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Thomas Bernhards Nachlass wird in Gmunden erforscht

Bernhard, Thomas: "Tausende beschriebene Zettel"

Von Elisabeth Vera Rathenböck

In dem 1975 erschienenen Roman "Korrektur" fällt dem Freund des stets abwesenden mächtigen Protagonisten Roithamer nach dessen Selbstmord ein Erbe an "Tausenden von Roithamer beschriebenen Zetteln" zu und damit die Aufgabe, sich mit diesen "Schriften zu beschäftigen, dieses Schriftmaterial zu sichten und zu ordnen". In "Korrektur" wird dies zum Spießrutenlauf für den Ich-Erzähler, denn erzählt wird das Fallbeispiel eines Menschen, der, als er die Gedankengebäude eines anderen betritt, seine eigenen Konturen verliert.

Heute weist der Literaturwissenschaftler Martin Huber, der seit 1999 im Rahmen eines Forschungsprojekts des Bundesministeriums für Wissenschaft, Bildung und Kultur den Werknachlass Thomas Bernhards systematisiert und erschließt, darauf hin, dass der Vielschreiber Thomas Bernhard in "Korrektur" über den Umgang mit den Materialien eines Vielschreibers selbst schon früh nachgedacht hatte. Im Roman entleert der Ich-Erzähler, angesichts der im Hochgebirgsrucksack beförderten Roithamer-Schriften völlig überfordert, diesen auf dem Diwan der Höllerschen Dachkammer, nur um das Vermächtnis anschließend in eine Schublade zu stopfen. "Trotz dieses wenig fachgerechten Umgangs mit einem Nachlass gefällt sich Roithamers Freund an anderer Stelle im Gestus des Herausgebers einer historisch-kritischen Ausgabe und ist sich der Bedeutung der Gesamtheit der erhalten gebliebenen Materialien durchaus bewusst (. . .)", schreibt Huber in seinem Katalogbeitrag zur Ausstellung "Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlass".

Steigender Marktwert

Offensichtlich greift Martin Huber, selbst in einer ähnlichen Rolle wie der Roithamer-Freund, diese metaphorische Belastungsprobe heraus, um auf die Inszenierung derselben in der heimischen Wirklichkeit hinzuweisen: Seit dem Tod des Giganten Bernhard haben sich Emotionen nicht nur in Bezug auf die testamentarischen Verfügungen hochgeschaukelt; gleichsam als Antithese witterte man sofort steigenden Marktwert. Die heimische Wissenschaftler-Szene ist in Bewegung geraten. Immerhin hält Österreich ein unvergleichlich wertvolles, für die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts einzigartiges Gedächtnismaterial in Händen.

Die rechtmäßigen Erben und Verantwortlichen setzen gerade 2001, im Gedenkjahr anlässlich des 70. Geburtstags von Thomas Bernhard, deutliche Signale, um den Nachlass von privaten Interessen zu befreien und als "denkmalgeschütztes Kulturerbe" zu propagieren, allen voran Dr. Peter Fabjan.

Das Erbe Bernhards wurde unmittelbar nach seinem Tod vom Halbbruder Fabjan an einem Ort zusammengetragen. Manuskripte, Typoskripte, Korrespondenzen, Zeitungsausschnitt-Sammlungen und Fotografien waren bis dahin in Schubladen und Schachteln und in verschiedenen Wohnungen und Häusern Bernhards gelagert, zum Großteil aber in der Wiener Wohnung in der Döblinger Obkirchergasse (der Wohnung Hedwig Stavianiceks) und am Hof im oberösterreichischen Nathal nahe Ohlsdorf.

Die Materialien, mittlerweile in vier Werkgruppen aufgeteilt, waren ursprünglich nicht geordnet, allerdings stellt Martin Huber aufgrund seines Befunds z.B. für das veröffentlichte Werk fest, dass "Thomas Bernhard einen bedeutenden Teil aufgehoben hat, bzw. findet sich kein Hinweis darauf, dass er zu irgendeiner Zeit Materialien systematisch vernichtet hätte."

In der Hinterlassenschaft Thomas Bernhards ist auch der Subnachlass seines Großvaters mütterlicherseits, Johannes Freumbichler, enthalten. Für dessen Bearbeitung haben sich allerdings bislang keine Financiers gefunden. Der weitgehend erfolglose Schriftsteller Freumbichler gilt in der biografischen und werkgeschichtlichen Perspektive, die von Manfred Mittermayer erforscht wurde, als "Lebensmensch" Bernhards, der für alle scheiternden Künstlerfiguren im Werk seines Enkels das Modell geliefert hätte.

