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Ein Dichterphilosoph und Feuilletonist der "Wiener Zeitung"

Hieronymus Lorm

Von Fritz Keller

Durch die Flucht vieler Juden während des großen Pogroms 1669-1670 in Wien entwickelte sich Nikolsburg über drei Jahrhunderte lang zum politischen, kulturellen und geistigen Zentrum der Israeliten Mährens. Hier wirkten berühmte Landesrabbiner wie Jehuda Löw ben Bezabel, Menachem Mendel Krochmal, David Oppenheim, Schemuel Schmelke Horowitz und Mordechai Benet. Unter der Schirmherrschaft der Fürsten von Dietrichstein wuchs Joseph Sonnenfels hier auf, bevor er die durch Holztore abgetrennte Welt des Gettos hinter sich ließ und als "Neophyt (Neubekehrter)" zum Universitätsprofessor und Hauptvertreter der josephinischen Aufklärung avancierte.

In diesem geistigen Umfeld wird am 9. August 1821 in der alten jüdischen Kaufmannsfamilie Landesmann der Knabe Heinrich geboren. Wie viele andere betuchte Geschäftsleute verlegen die Eltern schon während des ersten Lebensjahres ihren ständigen Wohnsitz nach Wien. Ihr Salon entwickelt sich schnell zum Sammelpunkt aller literarischen und Kunstgrößen der Kaiserstadt, sogar Friedrich Hebbel verkehrt hier. Heinrich kann an diesem gesellschaftlichen Leben nur bedingt teilnehmen, denn seit seinem fünfzehnten Lebensjahr ist er ist durch ein Nervenleiden taub und fast blind. Um diese Handicaps zu überwinden erfindet er eine Klopfsprache und eine Handdruckverständigung, mittels der er sich vorlesen lässt und diktiert. So studiert er nicht nur am Polytechnikum und an der Universität, sondern verfasst 1846 auch eine Essaysammlung "Wiens poetische Schwingen und Federn". "Der österreichischen Volksgeist ist stets dumpf und unaufgeweckt", heißt es da, "zu wenig tatsächlich eingreifend in die historische und politische Fortentwicklung Österreichs, dessen Geschichte sich fast nur durch Anstoß von außen bildete, als dass dieser Volksgeist jemals die Notwendigkeit erkannt haben sollte, in einer unabhängigen Literatur zu bewussten Anschauung seiner selbst zu gelangen, sich selbst objektiv zu werden . . . Wenn man in Österreich eine Literatur zuschreibt, so ist das nur etwas zufällig gewordenes, nicht wie in anderen Ländern ein aus dem Staatsleben unausweichlich hervorgegangenes Resultat: Nur ein zu duldendes, nicht gänzlich ausrottbares Übel, nicht eine durch die Weiterbildung des Volkes erkämpfte Errungenschaft, in der eine aus Blut und Taten geknetete Geschichte ihr duftigsten, geistigen Blüten zur Entfaltung gebracht hätte."

Solche an Hegel geschulten Revoluzzer-Töne missfallen den Zensoren Metternichs. Heinrich Landesmann muss flüchten. Zuerst übersiedelt er nach Leipzig, dann nach Berlin, wo er literarischer Korrespondent der einflussreichen Zeitschrift "Die Grenzboten" wird. Im Exil wählt er sein lebenslanges Dichter-Pseudonym nach Hieronymus, dem ersten Heiligen, der über die Einsamkeit sinnierte, und Lorm, nach einer Person in einem Roman eines heute unbekannten Dichters.

1848 kehrt er zu den barrikadenbauenden Wienern zurück.

Er ist dabei nicht der Einzige aus Nikolsburg, der sich in den Auseinandersetzungen um liberale Veränderung im Habsburgerreich hervortut. Der Bürgermeister Franz Koritschoner und der Landesoberrabbiner Samson Raphael Hirsch verfassen gemeinsam eine Denkschrift an die Regierung für die Gleichstellung der Juden (einer der wesentlichen Forderung wird Kaiser Franz Joseph I. Jahre später - am 18. Februar 1860 - mit dem Patent über die Realbesitzfähigkeit der Juden nachkommen).

Das Debakel der Freiheit in Krähwinkel und "ihren eigentümlichen Erscheinungen" führt zu einem tiefen Einschnitt in Lorms Weltsicht. "Mit keiner Vorstellung, keinem Glauben und keinem Begriff" scheint ihm nun "ein ärgerer Missbrauch getrieben worden zu sein als in ganz Europa seit fast siebzig Jahren mit der politischen Formel: Volk". Denn "gerade die Redlichen . . . betrachteten das Volk nun einmal als Träger einer Gottesidee, unabhängig vom Land, das es bewohnt, von der Beschäftigung, die es treibt, und von den geschichtlichen Zuständen, die seinen Charakter herausgebildet haben".

