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Robert Merle, Grandseigneur des historischen Romans

Mit Feder und Degen

Von Kurt Lhotzky und Andrea Traxler

Seit 1977 hat Robert Merle über fünf Millionen Leserinnen und Leser durch das Frankreich der Jahre 1547 bis 1631 geführt. Mit seinem Protagonisten Pierre de Siorac, einem jungen Adeligen aus dem Perigord, und später dessen Sohn Pierre-Emmanuel, wurden sie Zeugen der furchtbaren Religionskriege, der Spaltung des Landes in Hugenotten und Katholiken; sie erlebten den Aufstieg des "guten Königs" Henri IV. ebenso mit wie den Versuch der Fanatiker der katholischen Liga, in der Bartholomäusnacht des Jahres 1572 die Herätiker vom Erdboden zu vertilgen. Die Ermordung von Henri IV., die unglückliche Kindheit und Jugend des Thronfolgers Ludwig XIII. und die Herrschaft der Medicis, der Sturz der "italienischen" Kamarilla und das Neuauflodern des religiösen Hasses, die einjährige Belagerung von La Rochelle - das ist der große historische Bogen, den der heute 93-jährige Gentleman, der in einem Herrenhaus in Grosrouvre in der Nähe von Paris residiert, mit seinem Zyklus "Fortune de France" gespannt hat.

Fünf Millionen Leser eines historischen Romanzyklus? Ein Bestsellerautor in Sachen Geschichte? Im deutschen Sprachraum machen solche Angaben zumeist skeptisch, und die Nasen der professionellen Kritiker sind schnell gerümpft. Gilt es doch immer noch in manchen literarischen Kreisen als "unfein" bis trivial, wenn Autoren Großauflagen erreichen und das "breite Publikum" begeistern.

Algerische Wurzeln

Der Anglist und emeritierte Hochschulprofessor in Nanterre Robert Merle hat den Beweis erbracht, dass es möglich ist, nicht nur hervorragend recherchierte historische Romane zu schreiben, die unterhaltsam und spannend sind, sondern Lesern auch eine weitere Dimension der Historizität zu öffnen.

Als er 1971 mit der Arbeit an "Fortune de France" begann, war sich Merle der Verkäuflichkeit des Manuskripts alles andere als sicher. Denn mit unerhörter Akribie verfasste er den Roman in exakt jener Sprache, wie sie im Frankreich des 16. Jahrhunderts gesprochen und geschrieben wurde. In Zweifelsfällen zog er Fachwörterbücher zu Rate, in denen die erste dokumentierte Erwähnung einzelner Ausdrücke verzeichnet ist - und schuf so einen Roman, der frei von Anachronismen ist. Zudem war das Französisch jener Epoche noch alles andere als vereinheitlicht - also sprechen die Menschen aus dem Perigord mitunter in einer Mischung aus Hochfranzösisch und Okzitanisch.

Würden die Leser die Mühe der Lektüre eines solch "archaischen" Textes auf sich nehmen? Der Verleger ermutigte Merle, das Manuskript zu beenden - und das Publikum reagierte so begeistert, dass "Fortune de France" im Lauf der Jahre elf weitere Bände folgten. Der zwölfte, "Complots et Cabales", wurde Anfang März in Frankreich ausgeliefert.

Der "Fortune de France"-Zyklus sollte jedoch nicht den Blick auf das Gesamtwerk des Wissenschafters und Autors Robert Merle verstellen, das in seiner Vielfalt erstaunlich ist und zugleich Zeugnis von der intellektuellen Offenheit Merles ablegt.

Geboren wurde Robert Merle am 29. August 1908 im südalgerischen Tebessa, wo sein Vater als Gerichtsdolmetsch für Arabisch tätig war. Die Bibliothek des Vaters, der 1916 während des Weltkrieges fiel, öffnete Robert schon als Kind die Tür zur Welt der Literatur. Die Entscheidung der Mutter, nach Paris zu übersiedeln, ermöglichte dem Sohn den Besuch einer hervorragenden Schule und das Studium der Philosophie an der Sorbonne.

"Wie anziehend ist doch die Philosophie, wenn man im Alter von zwanzig Jahren glaubt, durch sie alle Geheimnisse der Dinge erkennen zu können, und vor allem zu verstehen, warum alles so ist wie es ist und nicht anders", meint Robert Merle in einer autobiographischen Skizze nicht ohne feine Selbstironie.

Ein Aufenthalt in London erweitert den literarischen Horizont des jungen Mannes, und "nicht ohne Mühe, aber mit wachsender Bewunderung" studiert er das Gesamtwerk Shakespeares. Nachdem Merle erfolgreich seine Licence in Philosophie erworben hat, nimmt er seine Doktorarbeit in Angriff - über Oscar Wilde. "Mein Lebensplan war vorgezeichnet: Meine Dissertation abgeschlossen und angenommen, würde ich Universitätsprofessor für englische Literatur werden, und dank der Freizeit, die das Unterrichten bietet, würde ich Romane schreiben."

Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Robert Merle will sich als Dolmetsch der britischen Armee anschließen - aber der Vorstoß der deutschen Panzerverbände auf Dünkirchen und der Rückzug der Briten vereiteln diesen Plan.

