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Vor 200 Jahren spazierte J. G. Seume von Leipzig nach Syrakus

Seume: "Keine Gnade, Gerechtigkeit"

Von Evelyne Polt-Heinzl

Am 6. Dezember 1801 bricht ein 38-jähriger Mann auf, um zu Fuß von Grimma bei Leipzig nach Syrakus zu wandern. Ein sympathisch absurdes Projekt, das man als originell ausgelebte Midlife-Crisis interpretieren könnte. Denn dem Mann, der sich hier auf den Weg macht, ist in seinem Leben nicht allzu viel geglückt. Kein Amt, keine Würden, eine unglückliche Liebe und als Lebensbilanz die Tatsache, dass er, ein glühender Verfechter liberaler Konzepte von Freiheit und Gerechtigkeit, als Soldat zweimal auf der falschen Seite gestanden ist: im amerikanischen Freiheitskampf auf Seiten der Engländer und in Polen auf Seiten der Russen.

Dennoch, Johann Gottfried Seume ist auch ein Mann, der sich emporgearbeitet hat. 1763 als Sohn einer verarmten Bauernfamilie geboren, gelingt es ihm nach äußerst verschlungenen Lebenswegen mit 30 Jahren sein Studium abzuschließen, 1797 wird er Lektor beim Göschen Verlag. Keine allzu ehrende Position, aber doch eine Absicherung, die ihm letztlich auch die große Fußreise 1801/1802 ermöglicht. Nach seiner Rückkehr unternimmt er eine zweite Reise in den Norden, bringt eine äußerst lesenswerte Aphorismensammlung heraus (aktuell leider nur im Rahmen der sehr teuren Werkausgabe erhältlich), und arbeitet an seiner nicht mehr vollendeten Autobiographie. Im Juni 1810 stirbt er während eines von Freunden finanzierten Kuraufenthalts in Teplitz.

Kritischer Tourist

Die frühe Erfahrung sozialer Not prägt Seumes politische Haltung, die als arrangierendes Konzept seiner Reisebeschreibung unterlegt ist. Denn, was formal der Konvention tagebuchartiger Briefe an einen Freund zu entsprechen scheint, ist in Wirklichkeit ein sorgfältiges Arrangement von Erlebnissen, Beobachtungen und Reflexionen. Seumes wacher Blick auf die Lebensrealität in den durchreisten Ländern verleiht seinem "Spaziergang nach Syrakus" noch heute die Qualität eines Handbuchs für kritischen Tourismus und hebt seine Aufzeichnungen aus der Flut der zeitgenössischen Reiseberichte heraus. Denn bei aller Singularität kann Seumes Gewaltmarsch seine zeittypischen Wurzeln nicht verleugnen.

Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war Reisen soziales Privileg des Feudaladels oder Zeichen der Deklassierung. In der geschlossenen Ständegesellschaft galt Mobilität als Stigma der unbehausten Bevölkerungsgruppen, die zumindest tendenziell unehrbar sind: betrügerisch wie die fahrenden Händler, unzuverlässig wie Gaukler, Schauspieler und Studenten, schmutzig wie Bettler und Landstreicher oder gefährlich wie Verbrecher und marodierende Soldaten. Nun beginnen bürgerliche Reisende die geographische Mobilität für sich zu erobern und sehen es dabei als Auftrag, von ihren Erlebnissen und Beobachtungen öffentlichen Bericht zu geben.

Der regelmäßige Rollwagenverkehr zwischen den Städten erleichterte das Reisen enorm und machte es, was Zeitbudget und Reiserisiken betrifft, berechenbar. Aber gerade diese neue Reisebequemlichkeit verweigert Seume. Er geht zu Fuß und stellt sich damit in die soziale Tradition der Unterprivilegierten. Sicher, Wandern ist auch die kostengünstigste Art zu reisen, aber Seume ist kein gezwungener, sondern ein bekennender Fußmarschierer, der mit der Art der Fortbewegung auch ein Lebenskonzept verbindet: "Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. . . . Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann Niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll . . ."

Wer zu Fuß geht, entwickelt ein anderes Zeit- und Raumgefühl und nimmt die bereisten Gegenden anders wahr. Die Größe einer Stadt lässt sich auch so angeben: "Dijon hat ungefähr eine Stunde im Umfange und rund um die Stadt einen ziemlich angenehmen Spaziergang."

Stoßgebet beim Aufbruch

Beim Aufbruch sendet Seume ein Stoßgebet zum Himmel, es mögen ihm "billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus" beschieden sein. Der Wirt als Betreiber eines offenen Kommunikationsortes und der Torschreiber als Staatsdiener, das sind die beiden Berufsgruppen, mit denen der Reisende notwendigerweise zu tun hat und aus deren Verhalten ein wacher Beobachter wie Seume viel über den Zustand der jeweiligen Region herauszulesen weiß. Das ist Seumes Qualität. Er beobachtet die Menschen und beschreibt daraus die gesellschaftlichen Zustände. Statistische Daten und Fakten benötigt er dazu nicht. "Um einen Fürsten zu sehen, braucht man nicht eben seine Schlösser zu besuchen, oder gar die Gnade zu genießen, ihm vorgestellt zu werden . . . Seine Städte und Dörfer und Wege und Brücken geben die beste Bekanntschaft."

Dass man vom Zustand der Wege auf die Qualität der Regierung schließen kann, zählt zu den Standardsätzen der zeitgenössischen Reiseliteratur. Aus dem Mund des Spaziergängers Seume enthält dieser Topos aber auch den Anspruch, die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung zum politischen Beurteilungskriterium zu machen. Den üblichen Sehenswürdigkeiten schenkt er nicht allzu viel Bedeutung.

Natürlich besteigt er den Äthna wie den Vesuv, besucht die römische Ausgrabungen und das Grab Vergils. Berichte über diese Art von Sightseeing fallen oft recht lapidar aus: "Ich lief eine Stunde in Pompeji herum und sah was die andern auch gesehen hatten . . . die Alten wohnten doch ziemlich enge." Immer wieder macht er sich über die Ehrfürchtigkeit und Besessenheit der "Antiquare" im Sammeln und Vermessen der Ruinen lustig. Seume ist keiner der sehnsüchtigen Arkadien-Sucher seiner Zeit, ihn interessieren die alltäglichen Einrichtungen. Brücken zum Beispiel, "das sind doch noch Triumphbogen, die Sinn haben".

Natürlich reist auch Seume nicht ohne Antikenbilder im Kopf und die Bukoliker Vergil und Theokrit - dessen Heimatstadt Syrakus das Ziel seiner Reise ist - trägt er stets bei sich. Zumindest bis Neapel folgt seine Reiseroute der konventionellen Bahn der nordischen Italien-Reisenden: Wien, Laibach, Triest, Venedig, Bologna, Ancona, Terni, Rom. Aber er gibt weder einen bildungsbeflissenen noch einen schwärmerischen Bericht seiner Reise, er beschreibt das Alltagsleben und die Landschaft. Als Bauernsohn versteht er in ihr zu lesen und kultiviertes Land ist ihm nicht nur ein erfreulicher Anblick, sondern vor allem Garant, dass den Menschen hier ein gedeihliches Leben sicher ist. Als er in einem Dorf bei Palermo die Menschen hungern sieht, vermag er seinen Unwillen kaum zu zügeln: "Ist das nicht eine Blasphemie in Sizilien, das ehemals eine Brotkammer für die Stadt Rom war? . . . Ich blickte fluchend rund um mich her über den reichen Boden, und hätte in diesem Augenblicke alle sizilischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können. Es ist heillos." Das ist weit entfernt von Schuldzuweisungen an die angeborene Neigung der Italiener zum "dolce far niente", die bei reisenden Nordländern sonst rasch zur Hand ist.

Schreibt Goethe über seine Ankunft in Rom im November 1786: "Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!", so sieht Seume in Rom mehr "die Kloake der Menschheit", wo "an einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger" sterben und fährt kommentarlos mit der Schilderung der pompösen Begräbnisfeierlichkeiten für Pabst Pius VI. fort. Seine Liebe zu Italien ist nicht kleiner als jene Goethes, nur gilt sie auch dem einfachen Volk.

