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Johannes Mario Simmel über den Wahnsinn unserer Welt

Simmel, Johannes Mario: "Es gibt nur mehr Eiseskälte"

Von Ernst Grabovszki

Wiener Zeitung: Herr Simmel, Sie sind jemand, der sich in gesellschaftliche und politische Belange einmischt. Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Literatur etwas bewirken konnten?

Johannes Mario Simmel: Sehr viel und nach einem langen Leben doch wenig. Ich habe mit einem Buch über geistig behinderte Kinder, das ich im Auftrag des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie geschrieben habe, erreicht, dass diese Kinder in geschützten Werkstätten arbeiten können. Damit fiel die Angst der Eltern weg, die sich gesorgt hatten, was aus ihren Kindern würde, wenn sie selbst einmal tot sind. Ich wurde gefragt, ob ich mir zutrauen würde, den Menschen ein anderes Empfinden diesen Kindern gegenüber beizubringen, denn die einen schauten angeekelt hin, die anderen angeekelt weg. Daraufhin habe ich ein dreiviertel Jahr in einem Heim am Starnberger See gelebt. In dem Buch klage ich unter anderem alle Staaten der Welt dafür an, dass sie zu wenig, insbesondere finanziell, für diese Kinder tun. Plötzlich, nach diesem Buch, waren finanzielle Mittel da. Oder ich habe einen Euthanasieverbrecher ausfindig gemacht und vor Gericht gebracht. Er war in Untersuchungshaft in Frankfurt gekommen. Freunde holten ihn da wieder raus und brachten ihn über Österreich und Italien in den Vatikan, wo ihm ein Bischof falsche Papiere besorgte. Gefasst wurde er nicht.

Schließlich habe ich erreicht, dass eine unbeschreiblich grauenhafte Kinderkrebsklinik in Düsseldorf abgerissen und stattdessen eine neue gebaut wurde. Man kann eine ganze Menge bewirken, vor allem auch politisch. Wenn man ein Leben lang schreibt und nicht aufgibt, kann man manches zu Wege bringen. Der Verlag C. H. Beck wollte aufgrund dessen meine Reden, Predigten und Aufsätze, die alle politisch sind, publizieren. In Deutschland habe ich mit Iris Berben aus meinem neuen Buch "Die Bienen sind verrückt geworden" gelesen.

Wir hatten ein sehr enthusiastisch-berührtes Publikum und waren überwältigt von der Zustimmung. Der Verlag hatte also recht, als er vorschlug, all die Dinge, die ich geschrieben und gesprochen habe, herauszubringen. Ich habe ein gutes Gefühl dabei.

W. Z.: Welche Aufgaben hat Literatur heutzutage?

Simmel: Aufklärung! Aufklärung im politischen und im wissenschaftlichen Sinn.

W. Z.: "Reden und Aufsätze über unsere wahnsinnige Welt" lautet der Untertitel Ihres neuen Buches. Was ist das Wahnsinnige in unserer Welt?

Simmel: Alles. Wenn Sie in die Politik schauen, haben Sie das Gefühl, es mit schwerstkriminellen Psychopathen zu tun zu haben, die da überall herumlaufen, gerade in der letzten Zeit, in der ein durch und durch verrotteter Kommunismus endlich zusammengebrochen ist, der ja mal eine Menschheitsidee gewesen ist. Wenn ich 1918/19 auf der Welt gewesen wäre, wäre ich wie viele der größten Geister der Menschheit Kommunist geworden, bei den Schauprozessen allerdings gleich wieder ausgetreten. Das kommt davon, wenn so etwas in die Hände von Ideologen gerät.

Da der Kommunismus nun fehlt, kann sich der Kapitalismus ohne jede Hemmung breit machen, und dann passieren solche Dinge wie die Global Players. Oder ich höre von Unternehmensfusionen, die es möglich machen, 50.000 Arbeiter "freizusetzen". Daraufhin schnellt der Kurs der Aktien sofort in die Höhe. Ich habe das Empfinden, dass es nur mehr eine Eiseskälte zwischen den Menschen gibt. Ich will gar nicht von Liebe reden, aber von Nächstenliebe ist keine Spur mehr vorhanden. Es herrscht wirklich eine Ich-Bezogenheit, wie sie noch nie da war, die zu einer Katastrophe führen muss. Das internationale Militär beispielsweise beobachtet jede Art von Forschung dahingehend, ob man sie für einen Krieg verwenden kann. Auf diese Weise wurde der Computer für den Vietnamkrieg entdeckt. Alles, was machbar ist, muss gemacht werden. In dem Augenblick, in dem das Militär merkt, man könnte einen neue Entwicklung für sich nutzen, wird das mit größten finanziellen Mitteln unterstützt. Oder denken Sie an die Entschlüsselung des menschlichen Genoms: Man wird Menschen züchten können, die genau das glauben, worauf sie programmiert sind. Wenn das nicht verrückt ist, dann weiß ich nicht.

