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Warum der norwegische Autor Jon Fosse so erfolgreich ist

Fosse: Mit Worten und Sätzen musizieren

Von Lothar Lohs

Das Theater liegt im Fosse-Fieber. Die Epidemie mit den Stücken des Norwegers hat auch schon längst auf Österreich übergegriffen. Für die deutschsprachige Erstaufführung seines dritten Stücks "Der Name" zu den Salzburger Festspielen 2000 durch den Berliner Schaubühnenchef Thomas Ostermeier räumte er in Wien auf Anhieb den gerade neu geschaffenen Nestroy-Preis für das beste Stück der Saison ab.

Das war der Startschuss. Seither herrscht in den deutschsprachigen Theaterlanden eine unglaubliche Fosse-Hausse. Jedes neue Stück zieht ein Premierenfeuerwerk quer durch die Kulturmetropolen nach sich - so wie etwa "Traum im Herbst", den Yoshi Oida kürzlich im Akademietheater interpretierte. Heute Wien, München und Berlin, morgen Zürich, Hamburg und Frankfurt - und buchstäblich übermorgen schwappt die Fosse-Welle auch ins Volkstheater über, wo Georg Schmiedleitner Fosses "Da kommt noch wer" inszeniert (Premiere: 24. Februar).

Dabei sind die Theater hierzulande eher Nachzügler des weltweiten Fosse-Booms. Die ersten großen Erfolge außerhalb Skandinaviens feierte der Autor in Frankreich, mittlerweile aber werden die minimalistischen Familiendramen des Norwegers weltweit gespielt. Rund 100 Aufführungen gab es allein im letzten Jahr vom Iran über Japan bis Chile.

Jon Fosse wurde 1959 in Haugesund als Sohn eines Ladenbesitzers geboren. Dort, in der im Süden Norwegens gelegenen Küstenstadt, wuchs er auch auf und die Klänge bzw. Bilder seiner Jugend prägen bis heute sein Schreiben: Das Brausen des Hardangerfjords, der Blick aufs wolkenverhangene Meer, der permanente Regen, der heulende Wind und die Finsternis des Herbstes, wortkarge Menschen und einsame Häuser. Als Initialzündung für sein Schreiben erzählt er in allen Interviews das Erlebnis, das ihn fast das Leben gekostet hätte. Der Junge war sieben Jahre alt, als er mit einer Saftflasche, die er für seine Mutter holen sollte, auf einer Eisplatte neben dem Haus ausrutschte und sich am zersplitternden Glas die Pulsader aufschnitt. Während er zum Arzt gefahren wurde, war er sicher, sterben zu müssen, aber er hatte merkwürdigerweise keine Angst, er sah sich von außen als Todgeweihter, der das Haus und die in einem seltsamen Licht flirrende Landschaft nie mehr sehen würde. Das war das Ur-Erlebnis der Distanz, das ihn zum Schriftsteller prädestinierte.

Erstes Ziel: Geigenvirtuose

Doch zunächst verweigerte er sich seiner Bestimmung, er wollte Musiker werden. Das Ziel: Geigenvirtuose. Er übte wie besessen über sechs Stunden am Tag, spielte zudem Gitarre in einer Rockband. Doch mit 16 legte er die Instrumente von einem Tag auf den anderen weg, weil er spürte, dass sein Talent nicht ausreichte, um wirklich gut zu sein - und er wollte gut sein. Er begann, während er in Bergen, Norwegens Kulturhauptstadt, Vergleichende Literaturwissenschaft studierte und später als Dozent an der Akademie für Kreatives Schreiben arbeitete, zu schreiben, das heißt, Fosse begann mit Sprache Musik zu machen. Inzwischen hat der heute verheiratete Literaturstar (zwei Töchter und ein Sohn aus erster Ehe) rund zwanzig Bücher geschrieben: Romane, Kinderbücher, Essays und vier Sammelbände mit Lyrik. Für seine Verdienste um die norwegische Literatur hat ihn der Staat mit einem lebenslangen Stipendium belohnt.

Als Romancier eilte dem scheuen Autor der Ruf voraus, eine Art Thomas Bernhard des Nordens zu sein. Tatsächlich hatte er schon einige Bücher veröffentlicht, als er auf seinen Geistesverwandten aufmerksam gemacht wurde. Mit der einsetzenden Rezeption in Deutschland, mit den ersten Übersetzungen seiner Romane "Melancholie" sowie "Morgen und Abend", kann man diese Affinität nun auch nachvollziehen. Es ist dieselbe Musikalität der Sprache, die virtuose Dynamik einer raffiniert rythmisierten Sprache, die wie bei Bernhard den Leser in ihren Bann zieht.

Für die Bühne hat sich der momentan erfolgreichste Theaterautor Europas lange nicht interessiert. Ganz im Gegenteil, er machte keinen Hehl daraus, dass er das Theater, zumindest das norwegische, eigentlich hasse, weil das Ins-Theater-Gehen meistens zur Pause mit einer Flucht endete. Erst als mit dem Regisseur Kai Johnson ein moderner Wind am Theater in Bergen wehte, nahm Jon Fosse die Einladung zu einem Auftragsstück an. Der Meinungswechsel wurde wesentlich dadurch begünstigt, dass in der Familienkassa damals Ebbe herrschte und der Auftrag hervorragend honoriert war. So schrieb 1992 Jon Fosse, ohne sich groß um die Theaterregeln zu kümmern, sein erstes Stück "Da kommt noch wer", mehr oder weniger nach den Kompositionsgesetzen seiner Romane entwickelt.