Den Charakter der Italiener weiß er in vielen kleinen Begebenheiten mit leisen Strichen zu rühmen. Wenn er an das Porträt eines unfreundlichen sizilianischen Wirtes anfügt: "Der Mensch hatte die trotzige, murrsinnige Physiognomie der gedrückten Armut und des Mangels, der nicht seine Schuld war", so integriert er in die Personenbeschreibung sein Credo: "Was schlecht ist, kommt alles auf Rechnung der Regierung und Religionsverfassung."

Kritik an Staat und Kirche

Was Seume an der katholischen Kirche erbost, sind die lähmenden Auswirkungen des Aberglaubens und der Machtmissbrauch im Zusammenwirken von staatlicher und kirchlicher Autorität, denn "das Kreuz verhält sich zum Galgen, wie die Mönche zu den Soldaten: die ersten sind Instrumente und die zweiten Handlanger der geistlichen und weltlichen Despotie". Aktueller Hintergrund für Seumes Polemiken ist das Konkordat zwischen Napoleon und Papst Pius VII. von 1801, das alle Hoffnungen auf Beseitigung der Privilegien zunichte machte. Seume wird nicht müde, gegen die Ausbeutung des Volkes durch feudale Strukturen zu wettern und auch gegen jene "christlichen Tugenden", die er als

Herrschaftstechniken missbraucht sieht.

Die Demut etwa, "die zweideutigste aller Tugenden . . . Es ist freilich auch philosophisch besser, Unrecht leiden als Unrecht tun; aber es gibt ein Drittes, das vernünftiger und edler ist als beides: mit Mut und Kraft verhindern, dass durchaus kein Unrecht geschehe." Oder die Gnade, sie "verderbt alles, im Staate und in der Kirche. Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit; Gnade gehört bloß für Verbrecher."

"Makkaronenfraß"

Auch persönlich hat er unter dem massiven Katholizismus in Italien einiges zu leiden. An den zahlreichen katholischen Fasttagen ist er in den Herbergen immer wieder zum Mitfasten verurteilt, weil es nichts gibt außer "bestialischen Makkaronenfraß", an dem sich "jährlich in der Fastenzeit eine Menge Menschen . . . zu Tode kleistern".

Was kulinarische Tipps anlangt, ist Seumes Reisebericht generell eher mit Vorsicht zu genießen. Mit dem Wein zum Beispiel weiß der gelernte sächsische Biertrinker nicht viel anzufangen, nicht nur in Znaim, wo er zum ersten Mal Wein trinken muss, "weil der Göttertrank der Germanen" nicht zu finden war, auch in Italien spricht er ihm mehr aus Mangel an Alternativen zu.

Zu kulinarischen Experimenten dürfte Seume das Geld und auch die Zeit gefehlt haben, immerhin ist er im August 1802 schon wieder zurück in Leipzig, obwohl ihn der Rückweg über die Schweiz bis nach Paris führt. Die Länge seiner Tagesmärsche ist beeindruckend. Legt er einmal einige Tage Rast

ein, so primär um seine Stiefel

besohlen zu lassen. Erst in Pompeji gesteht er, dass seine Fuß-

sohlen "durch langen Gebrauch einige Hühneraugen gewonnen" haben.

19 Tage braucht er von Leipzig nach Wien, wo er sich zwei Wochen aufhält. Am 10. Jänner bricht er von Wien auf und gelangt "gemächlich" ausschreitend bis in ein Dorf nahe Wiener Neustadt. Den anderen Morgen geht's nach Schottwien, den dritten Tag bei dichtem Schneefall über den "Sömmering", der "kein Maulwurfshügel" ist. Im Schneetreiben verliert er wiederholt den Weg und gelangt trotzdem bis Mürzzuschlag. Am vierten Tag dann über Krieglach bis nach "Gräz", das ihm besonders wohl gefällt. Vielleicht auch deshalb, weil die Erleichterung groß ist, aus der düsteren Gegend herauszukommen, wo die Orte Namen tragen wie MürzZUSCHLAG und KRIEGlach.

