmt, die Familientradition fortzusetzen und die theologische Laufbahn einzuschlagen.

Seine ersten vier Lebensjahre verbrachte Hermann Hesse in Calw, bevor die Familie für einige Jahre nach Basel übersiedelte, wo der Vater an einer Missionsschule lehrte. Schon in Basel widersetzte sich der von den Eltern als widerspenstig erlebte Sohn den in Schule und Elternhaus durch Rute und Gebet gekennzeichneten Erziehungsmaßnahmen, weshalb man ihn in das Knabenhaus der Missionsanstalt steckte.

Im Juli 1886 kehrte die Familie aus Basel rechtzeitig zur Einschulung des Jungen nach Calw zurück. In der Schule, so schrieb Hesse 1924 in seinem "Kurzgefaßten Lebenslauf", lernte er vor allem "Latein und Lügen". Der Konflikt zwischen Elternhaus, Lehranstalt, Kirche und dem Heranwachsenden spitzte sich in den folgenden Jahren kontinuierlich zu: "Es war", so Hermann Hesse 1936 in der Rückschau, "das pietistisch-christliche Prinzip, dass des Menschen Wille von Natur und von Grund aus böse sei und dass dieser Wille also erst gebrochen werden müsse, ehe der Mensch in Gottes Liebe und in der christlichen Gemeinschaft das Heil erlangen könne."

Schwer litt der Junge, der schon früh beschlossen hatte, Dichter zu werden und folgerichtig schon in der Knabenzeit einen ausgesprochenen Widerspruchsgeist an den Tag legte, an den umfassenden Ge- und Verboten im pietistischen Alltag. Das "Du sollst . . .", mit dem ihn seine Umwelt ständig zu formen versuchte, wurde für ihn Stimulans, sich in Opposition zu üben.

Autoritäre Verhältnisse

Im Maulbronner Seminar sollte Hermann Hesse nach dem Willen der Eltern das Rüstzeug für das theologische Studium in Tübingen erwerben. Doch er lehnte sich gegen die erzwungene Ausbildung sowie die autoritären Verhältnisse dort auf und flüchtete am 7. März 1892 aus Maulbronn. Einen Tag später griff ihn ein Gendarm zehn Kilometer von der Schule entfernt auf. Der Lehrerkonvent bestrafte ihn mit acht Stunden Karzer und verwies ihn einige Tage später nach Hause. Ein kurze Zeit danach unternommener neuerlicher Versuch in Maulbronn scheiterte schon nach wenigen Wochen und endete mit der Entlassung des "gefährlichen Elements" aus dem Seminar. Was folgte waren ein Selbstmordversuch und die Unterbringung in der Nervenheilanstalt Stetten im Remstal. "Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affäre schwachsinnig ist", schrieb Hesse von dort im Hinblick auf die Verständnislosigkeit, die ihm von Seiten der Eltern und Lehrer entgegengeschlagen war. Erst die 1895 begonnene Buchhändlerlehre in Tübingen sollte Hesse die Befreiung aus dem beengenden pietistischen Milieu und die folgende Schriftstellerlaufbahn ermöglichen.

Im stark autobiographisch gefärbten Roman "Unterm Rad", der 1903/04 in Calw entstand und je zur Hälfte in Calw und Maulbronn spielt, rechnete Hesse mit seiner schwäbisch-pietistischen Vergangenheit und der Art von Pädagogik, die er am eigenen Leib erfuhr, ab. Die Hauptfigur des Buches, der Calwer Schüler Hans Giebenrath, verübt am Ende Selbstmord in der Nagold, weil er an der gesellschaftlichen und geistigen Enge der Umgebung und den von ihm nicht erfüllbaren Erwartungen seiner Lehrer und Eltern scheitert. Der Roman, so der Kritiker Arthur Eloesser 1906, "enthüllt ungefähr eine Anleitung für Eltern, Vormünder und Lehrer, wie man einen gesunden, begabten jungen Menschen am zweckmäßigsten zu Grunde richtet."

Der Vagabund Knulp

Seine in Calw und Umgebung spielenden Erzählungen hatte Hesse in den Sammelbänden "Diesseits" (1907), "Nachbarn" (1908) und "Umwege" (1909) veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sie dann fast vollständig unter der fiktiven Ortsbezeichnung "Gerbersau", die Hesse für viele in seinem frühen Heimatort angesiedelten Geschichten wählte. Eine der liebsten Gestalten aus der heimatlichen Welt der Kleinstädter und Flößer blieb für Hesse zeitlebens der Vagabund "Knulp", eine frühe literarische Variation des Autors über das Außenseitertum und das Entwurzeltsein.