Desillusionierung

In Baden, wohin er sich zurückzieht, verfasst er "Ein Zögling des Jahres 1848". Diese Novelle, die sich bald nach dem Erscheinen 1855 zu Lorms populärstem Werk entwickelt, schildert die politischen Intrigen während der Umsturztage und die damit verbundene Desillusionierung eine jungen jüdischen Intellektuellen von den Versprechungen allgemeiner Emanzipation sowie seine Rückkehr zu Wurzeln seiner Existenz. Obwohl der Roman mit den Zeilen "vor den Menschen bewahre mich mit Deiner Hand, Jehova, vor den Weltmenschen" endet, bedeutet er nicht die Rückkehr zur orthodoxen Religion, die Lorm für eine ebensolche Fabel hält, wie die Freiheit, "die Religion des 19. Jahrhunderts". Auch begreift er sich nach wie vor als deutscher Schriftsteller, "der zufällig in Österreich sein Vaterland - pater semper incertus - jedenfalls aber in der deutschen Kultur seine Mutter und an der Muttersprache sein Organ hat".

In den Jahren nach der Revolution nimmt Lorm als Redakteur der "Wiener Zeitung" auf den neuerwachenden Journalismus entscheidenden Einfluss. Von 1850 bis 1865 arbeitet er in der Redaktion der "Wiener Zeitung" als Mitarbeiter des neu enstandenen Ressorts namens "Feuilleton", das er zeitweise auch leitete. In der Festschrift, die 1953 zum 250. Bestehen der "Wiener Zeitung" erschien, würdigte Wilhelm Böhm, damals Archivar der Zeitung, Lorms Arbeit mit den Worten: "Er hatte den Ausbruch der Revolution bereits als Emigrant im Alter von 27 Jahren erlebt und war ein überaus feinsinniger Sprachkünstler von geradezu erstaunlicher Willenskraft . . . Sein Verdienst ist es, das eigentliche literarische Feuilleton, die kleine besinnliche oder humorvolle Erzählung, in der 'Wiener Zeitung' heimisch gemacht zu haben . . ."

Ähnlich dachten auch schon die Zeitgenossen Lorms. Der Schriftsteller Karl Gutzkow, bezeichnete Lorm in seiner Geschichte des Feuilletons als "den Schöpfer des deutschen Feuilletons, so weit es lebensphilosophischen Inhalt hat".

Doch verfasste Lorm auch eine unübersehbare Reihe von Novellen und Romanen, philosophischen Arbeiten und Aufsätzen. Gemeinsam ist allen diesen Werken eine kontemplative und zugleich pessimistische Innerlichkeit: "Man braucht nicht immer die Gebärden des Selbstmordes, man kann in Ruhe, Gemütlichkeit und selbst mit Behagen verzweifeln." Jeder Veränderung der Außenwelt ist der Dichter abhold: "Töricht ist der Wahn, durch einstige Lösung aller sozialen Probleme die Welt angenehm einzurichten. Man kann einem Hospitale gesündere Luft und helleres Licht zuführen, es wird dadurch nicht zu einem Aufenthalt des Vergnügens, es bleibt immerdar ein Krankenhaus."

Ganz selten kommen in den Schriften mentale Restbestände des einzigen Revoluzzers zum Vorschein: Wenn er George Sand überschwänglich lobt, weil sie die Orden und Auszeichnungen von Napoleons Kaiserreich verschmäht. Oder wenn er Franz Grillparzers "Weh' dem, der lügt" nach wie vor für kein "vollendetes Kunstwerk oder auch nur für ein wirkliches Lustspiel" hält - nichtsdestotrotz aber anlässlich der Wiederaufführung kaiserlichen Hofburgtheater an den Sturm der Entrüstung erinnert, den die Zeile "Des Menschen Antlitz ist sein Wappenschild" bei den Aristokraten 1838 auslöste und hinzufügt: "Allerdings hat sich der deutsche Adel seitdem nicht im Geringsten verändert, der Vertreter des Konservatismus ist vor allem konservativ in seinen Vorurteilen und seiner Beschränktheit." Oder wenn er auf die Frage der "Zulässigkeit politischer Poesie" antwortet: "Es kommt alles nur darauf an, ob sie wirklich von der Sonne gereift oder künstlich hervorgebracht ist."

