Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
  Lexikon    Glossen     Bücher     Musik  

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Jorge Amado, brasilianischer Volksdichter und Romancier

Amado: Alter Geschichtenerzähler

Von Maria Lucia Hoisel

Im Jahre 1973 wohnte ich in Salvador da Bahia in einer Wohnung, von der aus ich eine große Favela, Armensiedlung, überblicken konnte. Eines Sonntagnachmittags beobachtete ich durchs Fenster die Menschen im Regen. Es war einer dieser feinen Regen, die nie zu enden scheinen. Sie suchten sich einen möglichst begehbaren Weg durch den Schlamm, um zu einem kleinen Zirkus zu gelangen.

Das Zirkuszelt war zerfranst und längst ohne Farbe, die Armut der Besucher, der Artisten und ihrer Darbietungen, des ganzen Ortes war unübersehbar. Wie groß war da meine Überraschung, als ich in der Menge Jorge Amado entdeckte, der mit seinem Pullover den Kopf eines kleinen Jungen zu schützen versuchte. Wie kann man die Anwesenheit eines so berühmter Autors an einem so ärmlichen Ort erklären? Sucht er sich neue Anregungen für ein Buch oder ist es ein Gefühl von Solidarität mit den Menschen, die wie Zirkusartisten auf dem schmalen Seil ihres kärglichen Lebens dahinbalancieren?

Jorge Amado wird im Jahre 1912 in einem kleinen Dorf im Süden des brasilianischen Staates Bahia geboren. Seine Sensibilität für die Wahrnehmung, für das Erspüren und Beschreiben seines Volkes und seines Landes mit den vielen verschiedenen Begebenheiten ist so groß, dass er sich zu einem der meist gelesenen brasilianischen Autoren entwickeln konnte.

Schon mit zehn Jahren machte er eine kleine Zeitung, die er unter den Verwandten und Nachbarn verteilte. Mit zwölf Jahren war er nach kurzer Zeit das Leben im Internat der Jesuiten leid, wollte er doch sein Land und die Leute besser kennen lernen. Er floh aus dem Internat und schlug sich zwei Monate alleine in der Sertao, dem wüstenähnlichen Landesinneren von Bahia, durch.

Diese Erfahrungen, so betont Amado immer wieder, waren sehr prägend für sein weiteres Leben und drücken sich auf vielfache Weise in seinen ersten Romanen "Carnaval" (1931) und "Kakao" (1933) aus. Damit begann seine quasi unerschöpfliche Produktion als Romanautor. Er selbst nennt sich einen "alten baianischen Geschichtenerzähler".

Autor von Weltrang

Seine Werke wurden bisher in 48 Sprachen übersetzt und in mehr als 52 Ländern dieser Welt veröffentlicht. Er ist ein literarisches Phänomen als Autor, ein ausgezeichneter Linguist und ein Kenner der soziokulturellen Situation seines Landes. Die Personen, Fakten und Situationen, die Amado in seinen Romanen beschreibt, haben ihren Ursprung in seinem realen Alltagsleben und sind Teil seines Volkes. Zentral in all seinen Romanen sind der Wunsch und die Suche nach Schönheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe - eine erotische, leidenschaftliche, ja fleischliche Liebe voll von Freude und Leid.

Er bemüht sich um Aufklärung, indem er den oft beschwerlichen, aber erfüllten Alltag zum Thema macht und sich seiner sozialen Verantwortung bewusst ist. Seine Bücher handeln von Fragen, die mit den kulturellen Spuren in Verbindung stehen und mit dem Verhalten, das durch die Durchmischung des brasilianischen Volkes geprägt ist. Charakteristisch für diese Durchmischung sind der religiöse Synkretismus, die Komplexität der sozialen Beziehungen und die Konsequenzen der sozialen Dominanz durch den Kolonialismus, wie er sich in den Städten und deren Hinterland ausformte.

Der Grund für den großen Erfolg Amados in Brasilien, einem Land, das nach wie vor an die 25 Prozent Analphabeten hat, muss darin gesehen werden, dass sich sowohl die Studenten als auch die Arbeiter in seinen Werken wiedererkennen - und geschätzt fühlen.

Die Bühne seiner Werke ist immer die soziale und ökonomische Peripherie des baianischen Volkes, der Lebensraum von Außenseitern. Manchmal sind das die vernachlässigten Kinder in den Straßen von Salvador da Bahia ("Herren des Strandes", 1937) dann wieder die Arbeiter auf den Kakaofarmen um Ilheus, einer Stadt im Süden von Bahia, mit ihren halbfeudalen Organisationsstrukturen ("Das Land der goldenen Früchte", 1944 oder "Die Auswanderer von Sao Francisco", 1946).