Als Kriegsgefangener kommt er in das Stalag VI D in Dortmund und muss dort in einer Fabrik arbeiten. Am Abend lernt er, mit heimlicher Unterstützung eines nazifeindlichen Arbeiters und einer Arbeiterin, die ihn gern hat, Deutsch. Diesmal treibt ihn nicht literarisches Verlangen, sondern der Plan, aus dem Stalag zu flüchten. An der belgischen Grenze endet aber die Flucht, und so verbringt Merle zwei weitere Jahre im Stalag VI D, bis er endlich im Juli 1943 repatriiert wird.

Mit seiner Mutter und seiner Tochter Zabeth übersiedelt er aus dem "traurigen und ausgehungerten Paris" auf einen Bauernhof in Lot-et-Garonne. Dort schreibt er seinen ersten Roman, "Week-end à Zuydcoote", für den er 1949 einen der angesehensten Literaturpreise Frankreichs, den "Prix Goncourt", erhält. Die Verarbeitung der Ereignisse von Dünkirchen löst in der Küstenstadt selbst übrigens einen tragikomischen "Kulturkampf" aus: Während der katholische Pfarrer das Buch als Pornographie attackiert und sogar öffentlich verbrennt, verbreitet ein freidenkerischer Bäcker "Week-end à Zuydcoote" unter der Hand - und es geht am Schauplatz des Geschehens weg wie warme Semmeln.

Die Einkünfte aus dem preisgekrönten Werk ermöglichen es Robert Merle, seine familiären Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und zwei Jahre Karenz zu nehmen. In diesen 24 Monaten entsteht "La mort est mon metier" ("Der Tod ist mein Beruf"), die Geschichte des Lagerkommandanten von Auschwitz, der nicht als Psychopath und Blutsäufer porträtiert wird, sondern als banaler Durchschnittsmensch, der seinem schrecklichen Beruf mit der Akribie eines Buchhalters nachgeht. Wie bei allen seinen Romanen recherchiert Merle auch hier akribisch und studiert in extenso die Prozessakten gegen Rudolf Höß.

Ergebnis seiner "angestammten" akademischen Tätigkeit ist die 1955 veröffentlichte Studie "Oscar Wilde ou la 'destinée' de l'homosexuel". Neben Lehr-, Forschungs- und Recherchiertätigkeit für seinen nächsten Roman findet der rührige Professor auch noch Zeit für seine dritte große literarische Liebe - er schreibt Dramen und Einakter.

Mit "L'ile" erscheint 1962 ein historischer Abenteuer-Ideenroman an dem Merle seit 1956 intensiv gearbeitet hat. Die Handlung orientiert sich an der legendären Meuterei auf der "Bounty" und behandelt das Schicksal einer Gruppe von neun englischen Meuterern, sechs Tahitianern und zwölf Frauen, die auf der menschenleeren Pazifik-Insel Pitcairn stranden. Die Konstellation der "Neokolonisten" birgt ethnischen, sexuellen und moralischen Zündstoff, der zu einer apartheidähnlichen Trennung zwischen Engländern und Tahitianern, zu Mord und "Bürgerkrieg" führt. Zwischen den Fronten steht der Matrose Purcell, dessen Toleranz und Pazifismus ihn letztlich beiden Seiten suspekt macht.

1962 geht der Algerienkrieg zu Ende. In Frankreich bomben die Radikalen der OAS, die sich mit dem "Verrat" an Französisch-Algerien nicht abfinden wollen, gegen die Regierung de Gaulle gleichermaßen wie gegen Linksintellektuelle, die die Entkolonialisierung unterstützt haben. Da an der Universität von Algier eine Anglistikprofessur vakant ist und die französische Regierung als Zeichen des guten Willens gegenüber dem unabhängigen Algerien Kulturprojekte fördert, geht Robert Merle in sein Geburtsland zurück. Während die pieds-noirs, die Algerienfranzosen, das Land verlassen und sich hauptsächlich in Südfrankreich ansiedeln, geht der Schriftsteller den umgekehrten Weg.

Wie er uns bei der Begegnung in seinem Haus in Grosrouvre mit freundlicher Ironie erzählt, waren die Bedingungen jedoch keineswegs ideal. In der französischen Botschaft in Algier gab es immer noch genug Opposition gegen den Friedensschluss. Für ihn äußerte sich das darin, dass weder nach dem ersten noch dem zweiten noch dem dritten Monat seiner Lehrtätigkeit auch nur ein Francs seines Gehalts von der Botschaft überwiesen worden war. "Also bin ich zum Botschafter gegangen und habe ihm erklärt, dass ich auf Grund der Tantiemen meiner Bücher jahrelang unterrichten könnte, ohne auf sein Geld angewiesen zu sein. Ich würde mir jedoch die Freiheit nehmen, in einer Pariser Tageszeitung einen Artikel über den Vorfall zu veröffentlichen." Am nächsten Tag erhielt Merle seinen Scheck.

