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Der deutsche Schriftsteller Siegfried Lenz wird 75

Lenz: Sprinter und Langstreckenläufer

Von Peter Mohr

Siegfried Lenz ist ein liebenswerter Traditionalist, ein idealistischer Schriftsteller, der ganz der Kraft des Erzählens vertraut und zum Meister der "kleinen Tragödien" avancierte - häufig mit etwas melancholischem Unterton und zum nordischen Understatement neigend. Siegfried Lenz ist ein verbaler Leisetreter - sowohl in seinen Büchern als auch in seinen Äußerungen als öffentliche Person.

Im Laufe seiner nun 50-jährigen Tätigkeit als Schriftsteller hat Siegfried Lenz viele Auszeichnungen und Literaturpreise erhalten, zuletzt den Goethe-Preis (1999) und vor wenigen Wochen die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg. Aber keine andere Auszeichnung war so sinnstiftend wie der ihm 1985 verliehene Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck.

Die bisweilen chronistische Funktion seiner Romane, der anzutreffende Hang zur epischen Breite und die geradezu innige Verschmelzung mit seinen Figuren ("Ich bin alle meine Figuren selbst") verbindet ihn mit Thomas Mann ebenso wie der hanseatische Lebensraum und die Affinität zur sanften politischen Einmischung.

Siegfried Lenz wurde am 17. März 1926 als Sohn eines Zollbeamten im ostpreußischen Lyck geboren - unweit der masurischen Seenplatte, deren malerische Schönheit er später in vielen Werken gepriesen hat.

Erst Flakhelfer, "Not-Abitur", dann bei der Marine im Einsatz, schließlich in Dänemark desertiert und in britische Gefangenschaft geraten: Siegfried Lenz' Jugendjahre wurden durch den Zweiten Weltkrieg bestimmt.

Doppeltes Glück

Nach Kriegsende verschlug es ihn nach Hamburg, wo er Anglistik, Literaturwissenschaft und Philosophie studierte und zunächst Lehrer werden wollte. Ein doppelt glücklicher Umstand führte ihn dann in die Kulturredaktion der "Welt".

Zum einen, weil er dort zu schreiben begann, zum anderen, weil er seiner damaligen Sekretärin näher kam. Seit 1949 ist er mit Liselotte ("Löchen") verheiratet, mit jener Frau, die die handschriftlichen Manuskripte seiner ersten Artikel abtippte.

Abwechselnd lebt Lenz heute im Hamburger Ortsteil Othmarschen und in einem kleinen Dorf auf der dänischen Insel Alsen, immer im Dunstkreis der Küste - Handlungsschauplatz vieler Lenz-Werke.

Schon 1951 gab Lenz nach Erscheinen seines hochgelobten Erstlings "Es waren Habichte in der Luft" den Job in der Kulturredaktion auf. Vier Jahre später schuf er die unvergessliche Figur des Hamilkar Schaß, eines einfachen Mannes aus Masuren, der erst spät das Lesen gelernt, dann aber dafür Bücher geradezu verschlungen hat und dessen Leben sich nur noch zwischen zwei Buchdeckeln abspielte.

Den frühen Ruhm erwarb er sich durch diesen meisterlichen Erzählband "So zärtlich war Suleyken" (1955) sowie die nachfolgenden Bände "Jäger des Spotts" (1958) und "Das Feuerschiff" (1960).

Schon in diesen Frühwerken hat er seinen Stil gefunden, den er - nur in Nuancen verändert - bis heute beibehalten hat. Das hervorstechendste Merkmal ist Siegfried Lenz' Sprache, diese wohlausgewogene Balance zwischen überbordendem Erzählfluss und einfachem Vokabular. Das hat ihn für ein Massenpublikum zugänglich gemacht, wie die Gesamtauflage von weltweit rund 25 Millionen Exemplaren nachhaltig dokumentiert.

Charakteristisch für Lenz ist auch, dass er nie eine seiner Figuren denunziert hat, dass er sein gesamtes Personenensemble stets mit fühlbarer Anteilnahme entwickelt hat.

Dies macht Siegfried Lenz' schriftstellerischen Rang aus. Selbst Figuren, deren Denkweisen ihm völlig fremd sind, wie beispielsweise der unsympathische Dorfpolizist Jepsen aus dem "Heimatmuseum", entwickeln eine authentische Eigendynamik.

Der von Lenz verehrte William Faulkner hat einmal behauptet, dass in jedem Schriftsteller auch ein Pädagoge verborgen ist. Dies trifft fraglos auch für Lenz zu, ohne dass er allerdings mit dem erhobenen moralisierenden Zeigefinger aus den Büchern hervorschaut.