Dem Wunsch Bernhards folgend sind private Korrespondenzen und Familienfotos im Besitz von Susanne Kuhn, der Schwester Bernhards, verblieben. Die Hauptgruppe, der reine Werknachlass, wird auf rund 20.000 Blätter geschätzt, ein Teil besteht aus Vorstufen zum veröffentlichten Werk, ein zweiter aus unveröffentlichter Lyrik, die einen Schwerpunkt in Bernhards schriftstellerischen Anfängen in den fünfziger Jahren bildete.

Die Gedichte haben ihn auch später noch interessiert, da er viele von ihnen einer handschriftlichen "Korrektur" unterzog, als er sich schon lange von der Lyrik abgewandt hatte. Auch eine beträchtliche Anzahl unveröffentlichter Theaterstücke in Form von Kurzdramen, Entwürfe für Stücke, Romane und frühere Fassungen des veröffentlichten Werkes sind vorhanden bzw. zwei unvollendete Projekte. "Das Theaterstück ,Die Schwerhörigen' ist dabei im Unterschied zum letzten geplanten Roman ,Neufundland' schon relativ weit gediehen. Vom Roman gibt es außer einigen Entwurfsblättern nur den ersten und den letzten Satz", sagt Huber.

Bernhards Werk, seine Rezeption und Größe sind nicht von den Reaktionen der Öffentlichkeit zu trennen. Die Öffentlichkeit nahm sowohl an Prosawerken wie "Holzfällen" Anstoß, als auch an seinen Theaterstücken, wobei "Heldenplatz" bei der Uraufführung 1988 den wohl größten Skandal verursachte.

Im Schatten dieser Ereignisse wirkt der Versuch zum Jahresende 1974, Thomas Bernhard zum Burgtheater-Direktor zu machen, wie eine zynische Anekdote. Der damalige Generalsekretär des Österreichischen Bundestheaterverbandes, Robert Jungbluth, führte mit Bernhard bereits Gespräche über die Übernahme der Direktion, die Entscheidung fiel schlussendlich zu Gunsten von Achim Benning. "Bernhard verarbeitete diese Episode in dem im Typoskript vorliegenden Text ,Wie ich Burgtheaterdirektor werden sollte' ", so Huber. Erst in der Ära Claus Peymann wurden ja die Bernhard-Stücke zum fixen Programmpunkt im Spielplan des Wiener Burgtheaters.

Martin Huber gibt auch Auskunft über die Arbeitsweise Thomas Bernhards: "Geht man von der groben Einteilung der Autoren in Kopf- oder Papierarbeiter aus, so stellt man schnell fest, dass diese Schubladen nicht geeignet sind, Thomas Bernhard darin passgenau abzulegen."

Bernhards Arbeitsweise

Der Nachlass zeigt, dass der Autor in groben Konstruktionen und Entwürfen die Struktur eines Romans zwar festhielt, "die eigentliche Arbeit erfolgt erst in der Schreibpraxis, in (. . .) intensiven Arbeitsphasen über einige Wochen. (. . .) Auffallend oft nimmt eine der Episoden des Romans (,Frost') im Typoskript genau eine, bis an die Ränder voll beschriebene Seite ein; damit sich das auch ausgeht, verringert Bernhard immer wieder in den letzten Zeilen den Zeilenabstand von eineinhalbzeilig auf einzeilig und schreibt bis an den äußersten unteren Rand."

Die Seite wird durch die gesteigerte Intensität in der Schreibarbeit zur Zwischenetappe, in sich geschlossen bleibt sie aber ein Teil der gesamten Komposition, die musikalischen Prinzipien nicht unähnlich ist. Diese philosophische Haltung interpretiert Huber auch als Grundzug im gesamten Werk: "Wie frühe Gedichte zeigen, beginnt die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Familiengeschichte im Bernhardschen Werk natürlich nicht erst mit den autobiographischen Texten, und sie endet auch nicht dort. Vielmehr stellt sich Thomas Bernhards Schreiben dar als ein früh einsetzender und erst mit dem Tod endender, ununterbrochener Prozess der Selbstgewinnung, ein Prozess, in dem die veröffentlichten Werke tatsächlich nur Etappen eines viel längeren Wegs darstellen."

Ein Weg, der heute von den Verwaltern des Nachlasses, den Erben, Wissenschaftlern, Kulturpolitikern und Literaten fortgesetzt wird: Im Jahr 1999, also zehn Jahre nach dem Tod des Dichters, hatte sich Dr. Peter Fabjan entschlossen, die Hinterlassenschaft trotz einiger Angebote aus dem Ausland in die Österreichische Nationalbibliothek zu integrieren. Bis zum Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Urheberrechtsfrist von 70 Jahren, das wird im Jahr 2059 sein, soll das Material in Gmunden aufbewahrt bleiben. Erst dann wird das Vermächtnis der Nationalbibliothek übergeben. Zur dauerhaft gesicherten Betreuung des Nachlasses wurde eine Privatstiftung ins Leben gerufen, die in der wissenschaftlichen Erschließung eine ihrer wichtigsten Aufgaben sieht.

