Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Vladimir Vertlib -Ein Autor, der vom Erzählen erzählt

Vertlib, Vladimir: Von der Gültigkeit des Lebens

Von Konstantin Kaiser

Vor kurzem wurde dem heute in Salzburg lebenden jüdischen Schriftsteller Vladimir Vertlib, dessen Muttersprache das Russische ist, in München ein Adelbert von Chamisso-Förderungspreis verliehen.

Ein Preis, der nach dem aus dem revolutionären Frankreich in das Deutschland der "Befreiungskriege" geflüchteten Chamisso de Boncourt benannt ist, ruft unweigerlich die Erinnerung an jene altbekannte Haltung deutscher Sprachhüter hervor, die ein "Deutsches Dichterlexikon" mit den Worten dokumentiert: Er (Chamisso) ". . . ging trotz nie vollkommener Beherrschung des Deutschen ganz im deutschen Geist auf." Vielleicht hat man Chamisso die Wendung zum Liberalismus und das Lob, das ihm ein Heinrich Heine zollte, nie ganz verziehen, doch an Chamissos "nie vollkommen beherrschtem Deutsch" lässt sich wohl ganz gut Deutsch lernen.

Der Gestus, mit dem er aus der Gemeinschaft der eigentlich und zutiefst mit dem Deutschen Vertrauten ausgegrenzt wird, markiert den ideologischen Wandel des Deutschen von einer lingua franca,

einer freien Verkehrssprache Mitteleuropas, zu einem Ausweis der Volkszugehörigkeit. Dieser Ausweis der Volkszugehörigkeit kann nun auch in verstümmelter Rede, in

restringierter Artikulation erbracht werden, pendelnd zwischen der diffusen Wärme des vom Gegenüber erwarteten Zugehörigkeitsgefühls und der distinkten Kälte der Verweigerung von Gemeinsamkeit.

Vertlib und Soyfer

Ungeheurer Gewinn für die gemeinsame Sprache in unserer Weltgegend ist hingegen die Arbeit, die Zugewanderte mit und an dieser Sprache leisten, ihre Bereitschaft und ihre Not, alle Nuancen gegenständlichen Ausdrucks, all die gewohnten Wendungen neuerlich zu prüfen, vor dem Hintergrund eines anderen Wissens und Tönens der Sprache die Fähigkeit zur Korrektur, Einsicht, Annäherung zu entwickeln, die ich bei Vladimir Vertlib kennen gelernt habe (und bei anderen Autoren, denen die deutsche Sprache selbstverständlicher Ausgangspunkt ist, leider oft vermisse).

Man gestatte mir, den 1966 in Leningrad geborenen Vladimir Vertlib mit einem anderen österreichischen Autor russischer Herkunft zu vergleichen - mit dem 1912 in Charkow geborenen, 1939 im Konzentrationslager Buchenwald verstorbenen Jura Soyfer, den Dichter des bekannten "Dachau-Liedes".

Beide, Vertlib und Soyfer, entstammen russisch-jüdischen Familien. Soyfers Vater war Fabrikant, flüchtete vor der Oktoberrevolution und vor dem Weißen Terror in der Ukraine über Istanbul nach Wien.

Vertlibs Eltern gehörten der wissenschaftlich-technischen Intelligenz an und verließen 1971 die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wegen des antisemitischen Drucks, den sie allenthalben zu spüren bekamen, und wegen des zionistischen Engagements, das ihnen daraus erwachsen war.

Während jedoch Soyfer nach kurzer Wanderschaft schon ab 1920 in Wien sesshaft wurde, sah sich Vertlib durch viele Länder getrieben, Israel, dann Italien, Österreich, Israel, wieder Österreich, die Niederlande, die USA, um schließlich mit den Eltern in Wien gleichsam kleben zu bleiben, mangels anderer Alternative.

Für beide, Soyfer wie Vertlib, stellte sich das Land zunächst als von unterirdischen Flüchtlingsströmen durchzogener Wartesaal dar, in denen die Vertriebenen und Flüchtlinge unterschiedlichster Provenienz der Visa für Länder, in denen man vielleicht ein neues Leben beginnen könnte, harren.

Der Aufenthalt in Österreich war provisorisch, man befand sich gewissermaßen auf keinem gültigen Teil der Erdoberfläche, sondern eben in einem meist zugigen, muffigen Wartesaal.