Die materielle Unabhängigkeit war auch eine der Trumpfkarten Merles, als er 1965 vom damals linksliberalen Wochenmagazin "L'Express" nach Kuba geschickt wurde, um über die Revolution zu berichten. Robert Merle hatte aus seiner Sympathie für die Dritte Welt und die Kolonialrevolutionen nie ein Hehl gemacht. So war es für ihn selbstverständlich, die reizvolle Aufgabe anzunehmen, bot sich ihm doch die Möglichkeit, die wichtigsten Revolutionsführer, inklusive Fidel Castro, persönlich kennen zu lernen. "L'Express" weigerte sich allerdings, den Artikel zu veröffentlichen - er war zu "castristisch". "Ich habe es als Ungerechtigkeit und Arroganz der US-Regierung empfunden, eine Blockade gegen Kuba zu verhängen. Für die USA war Kuba lange Zeit weniger als eine Kolonie - es war Spielkasino und Bordell. Es ist doch ganz klar, dass man das verurteilen muss", sagt Merle noch heute.

Als Produkt der Reise nach Kuba erschien 1965 eine Studie über die Attacke auf die Moncada-Garnison in Havanna 1953 - "Fidel Castros erster Kampf". Und 1967 veröffentlichte Merle gemeinsam mit seiner Frau Magali im Maspéro-Verlag die französische Übersetzung von Che Guevaras "Erinnerungen an den Revolutionskrieg".

Anfang der 60er Jahre dehnte sich Paris immer weiter aus, die Metropole sog die umliegenden Orte auf, transformierte und integrierte sie. Die Sorbonne lagerte einen Teil ihrer geisteswissenschaftlichen Fakultäten aus - nach Nanterre. Aber die neugeschaffene Studentenstadt, abgeschnitten von jeder Urbanität, einer rigorosen Hausordnung unterworfen (so gab es strikte Geschlechtertrennung in allen Bereichen) und durch bürokratische Fehlentscheidungen der Alptraum der Studenten, wurde zum gärenden und brodelnden Schmelztiegel der gesamten Unzufriedenheit der studierenden Jugend mit den Unzulänglichkeiten des starren Universitätsbetriebs.

Verständnis für Revolutionäre

Robert Merle, der in Nanterre unterrichtete, als die Studentenbewegung am 22. März 1968 mit der Besetzung des Verwaltungsturms und des Professoren-Konferenzsaals begann, hat diesen einen Tag, der die französische Geschichte der letzten Jahrzehnte maßgeblich beeinflusste, in seinem Roman "Derrière la vitre" voller Dramatik beschrieben. Was dem Roman mit seinen wechselnden Perspektiven sehr zu Gute kam: Merle hatte zu seinen Studenten ein dermaßen enges Vertrauensverhältnis aufbauen können, dass sie ihm so viel von ihren Sorgen und Nöten erzählten, dass er sowohl ihre Sicht der Ereignisse wie jene der Professoren und des Mittelbaus glaubwürdig beschreiben konnte. Eine zentrale Figur ist ein junger algerischer Arbeiter, der als "echter Proletarier" in den Strudel der Ereignisse gezogen wird, und dem Merle eine recht scharfe Kritik an Camus' "Der Fremde" in den Mund legt . . .

Seine Bindung an Nanterre und die studierende Jugend hat Robert Merle bis heute nicht abgelegt. Er hält - unbezahlte - Gastvorlesungen und lädt die Studenten einmal pro Woche zu sich ein.

"Fortune de France" ist das opus magnum des heute 93-Jährigen, der sich mit der gleichen Präzision mit dem Leben auf einem Atom-U-Boot ("Le jour ne se lève pas pour nous"), den Auswirkungen der atomaren Apokalypse ("Malevil") wie mit dem Problem der tierischen Intelligenz und ihrer militärischen Nutzung ("Un animal doué de raison") auseinandergesetzt hat. Die Manuskripte seiner Bücher sind echte Manuskripte - er schreibt mit einer Montblancfeder, die er in Tinte taucht.

Roberte Merle ist stolz auf sein Werk. Immerhin haben Professoren der Geschichte an der Universität Paris ihren Studenten empfohlen, bei der Beschäftigung mit der Bartholomäusnacht "Paris ma bonne ville" zu studieren. "Dumas hat einmal gesagt: 'Mag sein, dass ich die Geschichte vergewaltige, aber ich mache ihr schöne Kinder.' Für mich ist ein historischer Roman dann gut, wenn er Geschichte nicht erfindet, sondern sich in der Geschichte ereignet."

Der freundliche ältere Herr, der uns trotz seines gedrängten Arbeitspensums in seinem Haus in Grosrouvre humorvoll und eloquent Auskunft gibt, hat etwas zeitloses an sich. 93? Aber nein, er muss doch direkt aus dem 17. Jahrhundert gekommen sein. Aber dort ist er ja als Ich-Erzähler noch keine 40, fällt uns ein. Es sei den Lesern von "Fortune de France" überlassen, selbst das Rätsel des Alters von Docteur Robert Merle zu lösen.

"Fortune de France" und zahlreiche andere Werke Robert Merles sind in deutscher Übersetzung im Berliner Aufbau-Verlag erschienen.

Freitag, 04. Mai 2001

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