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Gert Ledig - ein fast vergessener Romancier der Nachkriegszeit

Ein gnadenloser Realist

Von Oliver Bentz

Er schrieb in den fünfziger Jahren die wohl radikalsten und schonungslosesten Prosawerke über die Gewaltsamkeit und Grausamkeit des Zweiten Weltkrieges und wurde gerade deshalb für vier Jahrzehnte nahezu gänzlich vergessen: Der 1999 verstorbene Autor Gert Ledig. In diesem Monat wäre er 80 Jahre alt geworden.

Nachdem Ledigs 1955 erschienener Erstling "Die Stalinorgel" bei der Kritik große Beachtung gefunden hatte und in 14 Sprachen übersetzt wurde, avancierte der Autor zu einer der großen Hoffnungen im Literaturbetrieb der fünfziger Jahre. Der PEN-Club umwarb den erfolgreichen Debütanten, Erich Kästner machte sich zu seinem Fürsprecher und die Gruppe 47 lud ihn zu ihren heute legendären Tagungen ein.

Doch im aufstrebenden Adenauer-Nachkriegsdeutschland war man zu sehr mit der Arbeit am Wirtschaftswunder beschäftigt und hatte kein Interesse daran, an das noch allzu nahe Grauen des Bombenkriegs in der Heimat, das Sterben von Frauen und Kindern erinnert zu werden. Der dauerhafte Publikumserfolg blieb aus und Ledigs literarisches Schaffen brach, nachdem er 1957 noch den Roman "Faustrecht" sowie 1958 das Hörspiel "Das Duell" veröffentlicht hatte, abrupt ab und der Autor fiel bis vor kurzem dem Vergessen anheim.

Erst in Folge der Diskussionen über die Thesen des in England lebenden Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers W. G. Sebald, der 1999 in seinem Buch "Luftkrieg und Literatur" das Versagen der deutschsprachigen Autoren vor der der Schilderung der Schrecken des Kriegsgeschehens in Deutschland beklagte, erinnerten sich einige Kritiker und Literaturwissenschaftler des vergessenen Autors. Volker Hage trieb Ledig in Utting am Ammersee auf, berichtete im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" über diesen Vergessenen, besorgte eine Neuauflage von "Vergeltung" und gab damit den Anstoß zur Wiederentdeckung dieses großen deutschen Nachkriegsschriftstellers.

Ledig, am 4. November 1921 als Sohn eines Kaufmanns in Leipzig geboren, wuchs zeitweise dort und zeitweise in Wien in schwierigen und ärmlichen Familienverhältnissen auf. Er war, so bekannte er später, nicht selten "mit Hunger vertraut" und musste nach Beendigung seiner Schulzeit 1936 als Hilfsarbeiter in einer Schokoladenfabrik und danach in einem Elektrobetrieb seinen Lebensunterhalt sichern. Während dieser Zeit spielte sich in seiner Familie ein Familiendrama ab, das für den jungen Mann zum lebenslang nachwirkenden Schockerlebnis werden sollte: der Doppelselbstmord seiner Mutter und Großmutter im Jahr 1938.

Ledig kam bei seinem Onkel unter, besuchte kurzzeitig eine Pädagogische Lehranstalt sowie eine Fachschule für Elektrotechnik und zog 1939 freiwillig in den Krieg. Für die Nazi-Ideologie zunächst aufgeschlossen, strebte er anfangs erfolgreich die Offizierslaufbahn an, entfernte sich aber - die nationalsozialistische Wirklichkeit erkennend - mehr und mehr von seinen

ursprünglichen Überzeugungen. Während des Russland-Feldzugs kritisierte er die Befehle seiner Vorgesetzten und wurde wegen "Hetzrede" in eine Strafkompanie versetzt. In dieser erlebte er die erbitterte Schlacht um Leningrad im Sommer 1942, während der er mehrmals verwundet wurde.

Mit verkrüppelter rechter Hand und zerstörtem Unterkiefer, der ihm lebenslang das Sprechen erschweren sollte, wurde Ledig als nicht mehr fronttauglich in die Heimat geschickt. Im Dienst der Kriegsmarine besuchte er deren Zulieferbetriebe und wurde dabei Zeuge der schweren Luftangriffe auf Deutschland, die bei ihm einen immer wiederkehrenden Albtraum hinterließen, von dem Ledig auch im Roman "Vergeltung" berichtet.