Anders jedoch als Vertlib fand sich Soyfer bald vom heißen Atem einer widerspruchsvoll bewegten politischen Kultur umschlungen, gehörte der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler an, wurde dem Autorenkollektiv des "Politischen Kabaretts" der sozialdemokratischen Veranstaltungsgruppe zugezogen, wandte sich nach dem Februar 1934 der im Untergrund tätigen Kommunistischen Partei und der im Souterrain der Häuser und der Kultur beheimateten Kabarettbewegung zu, gestaltete in seinem "Mittelstück" "Astoria" den von Hannah Arendt pointierten Gegensatz zwischen dem Juden als Paria und als Parvenü, mit dem marodierenden Außenseiter, Vagabunden, Nichtzugehörigen auf der einen Seite, der von einer Welt träumt, in der keine Ausweise verlangt werden.

Auf der anderen Seite steht der "Parvenü", nicht mit einem Emporkömmling gleichzusetzen, sondern eher einer, der an die Instanzen, Institutionen, Ehrenämter glaubt, der an Minister und Präsidenten appelliert, auf dass sie ihm Schutz und Hilfe versprechen, der im festen Glauben an die repräsentative Kultur die tradierten Kunstfertigkeiten und akademischen Gebräuche pflegt.

Was für Soyfer am Ende seines allzu kurzen Schriftstellerlebens zum Problem wurde und von ihm nur in verdeckter Form artikuliert werden konnte, die Frage des Sprechens aus der Position des Nichtzugehörigen heraus, dem seine den anderen unbekannte und fremde Vorgeschichte angesichts der kompakt Daseienden die Lippen verschließt, stand für Vladimir Vertlib am Anfang und im Zentrum seiner schriftstellerischen Arbeit.

Er konnte nur sprechen, wenn er die Voraussetzung seines Sprechens zur Sprache brachte, seine bewegte, vielfarbige und einsame Jugend inmitten von Vertreibung und Wiederkehr, diese unerhörte und nie gern gehörte, mit einer Geste des Verweises auf mögliche Fürsorge leichthin abservierte Geschichte von den ungezählten Füßen und Füßchen, die gezwungen sind, neue Wege durch den Menschenbrei, der diese Erde bedeckt, zu trampeln, um "drei Meilen hinter Weihnachten" ins Schlaraffenland zu kommen - auch dies eine alte Flüchtlingsgeschichte, in der Zeit und Raum sich ineinander verkehren, wie in den Erwartungen und Erfahrungen der russisch-jüdischen Auswanderer, die Vertlib in seinem Roman "Zwischenstationen" schildert.

Und dennoch: Obwohl Vertlib anders als Soyfer diese lähmende Spannung noch vor dem ersten Wort stets von neuem zu überwinden und zu durchqueren hat, konnte sich auch sein Schreiben wie das Jura Soyfers in der Vermittlung mit einer Tradition und einer - in Österreich allerdings marginalisierten - Kultur des Widerstandes entwickeln und entfalten.

Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang die Übersetzung und Bearbeitung von Ray Eichenbaums autobiographischem Epos "Romeks Odyssee" und die Bearbeitung von Bil Spiras "Legende vom Zeichner", beides Bücher, die die Irrfahrten der jüdischen Autoren durch Exil und Konzentrationslager schildern, zugleich aber als mahnende Berichte von Zeugen - scheinbar vergeblich - beizutragen suchen zu einem Zustand der Zivilisation, in dem nie wieder geschehen muss, was einmal geschehen ist.

Die Vermittlung des eigenen Schreibens mit den heiklen und gefährdeten Traditionen des Widerstands, das Öffnen der eigenen Biografie über den durch das Geburtsdatum gesetzten Anfangs- und Schlusspunkt hinaus, bringt mit sich, dass der Autor lernt, in einem geistig-kulturellen Raum neben anderen Stimmen, die in seinem Ohr hallen und nachklingen, zu sprechen, dass er sich der künstlerischen Einsamkeit, der existenziellen Ausmaßung, das letzte oder erste Licht im Dunkel zu sein, entschlägt.

Die Erzählungen Vertlibs beginnen nicht erst mit sich selbst, sondern erscheinen als Fort- und Weiterführung anderer Erzählungen, sowohl der erzählenden Literatur, als auch, im gemeinen Verstande, all dessen, was sich Menschen im Alltag in Form kleiner Erzählungen nicht müde werden mitzuteilen. In dieser Hinsicht ist Vertlib auch einer, der uns vom Erzählen erzählt, von dem, was dem Vater, wenn er im weißrussischen Dorf nach dem Schicksal der ermordeten Verwandten forscht, "erzählt" wird, oder von dem, was die Kinder zu hören bekommen, wenn sie den Erzählungen der Erwachsenen im Flüchtlingsquartier lauschen.