Wir sagen immer noch "die Dritte Welt". Wer ist denn die Erste und wer die Zweite Welt? In dieser Dritten Welt sterben an einem Tag 40.000 Kinder - wenn das das Beste ist, was der globale Kapitalismus hervorbringen will, dann macht mich das traurig. Das ist einer der Gründe, weshalb dieses Buch geschrieben wurde.

W. Z.: Gibt es in diesem ganzen Wahnsinn eigentlich noch Positives?

Simmel: Ja, wenn es gelänge, nicht alles auf die Zerstörung, die Beherrschung oder Vermehrung des Reichtums anzulegen, sondern an eine menschliche Welt zu denken. Dann wären all diese Dinge in wunderbare Hilfsmittel zu verwandeln. Aber das tut niemand.

W. Z.: Sie haben 1946 Ihren ersten Vertrag beim Paul Zsolnay Verlag unterschrieben. Wie war denn Ihr Einstieg in die Literatur, und wie haben Sie Wien zu dieser Zeit erlebt?

Simmel: Ich war während des Krieges auch in Wien. Mein Vater war Jude und konnte unter abenteuerlichen Umständen flüchten. Er ist in England am 4. Jänner 1945 gestorben, ich habe ihn nie wieder gesehen. Seine ganze Familie wurde ermordet, übrig blieben meine Mutter, meine Schwester und ich.

Ich bin in der Schulgasse ins Realgymnasium gegangen. Nach der vierten Klasse besuchte ich die Staatslehr- und Versuchsanstalt für Chemie in der Rosensteingasse, deren Unterrichtsschwerpunkte auf Mathematik, Physik und Chemie lagen. Ich bekam schließlich ein Diplom als Chemoingenieur. Die Nazis haben dringend Chemiker gebraucht. Gleich darauf habe ich bei Kapsch im Hintertrakt eines Wohnhauses gearbeitet - alle Forschungsstätten waren ausgelagert oder unter die Erde verlegt worden. Wir sollten etwas entwickeln, was auf chemischer Basis in kurzer Zeit große Strommengen abgibt, Batterien, so groß wie eine Zündholzschachtel. Mein Chef kam aber dahinter, dass die für die ersten V1- und V2-Raketen dienen sollten, die immer vom Kurs abkamen und auf Kindergärten und Schulen fielen.

Mit Fernzündung konnte man diese Raketen wieder auf Kurs bringen. Wir haben das also nie hergestellt, und dann kamen Gott sei Dank die Amerikaner und haben das Werk zerstört. In diesen Nächten habe ich einen Novellenband geschrieben, "Begegnung im Nebel", der sofort nach Kriegsende bei Zsolnay erschien. Paul Zsolnay selbst war zu dieser Zeit noch in England. Zsolnay war vorher ein arisierter Verlag gewesen, der Ariseur hatte Bischoff geheißen. Ich bekam einen Normvertrag, auf dem das "Bischoff" und das Hakenkreuz ausgestrichen war.

W. Z.: Ihr zweites Buch erschien bald darauf.

Simmel: Das zweite Buch kam heraus, als ich Dolmetsch bei den Amerikanern war. Das Labor war ja kaputt, und ich musste meine kleine Familie ernähren. Wir wollten zurück nach England, wo wir vorher waren. Ich wurde also Dolmetsch der berühmten Vier im Jeep. Die Amerikaner haben mir eine Schreibmaschine und Papier geschenkt, im Hinterzimmer der Station habe ich meinen ersten Roman "Mich wundert, dass ich so fröhlich bin" geschrieben. Durch meine Tätigkeit hatte ich Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen als Freunde, später Leute wie Qualtinger und Louise Martini. Wir saßen nächtelang zusammen, die einen brachten was zu essen, die anderen die neuesten Bücher und Schallplatten. Es waren die wunderbarsten Jahre meines Lebens, wir alle waren glücklich, dass wir überlebt hatten. Wir sind aber einem tragischen Irrtum zum Opfer gefallen: Wir glaubten, dass die Pest des Nationalsozialismus ausgerottet sei. Dieser Fehler hat sich bei mir zu einem schweren Trauma entwickelt. In meinem neuen Buch ist auch von Österreich die Rede, sehr viel von Deutschland und internationalen Angelegenheiten. Dass das nach 50 Jahren wieder kommt, dass dieser Schoß, wie Brecht sagt, noch so grauenhaft fruchtbar ist, hat mich wahnsinnig erschüttert, wenn ich daran denke, wie glücklich ich im Wien des Hungers, der Kälte und der Ratten gewesen bin. Denn damals haben wir gesagt, wir machen eine schönere, bessere, gerechtere Welt.

Dann kam die Spaltung in Berlin, danach Korea, und damit war unser Paradies schon wieder zu Ende. Manche haben resigniert, manche haben sich versoffen, manche das Leben genommen. Ich bin am Leben geblieben und habe geschrieben, bin als Journalist in die ganze Welt geschickt worden und habe so viel Unrecht, Gemeinheit und Niedertracht gesehen - ich hatte gedacht, man müsse so schön schreiben wie Rimbaud, Verlaine und Rilke zusammen. Als ich zurückkam, wusste ich, dass das nicht die richtige Art ist, zu schreiben. Man muss den Leuten erzählen, was geschehen ist, verpackt in Romane. Ich habe das betrieben, was Norman Mailer "faction" genannt hat, eine Mischung aus Fiktion und Fakten, und das tue ich bis heute. Was in dem neuen Buch steht, findet sich in allen meinen Büchern, hier ist es sozusagen pur. Ich habe sogar von Kirchenkanzeln gepredigt, nachher musste die Kirche wieder geweiht werden.