Warnungen der Einheimischen vor Raub, Mord und Totschlag an unschuldigen Reisenden durchziehen Seumes Bericht wie ein roter Faden. Er vergisst nie, die Gräuelberichte ausführlich zu referieren um dann, alle Ängstlichkeit weit von sich weisend, unbeirrt durch die gefährlichsten Gegenden zu marschieren. Tatsächlich wird Seume nur einmal, in der Gegend von Neapel, Opfer eines versuchten Überfalls, der aber durch die nachkommende Kutsche vereitelt wird - denn der Fußgänger Seume bedient sich schon aus zeitlichen Gründen in Italien immer häufiger einer Kutsche, auf Sizilien zumindest eines Maultiers. Sein Zorn auf die Übeltäter bleibt zwar scheinbar unkommentiert stehen, unmittelbar darauf folgt aber eine ausführliche Passage über die drückende Not, die - unausgesprochen - grassierende Verbrechen als Folge staatlicher Misswirtschaft kenntlich macht.

Die Unsicherheit der durchwanderten Gegenden war zum Zeitpunkt von Seumes Spaziergang überdurchschnittlich groß. Die Napoleonischen Kriege hatten marodierende Soldaten, Verwüstungen und ungesicherte politische Verhältnisse zurückgelassen. Es ist eine unruhige Zeit, auch politisch. Seume sympathisiert mit den Zielen der Revolution, sieht die befreienden Effekte der französischen Besatzung und attestiert den Besatzern überwiegend korrektes Verhalten. Enttäuscht registriert er bei seinem Paris-Aufenthalt die Spuren der voranschreitenden Restauration.

Aus heutiger Sicht unterhaltsam ist die Veränderung nationaler wie regionaler Klischees im Abstand von 200 Jahren: Wer hätte gedacht, dass zu Seumes Zeiten die Kaffeehäuser in Laibach und Ancona weit besser sind als die in Wien, dass die Grazer im Durchschnitt etwas besser Deutsch sprechen als die Wiener, dass man in Italien unvergleichlich teurer lebt als in der billigen Schweiz und die Wege in "Östreich" merklich schlechter sind als in Böhmen und Mähren? Nur das Wiener Dezember-Wetter scheint unverändert: "Während der 14 Tage, die ich hier hausete, war nur einige Mal ein Stündchen reines, helles Wetter, aber nie einen ganzen Tag; und die Wiener klagen, dass dieses fast beständig so ist."

Seumes Fußreise über fast 6.000 Kilometer, quer durch ungesicherte, mitunter auch weglose Gegenden, ist eine "modern" anmutende Mischung von Abenteuerlust, physischer Grenzerfahrung, radikalem Aufbruch ins Ungewisse und Flucht aus der gewohnten Umwelt, in der nicht immer leicht Fuß zu fassen ist.

Seumes Obsession kann ansteckend sein. Friedrich Christian Delius schrieb 1995 die Geschichte eines DDR-Bürgers, der seinen "Spaziergang von Rostock nach Syrakus" sieben Jahre lang vorbereitet, bis ihm kurz vor der Wende die abenteuerliche Flucht im Segelboot tatsächlich gelingt.

Seumes "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" ist in preiswerten Taschenbuchausgaben sowohl im Deutschen Taschenbuch Verlag als auch im Insel Verlag erhältlich. Im Ascolto Verlag liegt zudem eine Hörbuch-Bearbeitung in fünf Toncassetten vor, Sprecher: Wolf Euba, Gesamtlaufzeit 450 Minuten.

Rechtzeitig zum Jubiläum legt die Edition Braus eine Fotoreise "Auf den Spuren von J. G. Seume" vor, die Friedhelm Volk unternommen hat (siehe Titelseite).

Im Internet findet sich unter http://www.seume.at das Reisetagebuch Volker Ruttes, der im August 2001 von Graz aufbrach und im Frühjahr 2002 Syrakus erreichen will. Der Seume-Fan Karl Wolfgang Biehusen hat unter http://www.seume.de eine sehr interessante Website zu Leben und Werk Seumes gestaltet. Die Reiseroute und ausgewählte Zitate zu einzelnen Städten (wie Wien) sind hier ebenso zusammengestellt wie Hinweise auf Literatur und Projekte zum Jubiläumsjahr von Seumes großer Fußreise. Im Radioprogramm Ö 1 gibt es am 22. Dezember um 17.05 Uhr ein "Diagonal - Zur Person", das dem Spaziergänger Seume gewidmet ist.

Freitag, 07. Dezember 2001

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