Das Ich dieser Erzählungen ist eigenartig zurückgenommen, nicht ein Schelm, dem allerlei widerfährt, wiewohl auch er oft widerspenstig ist, zu eigenwilligen Einfällen und schlichtem Fehlverhalten neigt (so zumindest in der Perspektive der Mitflüchtlinge, die sich wechselseitig kompetente Realitätsbewältigung beteuern und abfordern).

Die Verzögerungen, Aufenthalte, Verspätungen, die dieses Ich gegen das rasende Dahinschwinden der durch Aufenthaltsgenehmigungen und schrumpfende Geldmittel stets befristeten Zeit mobilisiert, schaffen in der Ortlosigkeit der Nicht-Zugehörigkeit, des Exils, den Ort des Erzählens, das, wenn es nur immer fortgehen kann, uns zu allen Fragen und Wahrheiten unseres Lebens und unserer Geschichte führen wird.

Aus dem Motiv der befristeten und immer nur unzulänglich genutzten Zeit ergibt sich, und damit kehre ich ein letztes Mal zu Jura Soyfer zurück, der Drang zur Satire, zur Konfrontation der aus Verblendung und Eitelkeit, Ungeschick und Gewinnstreben, Geltungssucht, wie immer, vertanen Möglichkeit mit der nicht oder nur teilweise erkannten Notwendigkeit - so z. B. in jenen Szenen des Romans "Zwischenstationen", in denen sich die russisch-jüdischen Emigranten in ihrer "Burg", einer abgewirtschafteten Wiener Zinskaserne, verschanzen, um einen von ihnen vorausgesehenen Angriff der Fremdenpolizei abzuwehren.

Dieser jedoch erweist sich als eine zwar nicht unbegründete, aber unzutreffende Befürchtung, die Veranstaltungen, ihn abzuwehren, als eine Erregung, über der die Zeit vergeht, ohne genutzt worden zu sein.

Folgen der Handlungen

Wie in jeder "Dichtung", poetischen Erfindung, stellt sich in Vladimir Vertlibs Erzählungen und Romanen die Frage nach dem gültigen Leben, nicht jedoch als ersehnte Idylle oder durch heroische Tat Gewährleistbares. Vielmehr stellt sich ganz einfach die schwierige Frage nach den Folgen menschlicher Handlungen, nach ihrer inneren Konsequenz und ihrer zwischenmenschlichen Verbindlichkeit. Was schon eingangs im Hinblick auf die Sprache angedeutet wurde, kehrt hier wieder.

Die Gültigkeit des Lebens ist Vladimir Vertlib so wenig wie die deutsche Sprache eine vorgängige Selbstverständlichkeit, deren kritische Demontage sein Werk wäre. Vielmehr muss gültiges Leben errungen werden, von den Protagonisten der Erzählung wie von der Erzählung selbst.

Wenn in dem eben erschienenen neuen Roman Vertlibs, "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur", die jüdische Titelheldin, erschöpft und verzweifelt, ausgehungert und durchgefroren, im belagerten Leningrad noch nach der Ikone schaut, die ihr die verstorbene Freundin Mascha hinterlassen wollte, dann stiehlt sich eine Ahnung von der Gültigkeit des Lebens wie ein kleiner Lichtfleck in ein verdunkeltes Zimmer.

Die Aufmerksamkeit für die ohnehin bereits von den Nachbarn der Verstorbenen gestohlene, für Rosa Masur wertlose Ikone ist nichts als ein Akt der Treue, in dem die Titelheldin selbst und die Leserinnen und Leser zugleich etwas von der Gültigkeit des Lebens erfahren.

Von Vadimir Vertlib sind erschienen: Die Romane "Abschiebung" (Salzburg 1996), "Zwischenstationen" (Wien 1999) sowie zuletzt "Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur" (Deuticke Verlag, Wien 2001, 430 Seiten).

Freitag, 27. April 2001

Aktuell

erlesen: Zwei verwandte Meister der kleinen Form
Kronauer, Brigitte: Sprache, Klang und Blick
Zum Werk der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer
Mann, Erika: Des Dichters Liebling
Zum 100. Geburtstag von Thomas Manns ältester Tochter Erika

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum