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Über den schizophrenen Dichter Ernst Herbeck

Herbeck, Ernst: "Vielleicht eine Legende..."

Von Uwe Schütte

Befragt nach dem Sinn des Lebens, erklärte Ernst Herbeck: "Der Sinn des Lebens? Weiterzuleben! Nach dem Tode auch noch weiterzuleben. [.] In der Gestalt eines Königs . . . einer anderen Welt . . . im Altertum zum Beispiel oder in der Steinzeit." Das war im Jahr 1977. Herbeck war 57 Jahre alt und seit über 30 Jahren in psychiatrischen Anstalten hospitalisiert. Die vernichtende Diagnose, die ihm im Alter von 20 Jahren gestellt wurde, lautete auf Schizophrenie. Ein soziales Todesurteil. Herbeck war ein Verrückter, der wie seine Leidensgenossen weggesperrt wurde. Unsere Gesellschaft handelt so nicht nur fürsorglich im Interesse der Kranken, sondern auch um deren irritierenden Anblick nicht ertragen zu müssen. Denn er könnte uns an das Unterdrückte, Verleugnete, Wunderliche in uns selbst erinnern, das wir nicht wahrhaben wollen. Gewaltfantasien, sexuelle Begierden, quälende Albträume, Liebe zu einem anderen Menschen, fester Glaube an ein transzendentes Wesen oder an Utopien wie den Sozialismus - der Keim der Schizophrenie steckt in jedem Menschen.

Der Einzelgänger

Deshalb ist Herbeck einer von uns. Sein Leben fing auch durchaus normal an: 1920 in Stockerau (NÖ) als Beamtensohn auf die Welt gekommen, besuchte er die Volks- und Hauptschule, ging danach für ein Jahr auf eine Handelsschule. Doch ein Geburtsfehler überschattete sein Schicksal: eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte erschwerte Herbeck das Sprechen. Die aus mehreren missglückten Operationen resultierende Hasenscharte stempelte ihn zum Außenseiter. "Tiernamen haben sie mir gegeben. 'Bleda Hund', haben sie gesagt, 'schiache Sau.' " Herbeck wurde ein Einzelgänger. Er spielte die Mandoline, zeichnete gerne und unternahm Bootstouren. Am liebsten war er allein in der Natur, fern den Menschen, die ihn ablehnten.

Als er am 9. Oktober 1938 volljährig wurde, war in Österreich schon seit einem halben Jahr der kollektive Wahnsinn der Geschichte ausgebrochen. Ein Jahr später kam der Krieg. Herbeck war Hilfsarbeiter in einer Rüstungsfabrik, als er im August 1940 im Wiener Universitäts-klinikum erstmals psychiatrisch behandelt wurde. Mit sechzig Insulinschocks versuchte man ihm seine unkontrollierten Lach- und Weinkrämpfe auszutreiben, seine hartnäckige Behauptung, dass er von einem Mädchen hypnotisiert worden sei und per Morsezeichen mit ihr in Kontakt stehe. Die Schocktherapie wirkte. Zumindest zeitweilig. Wieder entlassen, lebte Herbeck noch rund ein Jahr zu Hause und arbeitete als Speditionsgehilfe. Im Jänner 1942 - Hitlers Krieg hatte mit der gescheiterten Winteroffensive im Osten seinen katastrophalen Höhepunkt erreicht - wurde Herbeck aufgrund seiner paranoiden Stimmhalluzinationen einer weiteren Schockbehandlung unterzogen. Nach der Entlassung arbeitete er erneut in einer Munitionsfabrik. Im Oktober 1944 musste er dann in die Naziarmee einrücken, wurde aber nach fünf Monaten als wehruntauglich entlassen. Weder als Kanonenfutter noch als williger Befehlsausführer taugte Herbeck. "Der Tod, der Tod, der Tod! Deshalb wird Krieg geführt!" schrieb er viele Jahre später.