Oder wenn er behauptet: "Der Militarismus, der bewaffnete Gegner des Gewaltsamen Umsturzes, arbeitet demselben mit allen Kräften in die Hände" . . .

Familienleben

1858 heiratet er und genießt die Freuden es Familienlebens. Ehe ist ihm "ein Bund fürs Leben und nicht bloß während des Lebens". Wie viele andere romantischen Geister stellt er Frauen auf ein Podest - "Durch die Liebe wird dem Weibe alle Weisheit offenbar, die der Mann erst durch mühevolle Arbeit des Denkens erringt" - ohne sie deshalb als gleichberechtigt anzusehen - "Der wahre Beruf der Frau und ihre sittliche Schönheit ist ihr Opfer."

Lorm muss jetzt malochen, um seine Familie zu erhalten. "Mein Los ist so hart" sagt er einmal, "dass ich alle Philosophie praktisch verbrauche." Den "Müßiggang für eines der seltensten und kostbarsten Talente zu halten" kann er sich nur in seinen Träumen leisten. Er wirbt für seine Überzeugung, dass "gerade große Geister vom Außenleben ungestört bleiben müssen", weil sie "über kleinliche und peinliche Zufälle in die größte Verzweiflung geraten und weil ihnen dadurch Stimmungen und folglich auch Gedanken und Werke totgeschlagen werden".

Doch bleibt dies reines Wunschdenken.

Trotz dieses kleinen Glücks bleibt auch die Grundlage für Lorms Innerlichkeit und Pessimismus, für seinen "ennui (Lebensüberdruss)" gnadenlose Realität. Für ihn persönlich ist "das Elend der Welt" letztlich "nicht zu überwinden", er hat allen Grund zum "grundlosen Optimismus".

1880, sieben Jahre nach seiner Übersiedlung nach Dresden, das ihm auf Grund seiner landschaftlichen Reize mehr zusagt als das zur Weltstadt gewordene Berlin, erblindet er nämlich völlig. Lorm verkörpert jetzt tatsächlich einen jener blinden Dichter, die seit Ödipus in der Literatur ihren festen Platz haben. Doch er erfährt alle Leiden einer umnachteten Existenz, die Seneca dem Sohn des Königs von Theben zuschreibt, die Chateaubriand durch den Mund des Indianerhäuptlings Chactas kundtut und die Macpherson aus dem Mund des gälischen Barden Ossian erfahren haben will, am eigenen Leib:

Mir glänzt kein Stern, mir schallt kein Ton,

Als schlöss' mich ein die Grube schon;

Doch trägt mich eine Welt, die nicht,

Bedarf der Erde Laut und Licht.

In meiner grausen Lebensnacht

Hab' ich die Sonne mir erdacht,

In einem Reich, das ohne Klang,

Erfreut mein Herz mich mit Gesang.

In seinem Spätwerk nach seiner Rückkehr von Dresden nach Brünn 1892 lehnt sich Lorms philosophisches Denken immer an die stoischen Lehre eines Seneca an, die in der "Apathie", der Affektfreiheit die Glückseligkeit zu finden glaubte. "Naturerleben überhaupt . . ." könnte "einem still zur Betrachtung gesammelten Gemüte den wahren Wert des Daseins erkennbar machen." Mit solchen Lehren will er auch "einen Tropfen Öl der Beschwichtigung in die durch politische und soziale Zeitereignisse aufgeregten Gemüter gießen".

"Die kontemplative Lyrik ist nur das begrifflose und folglich unphilosophische Pochen an die Kerkerwand, die uns umschließt", schreibt Lorm einmal. Aber war sein Körper das einzige Verließ, das ihn gefangen hielt? Oder kerkerte ihn nicht die restaurative Ringstraßen-Gesellschaft ein zweites Mal ein? Ist, wie der blinde Dichter meint, "das Leben berühmter Dichter und Künstler" tatsächlich "selten etwas anderes als der Resonanzboden ihrer Werke", oder ist es nicht viel häufiger umgekehrt, dass die Werke Resonanzboden ihres Lebens sind?

Die Zitate sind folgenden Büchern Hieronymus Lorms entnommen:

Ein Zögling des Jahres 1848, Wien 1855

Der retouchierte Grillparzer, in "Die Literatur" (1879)

Der Naturgenuss - Ein Beitrag zur Glückseligkeitslehre, Teschen-Wien-Leipzig 1900

Bekenntnisblätter - Verstreute und hinterlassene Aufzeichnungen eine Dichterphilosophen, Berlin und Leipzig 1905

Freitag, 23. März 2001

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