Die Stiftung hat ihren Sitz in der Blutgasse im 1. Bezirk in Wien und vertritt zudem die Angelegenheiten Dr. Fabjans, wie etwa die Bearbeitung von Aufführungsgenehmigungen, die Verwaltung der Liegenschaft Ohlsdorf und die Vermarktung der bestehenden Ausstellung "Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen".

Der Bund und die Länder Wien, Oberösterreich und Salzburg unterstützen die Tätigkeiten der Stiftung, wobei sich Oberösterreich auch von Bernhard selbst berufen fühlt, denn dieser hat sich mit dem Ankauf verschiedenster Häuser in gewissem Sinne immer wieder für das Land ob der Enns entschieden. Fabjan hätte mit seinem Entschluss diese Rolle Oberösterreichs bekräftigt, freute sich Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer, zugleich Kulturreferent des Landes Oberösterreich. Mit der Einrichtung des neuen "Thomas Bernhard Archivs" in Gmunden, also auf halber Strecke zwischen Wien und Salzburg, nützt Oberösterreich eine einmalige Chance: die dezentrale Unterbringung des Erbes eines Weltliteraten in einer neu geschaffenen Forschungsstätte mit einer offenen Einrichtung für das Schaffen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler zu verbinden. Eine Expertenkommission (darunter auch der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach) prüfte im vergangenen Jahr verschiedene Standorte in Gmunden. Man entschied sich für die im Landesbesitz befindliche Villa Wittgenstein-Stonborough, auch bekannt als "kleine Toscana-Villa". Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude wurde 1849 durch den "Freiherrn Christoph von Püttel, k. u. k. pensionierter Oberstleutnant in Ort" errichtet, befand sich später im Besitz der Familie des Großherzogs Leopold von Toskana und wurde 1913 an Margarete Stonborough, die Schwester von Ludwig Wittgenstein, verkauft.

Mitten in einem Landschaftsgarten aus dem 19. Jahrhundert am Ufer des Traunsees gelegen, besteht der Baukomplex aus einem zweigeschoßigen Hauptgebäude mit Walmdach, einem ebenfalls zweigeschoßigen Nebengebäude sowie einem eingeschoßigen Verbindungstrakt. Das repräsentative Haupthaus soll im Herbst, nach Abschluss der Sanierungsarbeiten, zur Gänze der "Thomas Bernhard Privatstiftung" für die Unterbringung des Nachlasses übergeben werden. Auch der Archivbetrieb wird in diesem Teil aufgenommen werden, für den wissenschaftlichen Bearbeiter steht eine Wohnung bereit.

Ateliers für Künstler

Im Nebengebäude wird im Parterre ein rund 80 m² großer Ausstellungs- bzw. Veranstaltungsbereich geschaffen, im darüberliegenden Stockwerk wird es ein bis zwei Atelierwohnungen geben, die von Stipendiaten aus den Sparten Literatur, Musik und bildende Kunst genützt werden können. In diesen Belangen will man auch mit der "Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft" kooperieren, die ihren Sitz in Salzburg hat und Büros in Udine und Paris betreibt. Diese Gesellschaft leistet vorrangig informelle Arbeiten zu Leben und Werk Bernhards. "Thomas Bernhard ist nicht nur für die Wissenschaft relevant, sondern auch für die Kunst. Gerade darum soll man zeitgenössischen Künstlern Aufenthalte an diesem Ort ermöglichen", meint die Germanistin Dr. Petra-Maria Dallinger, die als Sachbearbeiterin des Landes Oberösterreich zur Konzeption des Archivs wesentlich beigetragen hat.

Zum gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Stellenwert von Nachlässen und literarischen Archiven allgemein betonte Wendelin Schmidt-Dengler im Rahmen der Veranstaltung "Wenn die Mächtigen in ihren Staaten" im Februar im Stadttheater Gmunden, dass die Sicherung des kulturellen Erbes für mehr als einen musealen Zweck geschehen solle. Einerseits soll der Denkmalschutzgedanke, wie er für Gegenstände der bildenden Kunst längst etabliert ist, nun auch für die Literatur zum Tragen kommen, andererseits erwarte sich die Forschung eine Dynamisierung ihres Fachs.

Aber auch alle Unbeteiligten, jene, die Bernhard einfach nur lesen, dürfen sich freuen: Der Suhrkamp-Verlag plant eine historisch-kritische Leseausgabe der Werke.

"Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlass"; Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, herausgegeben von Martin Huber, Manfred Mittermayer, Peter Karlhuber; Sonderband in der Reihe "Literatur im StifterHaus", Linz 2001.

Freitag, 13. Juli 2001

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