Im Mai 1945 war der Spuk dann vorbei. Herbecks Leiden aber ging weiter. Nachdem er seinen Vater tätlich angegriffen hatte, wurden ihm zehn Elektroschocks versetzt. Seine Erregungszustände beseitigte dies wieder nur vorübergehend. Als Herbeck im Mai 1946 von der Wiener Polizei eines Nachts ziellos in Floridsdorf umherirrend aufgegriffen wurde, überwies man ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Gugging. Die Endstation war erreicht. Herbeck sollte, mit einer kurzen Ausnahme, den Rest seines Lebens in Gugging verbringen.

Zum selben Zeitpunkt trat ein frisch promovierter Psychiater seinen ersten Job in der Nervenheilanstalt an: Leo Navratil. Eine ungewöhnliche Beziehung, ja sogar Freundschaft sollte die beiden, Arzt und Patient, für die nächsten 45 Jahre verbinden. Herbeck war dem jungen Arzt bereits bei der ersten Visite aufgefallen. Auf Navratils Frage, was er am liebsten machen würde, antwortete er: "Bootsfahren und Märchenbücher von der Seerose lesen." Der Psychiater verstand solch eine exzentrische Antwort zwangsläufig als Symptom der schizophrenen Störung. Die poetische Schönheit der psychopathologisch derangierten Sprache Herbecks erkannte er erst später. 1960 bat Navratil seinen Patienten, ein Gedicht mit dem Titel "Der Morgen" zu ver-fassen. Herbeck kam der Aufforderung umgehend nach, schrieb in seiner feinen Kurrentschrift stockend die Verse nieder: "Im Herbst da reiht der Feenwind/ da sich im Schnee die/ Mähnen treffen./ Amseln pfeifen heer/ im Wind und fressen."

Solch einen Text auch als Literatur und nicht nur als klinisches Dokument aufzufassen, war ein wichtiger, ein mutiger Schritt Navratils. Ohne der damals modischen Anti-Psychiatrie mit ihren oft absurden Auswüchsen anzuhängen, war Navratil vorurteilsfrei genug, die künstlerisch Begabten unter seinen Patienten zu fördern. Damit gelang es ihm, therapeutische Erfolge zu erzielen und die konkrete Lage der Hospitalisierten zu verbessern, aber auch die im deutschen Sprachraum entscheidende Kehrtwende in der Anerkennung von Kunst aus Irren-anstalten einzuleiten. Für Navratil war dabei zentral, den ursächlichen Konnex zwischen psychischer Erkrankung und künstlerischer Produktion nicht zu leugnen oder aufzulösen. Seine Schützlinge waren ernst zu nehmende Künstler, vor allem aber hilfsbedürftige Patienten. Unter dem von Jean Dubuffet geprägten Ausdruck "art brut" fanden die zumeist bildnerischen Zeugnisse der "zustandsgebundenen Kunst" entmündigter Langzeitpatienten wie Johann Hauser, August Walla, Oswald Tschirtner und anderen bald Eingang in bedeutende internationale Museen und Kunstsammlungen.

1981 war in einem am Rande der Anstalt liegenden Pavillon das "Haus der Künstler" gegründet worden, in dem die Patienten in einer wohngemeinschaftlichen Atmosphäre lebten. Das Gebäude war außen wie innen mit der Kunst der Bewohner verziert. Gugging war zum Synonym für das Gelingen eines weltweit einmaligen Experiments geworden. Ein Modell für die Psychiatrie, eine Provokation für gesellschaftliche Vorurteile gegen Geisteskrankheit. Mit diesem Erfolg einher ging allerdings eine zunehmende Kommerzialisierung der Patientenkunst. Die sich in Gugging an manchen Tagen die Klinke in die Hand gebenden Galeristen und Kunstsammler waren an den kommerziell uninteressanten Gedichten von Herbeck und seinem (literarisch unbedeutenderen) Mitpatienten Edmund Mach freilich nicht interessiert. Auch für die Verleger lockte kein großes Geschäft. Unter dem selbstgewählten Pseudonym "Alexander" erschienen einzelne Gedichte Herbecks zunächst im Hanser Verlag und bei dtv, Navratil gab 1992 rund 400 Gedichte als eine Art Werkausgabe im Residenz Verlag heraus. Auf Anklang stießen die lyrischen Texte beim allgemeinen Lesepublikum kaum, dafür aber umso mehr unter Schriftstellern und Künstlern. Gerhard Roth, Ernst Jandl, Elfriede Mayröcker, André Heller und Elfriede Jelinek, längst aber nicht nur sie, gehörten zu den Bewunderern Herbecks unter den österreichischen Autoren. Besonders hervorzuheben ist der deutsche Schriftsteller und Germanist W. G. Sebald, der kürzlich auf tragische Weise ums Leben kam. Er verfasste zwei bedeutende Essays über Herbeck und schilderte in seinem Roman "Schwindel. Gefühle" einen gemeinsam mit Herbeck unternommenen Ausflug.

Ein eindringliches Bild

Es steht zu hoffen, dass die umfangreiche Ausstellung zu Leben und Werk Ernst Herbecks, die derzeit in der Kunsthalle Krems zu sehen ist, ihm die allgemeine Anerkennung bringt, die bildnerisch tätige Mitpatienten wie August Walla oder Johann Hauser schon seit langem genießen. Als Kurator der Ausstellung fungierte Leo Navratil, der auch in Zusammenarbeit mit Carl Aigner den im Brandstätter Verlag erschienenen Katalog herausgegeben hat. Der reich illustrierte Band versammelt praktisch alle wichtigen Artikel und Aufsätze zu Herbeck. Beiträge wie die von Fritz Rumler oder Heinz Bütler vermitteln ein eindringliches Bild von Herbecks Auftreten und geben uns "Normalen" wenigstens in Ansätzen einen Eindruck davon, wie das Leben in der Anstalt für den Langzeitpatienten ausgesehen hat. Der "Spiegel"-Autor Rumler besuchte Gugging 1977, vor der Gründung des Hauses der Künstler, als Herbeck noch in einem trostlosen Schlafsaal seine Existenz fristen musste. "Der schmächtige Mann im grauen Anzug [.] wird sein Leben lang hospitalisiert bleiben, im Elf-Betten-Saal schlafen, seine geringe Habe - Armbanduhr, Kaffeemaschine, Rasierapparat - in einem alten Spind verschließen und stumm umherspazieren. 'Das Leben ist schön', heißt sein bitterstes Gedicht, es schließt: 'So (schön) schwer ist das es auch.' " Wie der Beitrag des Schweizer Filmemachers Bütler zeigt, ist die Neigung zum Schweigen das auffälligste Charaktermerkmal Herbecks gewesen. Ein Schweigen, das nicht als bewusste Kommunikationsverweigerung missverstanden werden sollte, sondern Ausdruck der sozialen Isolation Herbecks war. Mit Menschen, die sich für ihn interessierten, als "Normale" aber eben nicht seine Mitmenschen waren, konnte er Gemeinschaft nur über stumme soziale Rituale herstellen. Bütler schildert etwa sehr bildkräftig sein gemeinsames Zigarrettenrauchen mit Herbeck. Der Nikotingenuss stellte für Herbeck, wie für seine Patientenkollegen, einen passioniert genutzten Freiraum dar und inspirierte ihn zu den sehr eindrücklichen Versen: "Die Zigarette: ist ein Monopol und muss/ geraucht werden. Auf Dassie/ in Flammen aufgeht." Von rätselhafter Schönheit ist auch der Kommentar, den Herbeck einmal zum Begriff "Selbstbewusstsein" abgegeben hat: "Wenn man raucht erübrigt/ es sich."

Michel Foucault hat in seiner fulminanten Studie "Wahnsinn und Gesellschaft" materialreich dargelegt, wie die Stimme des Wahnsinns, die noch im späten Mittelalter als Weg zu gemeinhin unzugänglichen Bereichen ernst genommen wurde, von der Aufklärung als krankhaft diffamiert und ausgegrenzt wurde. Indem man den einstmals heiligen Wahnsinn zur Geisteskrankheit stigmatisierte, wurde der Jahrtausende alte Dialog zwischen Vernünftigen und Verrückten gewalt-sam zum Schweigen gebracht. "Die Sprache der Psychiatrie", so Foucault, "die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen gründen können." Die wundersamen, in ihrer bizarren Schönheit so anrührenden Gedichte Herbecks überbrücken den Abgrund dieses Schweigens. Sie sind wie unverhofft angelangte Flaschenpost aus unbekannter Ferne. Enigmatische Botschaften, die durch ihre widersinnigen Feststellungen die Konventionen unseres Denkens in Frage stellen oder gerade durch übereifrige Affirmation des Selbst-verständlichen just dieses unterminieren. Schreibt Herbeck etwa ein Gedicht zum Thema "Vaterland", so ist sein Patriotismus ein durchaus ironischer: "Wenn das Vaterland nicht wär,/ wären wir arm. Das Vaterland ist/ gut." Ein Sinn für das Humoristische geht seinen Texten genauso wenig ab, wie das "Freudenhaus" betitelte Gedicht zeigt: "Das Freudenhaus ist gut und gross./ Ist für die Musik gebaut, und/ steht allen Menschen offen."

Seine trostlose Lage vermochte der Schizophrene durchaus genau zu erkennen, die "Patient und Dichter" übertitelte Selbstdiagnose ist von schneidender Schärfe: "Je größer das Leid/ desto kleiner der Dichter// Umso härter die Arbeit/ Umso tiefer der Sinn// Je größer das Unheil/ desto härter der Kampf// Umso ärger der Verlust/ desto irrsinniger die Verdammten." Mit Selbstmitleid hat das wenig zu tun. Stattdessen vielmehr mit einer besonderen Gabe zur Empathie.

Die Tiere

Herbecks Empathie gilt insbesondere der anderen, vernunftunbegabten Spezies, die wir rücksichts-los unserer Verfügungsgewalt unterordnen - den Tieren. Von den zahlreichen Tiergedichten, die Herbeck geschrieben hat, ist der Text über das "Nashorn" eines der schönsten: "Das Nashorn ist im Wald ganz stumm./ Die Nase in der Höh und tut auch gar so weh./ Die immer so weh tat und tut sonst gar nicht weh./ mehr als das Tier so groß ist sie auch/ das Nashorn ist ein großes Tier./ Das Nashorn ist im Wald./ so zackig ist das Nashorn/ und doch so schön."

Von allen Gedichten Herbecks erscheint mir eines mehr Scharfsicht und Erkenntnistiefe zu beinhalten, als wir womöglich zuzugeben bereit sind. Es trägt den Titel "Depression": "Die Depression ist ein Augenleid/ kommt vom vielen Leid der/ Tiere Schwein und Tiger./ Traurigkeit. Mehr essen." Was in diesen vier einfachen Versen wie selbstverständlich postuliert wird, ist die verdrängte Einheit zwischen uns und all dem, was um uns herum ist. Ein großer Zusammen-hang zwischen Mensch und Welt, dessen Wahrnehmungsfähigkeit uns im Prozess der Zivilisierung notwendigerweise abtrainiert wird. Herbeck leidet, weil er um das Leid anderer Lebewesen, einschließlich unserer tierischen Brüder, weiß. Zugleich denunziert sein Gedicht unser vermessenes Kalkül, die durch rücksichtsloses Handeln aus dem Gleichgewicht gebrachte Welt mit gewaltsamen Maßnahmen wieder zurechtrücken zu wollen, also etwa die vom Industrialisierungs-prozess verursachten Naturzerstörungen mit technischen Mitteln zu beseitigen oder auf zunehmende soziale Ungerechtigkeit mit einer Forcierung neoliberaler Politik zu reagieren. Wie Herbeck erkannt hat, ist der triviale Akt des Schnitzelessens als Trost bei Traurigkeit nur ein privates Analogon zu dem, was die Menschheit ansonsten im großen Maßstab anrichtet.

Ernst Herbeck starb am 11. September 1991 in Gugging. Auf Leo Navratils Frage, was nach dem Tod einmal aus ihm werden könnte, mutmaßte er: "Vielleicht eine Legende."

Die Ausstellung zu Leben und Werk Ernst Herbecks ist noch bis 18. August 2002 in der Kunsthalle Krems zu sehen. Als Katalog dazu ist erschienen:

Ernst Herbeck: die Vergangenheit ist klar vorbei. hrsg. v. Carl Aigner und Leo Navratil. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2002, 256 Seiten.

Freitag, 24. Mai 2002

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