Es funktionierte. Jon Fosse hatte neue Möglichkeiten seines Schreibens entdeckt, wieder eine andere Art, Musik zu machen. Er wurde süchtig nach dem neuen Genre und sieht sich seitdem primär als Dramatiker. 15 Stücke liegen mittlerweile insgesamt vor - und der Rest ist ein Siegeszug über die Bühnen der Welt. Doch was ist das Geheimnis dieses Erfolgs? Die Fabel der Stücke kann es nicht sein, sie bieten null Skandalpotenzial, keine Obszönitäten, keinen wüsten Sex und nicht den Blutsumpf und die Gewaltorgien, die mit der neuen englischen Dramatik etwa einer Sarah Kane unsere Theater überflutet haben. Diese Stücke entfalten die ganz normale, banale, biedere Beziehungs- bzw. Familienrealität: Man redet und lebt unscheinbar, aber konsequent aneinander vorbei. Die Inhaltsangabe seiner Stücke allein würde keinen Hund ins Theater locken: Ein junges Paar, das ein Baby erwartet, zieht zu ihrer Familie, er sucht nach ein paar Stunden das Weite ("Der Name"). Oder "Da kommt noch wer": Ein gesetzteres Paar will sich in ein Haus am Meer zurückziehen und wird vom Hausverkäufer gestört. Oder "Der Sohn", der seine Eltern besucht und überstürzt abreist.

Unterschiede zu Henrik Ibsen

Es sind Alltagsgeschichten, Paare, Beziehungen, gewöhnliche Menschen, Verlorene im Rennen um das Glück. Und da liegt auch der Unterschied zu Henrik Ibsen, als dessen Nachfolger Jon Fosse gerne gefeiert wird - mit der flotten Simplifizierung: Nach Ibsen war lange nichts, jetzt kommt Fosse. In den Stücken Ibsens wird stets Gericht gehalten über die Stützen der Gesellschaft, werden die Helden

der Ordnung schonungslos als Schwächlinge, Monster, Intriganten und Schufte demaskiert. Jon Fosse interessiert keine Entlarvung der Gesellschaft, seine Stücke und auch seine Romane spielen in der Kernzone der Realität, bei den einfachen Menschen draußen, da also, wo das Leben schief geht.

Und hier liegt die Ursache, warum Jon Fosses Stücke solch eine Faszination ausüben: Sie entfalten die Magie des Elementaren, sie nisten sich ein im Kraftfeld der Beziehungen dieser Menschen und verhandeln in einer neuen, puren, hochkonzentrierten Form die fundamentalen Dinge des Lebens: die Wünsche, die Liebe und den Tod. Dabei besteht die Sprache der Figuren aus leerem Gerede, Floskeln, Phrasen und Klischees. "Sie können sich nicht so recht ausdrücken", sagt Jon Fosse, "andererseits wollen sie es auch nicht. Außerdem weiß in Familiensituationen der eine schon immer, was der andere sagen will, noch bevor er es gesagt hat. Oft denke ich sogar, dass sich meine Figuren nur allzu gut kennen und jedes Wort verstehen und deshalb gar nicht so viel reden müssen, weil alles schon gesagt wurde."

Aber gerade dieser Mix aus Phrasen und Kommunikationsnot mit den für Fosse sehr wichtigen Pausen im Dialog, in denen das Unausgesprochene als möglicher Konfliktherd oder als Glutnest der Sehnsüchte glimmt, stattet die Figuren mit einer Aura des Geheimnisvollen aus, ein flirrendes Magnetfeld aus geheimen Wünschen, Stimmungen, Zwängen, schwarzen Löchern der Kommunikation, Beziehungslosigkeit und der Unmöglichkeit, den drängenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Die Sprache dieser Figuren ragt wie die Spitze des Eisbergs aus dem Meer ihres Leben. Was aber unter der Oberfläche liegt, weiß auch Fosse nicht: "Warum sollte ich dann das Stück schreiben? Immer wenn ich etwas Neues in Angriff nehme, habe ich das Gefühl, dass ich etwas zu sagen versuche, was ich vorher nicht geschafft habe. Das ist überhaupt die Hauptmotivation, die mich am Schreiben hält: Ich fühle, da ist etwas, das gesagt werden muss, und das versuche ich dann. Aber das lässt sich nicht auf eine simple Botschaft reduzieren. Derrida hat einmal gesagt, worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben. Das ist der Punkt. Es gibt keine beabsichtigten Geheimnisse in meinen Stücken. Ich stelle keine Rätsel auf. Ich sage alles, was ich weiß. Und wenn etwas in meinen Stücken versteckt ist, dann auf dieselbe Art wie im Leben, wo das, was wirklich zählt, auch versteckt ist."

Diese Magie des Elementaren auf der Bühne umzusetzen, ist die Herausforderung und die große Schwierigkeit, die das Theater mit Fosses Stücken hat. Man kann bislang auch von wenig gelungenen, aber um so mehr verhauten Fosse-Inszenierungen berichten. Und wenn die magische Mischung nicht getroffen wird, dann werden die Stücke des Norwegers ganz schnell platt, ein Banalitäten- und Phrasen-Morast, der das Theater in die Steinzeit des Naturalismus zurückfallen lässt. Das ist Thomas Ostermeier in Salzburg bei der Erstaufführung von "Der Name" passiert. Da kann dann der jüngere Jon Fosse plötzlich wirken wie der Urgroßvater von Franz-Xaver Kroetz.

"Meine Stücke beschreiben einfache Menschen in einer nicht ganz einfachen Welt", sagt Jon Fosse. Es handelt sich um das Einfache, das bekanntlich so unheimlich schwer zu machen ist.

Gerade ist eine erste deutschsprachige Auswahl der Dramen Jon Fosses unter dem Titel "Traum im Herbst und andere Stücke" im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen.

Freitag, 22. Februar 2002

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