Noch heute lassen sich, trotz der umfangreichen baulichen Erneuerung am Ort, im Stadtbild einige Schauplätze aus Hesses Leben und aus seinen Werken finden. So etwa die düstere verrufene Welt der "Falken"-Gasse aus dem Buch "Unterm Rad", wo "Armut, Laster und Krankheit" ansässig waren.

In der Realität trägt sie in unseren Tagen den Namen "Hengstettler Gässle" und wirkt immer noch ein wenig schummerig und verwegen. Oder die sandsteinerne Nikolausbrücke über die Nagold, mit ihrer schönen Kapelle, von der der Junge "tausendmal" seine Angelschnur ins Wasser warf und die für Hesse "der liebste Platz im Städtchen" blieb, "selbst der Domplatz von Florenz ist mir nichts dagegen". An den baumbestandenen Ufern des Flusses, auf dem früher das Holz des Schwarzwaldes seine Reise bis nach Holland und England antrat, fühlte der Junge, der später ein Globetrotter werden sollte, "im Herzen die Weite der Welt".

Mit der Heirat mit Maria Bernoulli 1903 und der anschließenden Übersiedlung als freier Schriftsteller nach Gaienhofen am Bodensee endete die Zeit, in der Hesse in Calw wohnte oder sich regelmäßig dort aufhielt. Es folgten nur noch

sporadische Besuche des Ortes am Ufer der Nagold, der letzte zu

Anfang der dreißiger Jahre. In Hesses Werken jedoch kehrte die

Erinnerung immer wieder nach Calw zurück. Noch im Jahr 1949 schrieb er:

"Jetzt habe ich hie und da eine Nacht Heimweh nach Calw. Wohnte ich aber dort, so hätte ich jede Stunde des Tags und in der Nacht Heimweh nach der schönen alten Zeit, die vor dreißig Jahren war und die längst unter den Bogen der alten Brücke hinweg geronnen ist. Das wäre nicht gut. Schritte, die man getan hat, und Tode, die man gestorben ist, soll man nicht bereuen. "

Im historischen Haus Schütz, in Sichtweite des Geburtshauses des Dichters, ist seit 1990 das Hermann- Hesse-Museum untergebracht. Dort beleuchtet man neben dem schriftstellerischen Werk Hesses - von "Unterm Rad", über den "Steppenwolf" bis hin zum "Glasperlenspiel" - und seinem durchaus bemerkenswerten malerischen Œuvre nicht nur die Kinder- und Jugendzeit des Dichters - mit allen ihren Konflikten - in der Stadt, sondern folgt in zehn Räumen seinem gesamten Leben, das sich nach der Calwer Zeit in Gaienhofen, auf Reisen und schließlich in seiner Wahlheimat Montagnola im Tessin abspielte, wo Hesse am 9. August 1962 starb.

Das Hesse-Museum in Calw ist Di. bis So. von 11 bis 17 Uhr geöffnet, Do. zusätzlich bis 19 Uhr. Im Juli und August erinnert ein Festival an den Dichter. Informationen im Internet unter der Adresse: http://www.hesse2002.de

Auch das Schiller-Nationalmuseum in Marbach widmet dem Schriftsteller bis 27. Oktober 2002 die Ausstellung "Hermann Hesse - Diesseits des Glasperlenspiels".

Zudem sind zum Jubiläum interessante Publikationen erschienen: So erinnern sich in "Mein Hermann Hesse" (herausgegeben von Uli Rothfuss in der "Edition q") Schriftsteller wie Volker Braun, Hugo Dittberner oder Ota Filip an den Dichter und seinen Einfluss auf ihr eigenes Werk. Ein von Andres Bucher, Andres Furger und Felix Graf herausgegebener opulenter Text-Bildband aus dem "Verlag Neue Zürcher Zeitung" nimmt sich verschiedener Aspekte seines Werks an, wobei Hesses Zeit in der Schweiz im Mittelpunkt steht. Im "Thorbecke Verlag" erschien das verschwenderisch-schön gemachte Buch "Hermann Hesse: Bodensee", das Texte des Autors über den See versammelt und diese mit ausgesprochen schönen Fotografien illustriert.

Freitag, 05. Juli 2002

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