Er wirft Fragen auf; die Antworten zu finden, überlässt er jedoch den Lesern seiner Bücher.

"Er ist ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt hat, sich auch als Langstreckenläufer zu bewähren", hatte Marcel Reich-Ranicki 1963 leicht despektierlich über Siegfried Lenz' frühe Romane geurteilt.

Eine der Fehleinschätzungen des spiritus rector des Literarischen Quartetts. Später verband beide eine innige Freundschaft, und Reich-Ranicki hielt sogar 1985 die hymnische Laudatio bei der Thomas-Mann-Preis-Verleihung: "Siegfried Lenz ist es wie wenigen Schriftstellern unserer Epoche gelungen, in der erzählerischen Wiedergabe der Realität eine breite Leserschaft zu erreichen."

Welterfolg "Deutschstunde"

Tatsächlich hat Siegfried Lenz immer darauf beharrt, mit seinen Geschichten auch Geschichte zu erzählen. Am eindrucksvollsten gelang ihm dies im Roman "Deutschstunde" (1968) in der Darstellung des Konflikts zwischen dem Kunstmaler Nansen und dem tumben, obrigkeitshörigen Dorfpolizisten Jepsen, der in der NS-Zeit das gegen seinen Jugendfreund Nansen verhängte Berufsverbot unnachsichtig überwachte. Jepsens Sohn Siggi rollt diesen "Fall" in einer Strafarbeit mit dem Titel "Freuden der Pflicht" auf.

Die "Deutschstunde" wurde in 22 Sprachen übersetzt, mehr als zwei Millionen Mal verkauft und später (wie viele andere Lenz-Bücher) erfolgreich verfilmt.

Ein Roman soll - so hat es Siegfried Lenz 1992 in seinem Essayband "Über das Gedächtnis" zum Ausdruck gebracht - primär Erinnerungsarbeit leisten: "Es wird der Erzähler sein, der uns den Strom vergangenen Lebens am anschaulichsten erfahrbar macht."

Der letzte ganz große "Romanwurf" gelang Lenz 1978 mit dem "Heimatmuseum", dessen Umfang er "als unhöflich dick" bezeichnete.

Ein leidenschaftliches Plädoyer für einen unideologischen Heimatbegriff, dargestellt am Schicksal des aus seiner masurischen Heimat vertriebenen Zygmunt Rogalla. Der Protagonist verbrennt sein in Schleswig-Holstein aufgebautes "Heimatmuseum", als ihn revanchistische Vertriebenenverbände politisch zu vereinnahmen versuchen.

"Heimat ist nur eine Erfindung der Melancholie", heißt es im Roman. Insofern ist Lenz stets ein Melancholiker gewesen, denn sowohl Masuren als auch später Hamburg (oder die Küste im Allgemeinen) sind ständig wiederkehrende Schauplätze - so auch im letzten Roman "Arnes Nachlass" (1999), dessen Handlung im Hamburger Hafen angesiedelt ist.

Nicht nur die Handlungsorte, auch gewisse Motive wiederholten sich bei Lenz im Laufe der Jahre. Schon früh setzte er sich er sich mit dem Älterwerden auseinander - erstmals 1959 in "Brot und Spiele" anhand der nachlassenden Leistungsfähigkeit eines Sportlers. Ein weiteres zentrales Sujet des naturverbundenen Autors ist die fortschreitende Zerstörung des Lebensraums.

Diese beiden Leitmotive hat Lenz 1994 im Roman "Die Auflehnung" komprimiert. Die Wittmann-Brüder durchleben Alterungsprozess und Naturzerstörung; der eine als Tee-Experte, dessen Geschmacksnerven ihren Dienst versagen, der andere als Forellenzüchter, dessen Teiche von der Natur und wenig friedliebenden Nachbarn angegriffen werden.

In seinem vorletzten Essayband "Über den Schmerz" (1998) hat sich Lenz ausschweifend über Altersprobleme ausgelassen. Nie hat er so melancholisch, nie so mitleidheischend geschrieben.

Mit einer Betrachtung des weltberühmten Munch-Bildes "Der Schrei" leitet Lenz nicht nur das Buch ein, sondern gibt den nachfolgenden Texten auch gleich die Richtung vor, die von einem beträchtlichen Maß an Altersschwermut dominiert wird.

Außerdem ist Lenz im Laufe der Jahre sehr dünnhäutig geworden, beklagt er doch in diesem Band auch "die vergebliche Hoffnung des Schriftstellers, von seinem Kritiker allumfassend verstanden zu werden". Versteckt hinter Ludwig Börne moniert Lenz, dass "jeder, der die Hand zu nichts anderem gebraucht, und wer nicht schreiben kann, rezensiert".

Skeptiker und Optimist

Wesentlich kämpferischer (sofern dieses Attribut für den bedächtigen Lenz überhaupt erlaubt ist) präsentiert er sich in seinen jüngsten Aufsätzen, die in diesen Tagen unter dem Titel "Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur" erschienen sind. Mit Blick auf die multimedialen Einflüsse, unter denen heute die Kinder aufwachsen, heißt es:

"Uns unterrichten Statistiken darüber, dass die Zahl der in ihrer Sprachentwicklung gestörten Kinder weiter zunimmt und dass Legasthenie immer häufiger vorkommt. Auch wenn es dafür sicher verschiedene Gründe gibt - ein wesentlicher Grund ist der Bildschirm, ist das, was er von vorgewählter Wirklichkeit vermittelt."

Dass Lenz in diesem Kontext ein leidenschaftliches Plädoyer für die Literatur als bewahrenswertes Bildungsgut hält, ist beinahe selbstverständlich. Völlig untypisch für den Skeptiker Lenz ist der in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebrachte Optimismus:

"Es ist nicht schwer vorauszusagen, dass die Chancen des Buches gegenüber der Bildschirmliteratur auch für die Zukunft nicht schlecht stehen."

"Drei Tassen Kaffee, zwei Pfeifen, und ich bin in Fahrt", so hat Lenz seinen Start in den Tag einmal selbst beschrieben. In Fahrt, um weiter unbeirrt Romane und Erzählungen zu schreiben, unbeirrbar menschliche "Katastrophen" zu thematisieren, wie in seinem letzten Roman "Arnes Nachlass" (1999).

"Ich habe zwar das Schicksal eines jungen Menschen beschrieben, der keinen anderen Ausweg mehr sah, aber es ging mir um ein grundsätzlicheres Problem, nämlich um das Verhältnis des Einzelnen und der Gruppe. Es ging mir um die Sehnsucht des Einzelnen nach Aufgehobenheit in der Gruppe", beschrieb Lenz den Roman, in dem er eine unter die Haut gehende menschliche Tragödie schildert (den Selbstmord des Protagonisten), ohne nach der Schuld eines Einzelnen zu fragen.

Knapp und pointiert

Noch immer sind sich die Experten uneinig darüber, ob der Romancier Lenz oder der Kurzgeschichtenerzähler, der an Hemingway'sche Knappheit und Pointierung erinnernde Shortstory-Autor Lenz der Literatur kostbarere Juwele hinterlassen hat. Trotz der bedeutenden Romane "Deutschstunde" und "Heimatmuseum", die ihn mit Günter Grass und Heinrich Böll auf eine Stufe stellen, sind mir die Erzählungen noch stärker ans Herz gewachsen. "So zärtlich war Suleyken" (1955), "Das serbische Mädchen" (1987) und "Ludmilla" (1996) sind Juwelen in der deutschsprachigen Erzählliteratur: exzellent gebaute, atmosphärisch dichte Geschichten.

Es gibt nicht viele Autoren, die das heute noch so perfekt können. Siegfried Lenz ist einer der besten davon. Im Sport ist fast unmöglich, was in der Literatur funktioniert: Lenz ist ein Meistersprinter auf der Kurzstrecke, ausgestattet mit einer beneidenswerten Kondition für die langen "Erzähl"-Distanzen.

Und darauf möchte man - aus aktuellem Anlass - mit ihm anstoßen. Aus Hochachtung vor Lenz sogar mit einem Gläschen Aquavit, dem bevorzugten Getränk vieler seiner Figuren.

Siegfried Lenz: Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur. Aufsätze. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2001, 80 Seiten.

Sämtliche Werke von Siegfried Lenz sind in einer Gesamtausgabe bei Hoffmann und Campe erhältlich, zum Beispiel:

Arnes Nachlass. Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999.

Dieser Roman ist auch als Hörkassette lieferbar: Arnes Nachlass. 3 Cassetten. Ungekürzte Lesung vom Autor. Hoffmann und Campe Audios.

Ein Großteil der Werke ist auch in preiswerten Taschenbuchausgaben bei DTV erschienen, zum Beispiel: Deutschstunde. Roman. DTV, München.

Es waren Habichte in der Luft. Roman. DTV, München.

Freitag, 16. März 2001

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