In den 30er und 40er Jahren, als die Welt sich in einer großen politischen Umwälzung befand und viele Diktatoren an die Macht kamen, wurde auch die Literatur Amados zunehmend politisiert.

Seine Helden sind ernst, ideologisch stark und klar. Sie zeigen die Ungerechtigkeiten einer Zweiklassengesellschaft auf, jene der Herren und der Sklaven.

Immer wieder griff er Themen auf, die auch heute noch größte politische Brisanz haben, wie beispielsweise die Vertreibung der Indianer von ihrem Land, die Gewalt der Polizei und die Passivität der Regierenden, die den ehrgeizigen internationalen Einflüssen auf Brasilien nichts entgegensetzten. Schon 1935 schaffte er in seinem Roman "Jubiaba" eine Neuheit in der brasilianischen Literatur, indem er einen Schwarzen zum Helden seiner Geschichte machte.

1936 wurde Amado erstmals für kurze Zeit eingesperrt. Diese ersten leidvollen Erfahrungen veranlassten ihn gleich nach seiner Freilassung in andere Staaten Lateinamerikas und in die Vereinigten Staaten zu verreisen. Als er 1937 zurückkehrte, wurde er neuerlich gefangen genommen. Seine Bücher wurden verboten und von der damaligen Militärregierung verbrannt.

1939 begann er wieder mit seiner politischen Aktivität, indem er die kommunistische Partei unterstützte. 1945 wurde er sogar zum Abgeordneten der kommunistischen Partei Brasiliens gewählt. In dieser Funktion gelang es ihm unter anderem, die Religionsfreiheit für alle religiösen Kulte zu erreichen. Das war besonders bedeutend für die Millionen von Mitgliedern der afrobrasilianischen Religionen.

Als 1948 die kommunistische Partei in Brasilien verboten und Amado seines politischen Amtes enthoben wurde, beschloss er, freiwillig ins Exil nach Paris zu gehen, wo er von den Franzosen 1950 aus politischen Gründen des Landes verwiesen wurde und so in die damalige Tschechoslowakei gelangte. Dies war die Zeit, in der er mit Berühmtheiten wie Jean-Paul Sartre, Picasso, Pablo Neruda oder Anna Seghers, um nur einige zu nennen, zusammengetroffen ist.

Aufenthalt in Wien

Nach verschiedenen Reisen - in die damalige UDSSR, nach China und in die Mongolei - hatte er auch einen mehrmonatigen Aufenthalt in Wien, bis er schließlich nach Brasilien zurückkehrte und 1956 offiziell aus der kommunistischen Partei austrat.

Seinen Schritt erklärte er damit, endlich wieder schreiben zu wollen. Ein anderes wesentliches Motiv für diesen Entschluss findet man wohl in der Enttäuschung über Stalin und dessen Umsetzung der kommunistischen Idee.

Es begann quasi eine zweite Schaffensperiode, die man als fantastischen Realismus ähnlich dem von Gabriel Garcia Marquez bezeichnen könnte. Die Veröffentlichung des Romans "Gabriela" markiert den Beginn dieser Periode.

Ich durfte dieser Veröffentlichung quasi live beiwohnen, als ich 13 Jahre alt war, spielt dieser Roman doch in Ilheus, meiner Heimatstadt, wo ich zu dieser Zeit ins Gymnasium ging. Das Buch verkaufte sich wie warme Semmeln, in zwei Wochen wurden 20.000 Stück abgesetzt, in vier Wochen waren es sogar mehr als 100.000 Exemplare. Ilheus wurde mit einem Schlag berühmt. Die Bewohner der Stadt erkannten sich und andere im Roman wieder, die einen waren euphorisch und genossen den unerwarteten Ruhm, andere waren zornig über die Enthüllungen ihres Privatlebens.

"Obszön und unmoralisch"

Das Buch war Tagesgespräch. Die einen nannten es unmoralisch, andere taten es als Fantasiegeschichte ab, wieder andere verwiesen auf die Realitätszusammenhänge in ihrem Alltag. Da begann es mich auch zu interessieren, besonders als ich erkannte, dass es für Mädchen meines Alters aus gutem Hause verboten war, weil das Buch doch unmoralisch und obszön sei.