Nach Kriegsende konnte er sich nach München durchschlagen, wo er sich als geistig und räumlich Entwurzelter mittellos durch das chaotische Leben der zerbombten Stadt treiben ließ. Aus Enttäuschung über die politische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland wurde Ledig Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und spielte Anfang der fünfziger Jahre gar kurzzeitig mit dem Gedanken, nach Südamerika auszuwandern. Er ließ diesen jedoch fallen und wurde stattdessen Dolmetscher beim Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Österreich. Drei Jahre übte er diese Tätigkeit aus, bevor er sich 1953 in Salzburg als Ingenieur niederließ.

In dieser Zeit begann Ledig mit der Arbeit an seinem Roman "Die Stalinorgel", in dem er seine Fronterlebnisse als, so Volker Hage,

"puren Wahnsinn" und "absurdes Horrorspektakel" schilderte. Von den drei Romanen Ledigs ist jedoch "Vergeltung" sicherlich das beeindruckendste Werk. Es traf die an der Erfolgsgeschichte des so genannten Wirtschaftswunders arbeitenden Deutschen mitten ins Mark.

"Vergeltung" schildert eine Stunde und neun Minuten aus einem furchtbaren Fliegerangriff im Sommer 1944 auf eine deutsche Stadt. Er zeigt das Inferno des Leidens in der Luft, am Boden und in den Luftschutzkellern. Ledig reiht Schreckensbild an Schreckensbild, zeigt unzählige in der Hölle des Krieges umherirrende Menschen im Zustand auswegloser Verzweiflung. Seine Dialoge sind knapp und karg, oft streifen sie die dramatische Form. Der Autor beschreibt das Grauen mit der Leidenschaftslosigkeit eines Pathologen, der die Welt vor sich im Stadium ihrer Vernichtung seziert. Die vielen einzelnen Szenen kennzeichnet ein gnadenloser Realismus, ihnen vorangestellt sind zumeist kurze, kursiv gedruckte, sachlich-trocken formulierte Lebensläufe der agierenden Figuren oder auch Rückblenden, die der geschilderten Stunde ihre Vorgeschichte geben.

Nach dem kommerziellen Misserfolg von "Vergeltung" versuchte sich Ledig 1957 noch mit dem Roman "Faustrecht". Doch auch dieses schonungslose und unsentimentale Buch über die Nachkriegsjahre in Deutschland stieß bei seinen Zeitgenossen auf Ablehnung.

Um den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern, verfasste Ledig in der Folgezeit Ratgeberliteratur und technische Artikel, bevor er 1963 die Leitung eines Nachrichtenbüros in München übernahm. Mitte der sechziger Jahre wurde das Manuskript des Romans "Die Kanonen von Korcula" von mehreren Verlagen abgelehnt: Ledigs endgültiger Bruch mit der Literatur. Kritik, Öffentlichkeit und Literaturgeschichte begannen ihn zu vergessen und der ehemals erfolgreiche Autor "vergaß" seine schriftstellerische Vergangenheit. Die Renaissance seiner Werke nach über 40 Jahren hat Gert Ledig nicht mehr erlebt; er starb kurz vor der Wiederveröffentlichung von "Vergeltung" am 1. Juni 1999 in Landsberg am Lech.

Jetzt aber, nach fast einem halben Jahrhundert ist es für die nachgeborenen Leser höchste Zeit, diesen hervorragenden Schriftsteller und besonders seinen glänzend komponierten, in der deutschen Nachkriegsliteratur einzigartigen Roman "Vergeltung" wieder zu entdecken: Denn gerade dieses Buch zeigt den heutigen Konsumenten der hochästhetisierten Fernsehkriege was Krieg, wie man ihn auch zu legitimieren versucht, wirklich ist: Irrsinn und brutaler Mord.

Literaturhinweise: Gert Ledig: Vergeltung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999.

Gert Ledig: Die Stalinorgel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000.

Gert Ledig: Faustrecht. Piper Verlag, München 2001.

W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Hanser Verlag, München 1999.

Freitag, 30. November 2001

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