W. Z.: Was macht die Politik falsch oder was läuft in einer Gesellschaft schief, dass Faschismus und Nazismus überleben konnten?

Simmel: Ich glaube, es gibt drei Gründe: Die meisten Politiker haben bei vielen Gelegenheiten alles falsch gemacht. Aber wir haben sie gewählt, im Vertrauen darauf, dass sie ihre Arbeit richtig machen. Mein Freund Ulrich Horstmann, ein Philosoph, meint, dass wir Menschen so entsetzliche Irrläufer der Evolution sind, dass wir tief in uns das Gefühl haben, wir gehören weg. Krieg, Mord, Folter sind demnach Bestrebungen, immer weniger von uns übrig zu lassen. Mit den Arsenalen der ABC-Waffen funktioniert das mittlerweile flächendeckend.

Der dritte Grund, den ich mir überlegt habe, weil ich doch einmal Chemiker war: Jeder Mensch hat ein Immunsystem, doch alle denkbaren Krankheiten in sich. Glücklicherweise schützt uns das Immunsystem davor, dass diese Krankheiten ausbrechen - nicht immer, aber sehr häufig. Nach dem Krieg ist ein Buch in der Schweiz erschienen, das hieß "Hitler in uns". Die Anlage zu einem Hitler haben wir alle, durch das "humane Immunsystem", wie ich das nenne, wird dieser Hitler aber unterdrückt und kommt nicht zum Ausbruch. Dieses Immunsystem ist jedoch seit langer Zeit defekt, immer mehr Menschen fallen der Perversion des Neonazismus zum Opfer und werden Täter.

W. Z.: In Ihrem Buch taucht auch der Begriff "Deutsche Leitkultur" auf. Inwiefern ist dieser Begriff gefährlich?

Simmel: Der Begriff stammt von einem CDU-Politiker. Ich fand ihn so ungeheuerlich, dass ich mich damit beschäftigt habe. Die Idee dahinter hatten wir schon einmal: Die Deutschen unter den Nazis sahen sich als Herrenmenschen, alle anderen, vor allem die Juden, waren Untermenschen. Die Idee einer Leitkultur ist deshalb so ungeheuerlich gewesen und wurde auch von der CDU verdammt, weil sich Deutschland mit seiner Kultur vordrängt, die es als die richtige propagiert: Wer zu uns kommt, hat sich anzupassen. Ich war auf dem Heldenplatz, damals, als Hitler einmarschierte. Eines konnte ich mir in meinen ärgsten Alpträumen nicht vorstellen: Dass es möglich ist, dass ähnliche Ideen nach knapp 50 Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass Neonazis Ausländer totschlagen, Synagogen anzünden und durchs Brandenburger Tor marschieren - mit Erlaubnis und von der Polizei geschützt. Neben meiner Schule war eine Synagoge. Eines Tages gab es einen wahnsinnigen Krach, dass es unsere Pulte und Bänke hochhob. Wir liefen raus, und noch nach Stunden kamen, wie schwarzer Regen, die Ascheteilchen der heiligen Bücher herunter. 1999 war ich in Lübeck, und dort brannte ebenfalls eine Synagoge.

W. Z.: Wie ist denn Ihre Beziehung zu Wien heute?

Simmel: Ich bin überfragt. Ich bin ständig in Deutschland, weil mein Verlag in München ist. In Wien bin ich selten. Ich verfolge viel über das Fernsehen und bin nicht glücklich über die schwarz-blaue Regierung. Ich möchte nichts sagen, was ungerecht ist, aber dass es hier Antisemitismus gegeben hat, seit Lueger und vor Lueger durch die Kirche, ist bekannt. Mitte der neunziger Jahre habe ich einen dreijährigen Prozess gegen Jörg Haider geführt und schließlich gewonnen.

Sein Anwalt war Herr Böhmdorfer, der ja jetzt Justizminister ist. Mehr kann ich kaum über Österreich sagen. Es ist wunderbar hier zu sein, ein wunderbares Land. In Deutschland gibt es ja zurzeit eine weitere Idiotenkampagne: Man hat zu sagen: "Ich bin stolz, Deutscher zu sein." Ich nehme an, dass die Wiener sich darüber totlachen, dass die ganze Welt sich darüber totlacht. Aber ich nehme an, das gehört zur Leitkultur. Ich könnte bestenfalls sagen, dass ich auf deutsche Wissenschaftler oder Denker stolz bin, auf die deutschen Klassiker oder die Musik.

Johannes Mario Simmel: Die Bienen sind verrückt geworden. Reden und Aufsätze über unsere wahnsinnige Welt. München, C. H. Beck 2001, 216 Seiten.

Freitag, 01. Juni 2001

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