Also machte ich mir Gedanken, wie ich das Buch bekommen konnte, ohne dass meine Eltern davon erfuhren. Bald fiel mir die Schulwartin ein. Die liebte Schokolade, und so begab ich mich früher als gewöhnlich in die Schule, um mit ihr das heimliche Geschäft abzuwickeln. Es klappte auf Anhieb, und endlich hielt auch ich das vielbesprochene Werk in Händen. Aber welche Enttäuschung - ein Buch in dieser Dicke soll ich lesen? Ein Buch, das sich mit den Politikern, der Prominenz der Stadt, mit den Arbeitern, mit Armen und Reichen beschäftigt, alles ziemlich uninteressant für mich, die Dreizehnjährige. So suchte ich mir bloß einige pikante und erotische Stellen heraus, die ich las. Rasch gab ich das für mich so enttäuschende Buch zurück und schwindelte, wie gut es mir gefallen habe. Das war also meine erste Begegnung mit Jorge Amado, dem großen Romancier.

Heute genieße ich seine Romane, in denen die Liebe zum Leben so stark ist, dass seine Romanfiguren oft zwei oder gar drei Leben zur selben Zeit brauchen, um der Fülle gerecht zu werden. Manchmal sind diese Leben völlig entgegengesetzt und unvereinbar, wie beispielsweise in "Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller", in "Dona Flor und ihre zwei Ehemänner" oder "Die Abenteuer des Kapitäns Vasco Moscoso".

Amados Figuren leben in der Konfrontation mit der ideologischen und sozialen Rigidität ihres Umfeldes und konfrontieren sich zugleich mit ihrer eigenen inneren Wahrnehmung, ihren geheimen Wünschen und Hoffnungen. Sie suchen das Geheimnis der Existenz innerhalb der menschlichen Beziehungen. Für Amado spielt Humor dabei eine zentrale Rolle. Er sagt: "Der Humor ist ein Zeichen von Reife. Wenn eine Person weiß, wie man mit Humor umgeht und ihn im Leben nützt, dann versteht sie ein wenig die Dinge im Leben. Junge Autoren sind oft sehr ernst, und es fehlt ihnen noch das Bewusstsein von der Bedeutsamkeit des Humors."

Seit den 60er Jahren beherrscht die Frau seine Romane. Die ökonomischen Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft führten dazu, dass die Frauen nicht mehr nur Hausfrauen sind, sondern zunehmende Bedeutung in der öffentlichen Arbeitswelt der Fabriken und Straßen bekommen. Das erzeugte auch eine neue Form von Freiheit bei den Frauen, die der Autor in seinen Werken gerne beschreibt. Im Roman "Gabriela" zum Beispiel wird die Frau erstmals als "erotisches Objekt" beschrieben, das die Fantasie der Männer beflügelt, die aber gleichzeitig als arbeitende Frau "ihren Mann steht".

In anderen bedeutenden Romanen dieser Zeit wie "Dona Flor und ihre zwei Ehemänner", "Viva Theresa" und "Tieta aus Agreste" beschreibt Amado Frauen, denen es gelingt, den Machismo über Bord werfen, um ihren eigenen Wünschen im Leben zu folgen und diese zu verwirklichen. Einige Romane wurden durch ihre Verfilmung berühmt.

Amado gelingt es in seinen Werken, Traum und Wirklichkeit, Alltag und Fantasie zu verweben. So entsteht ein perfektes Zusammenspiel von unterschiedlichen Welten des Seins in Raum und Zeit.

Jorge Amado lebt heute hochbetagt in Salvador da Bahia, das durch seine Romane voll Fantasie, Humor und Lebensweisheit weltbekannt wurde. Einer Sache ist er sich sicher: "Solange es Menschen gibt, gibt es Romane."

(Die Übersetzung dieses Artikels stammt von Friederike Fink.)

26 der Romane und Erzählungen Amados sind mittlerweile ins Deutsche übersetzt. Die bekanntesten sind wohl:

"Gabriela wie Zimt und Nelken", Rowohlt TB

"Dona Flor und ihre zwei Ehemänner", Piper Verlag TB

"Tieta aus Agreste", Piper Verlag TB

"Viva Theresa", Piper Verlag

"Nächte in Bahia", Piper Verlag TB

"Jubiaba", Piper Verlag

"Die Geheimnisse des Mulatten Pedro", Piper Verlag TB

"Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller",

Piper Verlag

"Herren des Strandes", Rowohlt TB

"Die Abenteuer des Kapitäns Vasco Moscoso", Piper Verlag TB

"Das Nachthemd und die Akademie",

Goldmann Verlag

"Das Verschwinden der heiligen Barbara",

Piper Verlag TB

Freitag, 23. März 2001

Aktuell

Erlebniswohnen in "G-Town"
Alles unter einem Dach: Die neue Lebensqualität in den Gasometern ist relativ
Drei Mädchen aus zwei Welten
Ceija, Sonja und Elvira – die Geschichte einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft
Kein "Lügner des Guten" sein
Der Präsident des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" (IKRK) im Gespräch

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum