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Der russische Schriftsteller Viktor Kriwulin im Gespräch

"Mickymaus ist gleich Lenin"

Von Michael Martens

Viktor Kriwulin aus St. Petersburg war einer der Protagonisten der sowjetischen Samisdatliteraturszene. Er arbeitet als Feuilletonist für die "FAZ" und zahlreiche russische Zeitungen.

W. Z.: Hier in St. Petersburg gibt es das "Kriwulin-Phänomen": Jeder kennt Viktor Kriwulin, aber niemand weiß etwas über ihn. Woher kommen Sie eigentlich?

Viktor Kriwulin: Ich wurde 1944 in einem mobilen Militärhospital in der Ukraine geboren, praktisch direkt hinter der Frontlinie. Meine Mutter war dort Leiterin eines sogenannten "Medizinisch-Sanitären Bataillons". Vorher waren meine Eltern bei der Verteidigung Leningrads eingesetzt worden. Väterlicherseits waren meine Vorfahren Offiziere, durch viele Generationen hindurch. Ich bin der erste, der diese Tradition nicht fortgesetzt hat. Eigentlich stammen meine Vorfahren aus Weißrussland, aus Mogiljow. Dort lebten meine Eltern, dort wurden auch meine jüdischen Großeltern umgebracht, die ich von Vaters Seite hatte.

W. Z.: Liest man Ihre Texte, denkt man, Sie seien Petersburger.

Kriwulin: Bin ich auch. Ich bin mit vier Jahren hierher gekommen, obwohl meine Eltern nach der Blockade eigentlich nicht nach Leningrad zurückkehren wollten, so schwer lastete die Erinnerung auf ihnen. In dieser Wohnung hier bin ich aufgewachsen und fast gestorben, als ich kurz nach unserer Rückkehr in die Stadt schwer krank wurde. Meine Mutter war als Ärztin beschäftigt, der Vater hatte viel zu tun, und ich hatte hier die volle Freiheit als Vierjähriger. Ich bin halbnackt in der Wohnung herumgerannt und habe mir so eine Lungenentzündung geholt. Dass ich heute noch auf Krücken gehe, ist auf die Folgen eins Hitzeschocks zurückzuführen, mit dem diese Lungenentzündung kuriert wurde. Ich hatte mehrere Tage über 40 Grad Fieber, Penizillin gab es nicht. Niemand wusste, was zu tun war. Wir haben dann einen alten deutschen Arzt gefunden, der sagte, dass ich wohl sterben würde. Nur eine radikale Maßnahme könne noch helfen. Sie bestand darin, dass man Glas zum Schmelzen brachte, mich mit Wachs einrieb und kurz in das kochende Glas eintauchte. Das hat mich gerettet. Nur gehen konnte ich nie wieder, weil Teile meines Nervensystems zerstört waren. Warum nehmen Sie keinen Tee?

W. Z.: Später, Danke. Darf ich auf ein anderes Gerücht zu sprechen kommen? Es heißt, Sie seien mit Anna Achmatowa befreundet gewesen.

Kriwulin: Befreundet ist zu viel gesagt, da hat das Gerücht die Wahrheit überflügelt. Ich hatte als 15-Jähriger Umgang mit einem Mädchen, dessen Mutter eine Freundin Achmatowas war. Über diese Freundin habe ich Achmatowa kennen gelernt und durfte ihr meine Gedichte vorlesen. Sie lobte sie sogar, obwohl es ziemlich schlechte Gedichte waren. Mir scheint es heute so, als habe sie sich einfach über alle jungen Menschen gefreut, die damals zu ihr kamen. Ich war dann mehrmals bei ihr. Sie war eine sehr kluge Frau, aber auch eine Dame, die sehr genau auf ihre Wirkung bedacht war. Anna Achmatowa war damals schon eine legendäre Figur, es war kaum vorstellbar, dass sie noch lebte - und dann saß sie einem gegenüber.

W. Z.: Und Ihre Gedichte haben Anna Achmatowa gefallen?

Kriwulin: So sagte sie wenigstens. Und dann sagte sie über mich noch etwas sehr Schönes: "Dies ist ein Mensch, der einem Teufel ähnlich sieht, aber in seinen Augen ist etwas von Gott." Nachdem sie uns ein wenig zugehört hatte, las sie selbst aus ihren Gedichten und fragte uns danach, ob wir die Prosa von Mandelschtam gelesen hätten. Hatten wir nicht.

Da warf sie uns raus und sagte: "Lest das, danach könnt ihr wiederkommen!" Das haben wir dann auch gemacht und ich war noch ziemlich oft bei ihr. Ich habe später aber aufgehört, zu ihr zu gehen. Sie hat oft einen derartigen Blödsinn von sich gegeben, dass einem schlecht werden konnte. Aber dahinter stand eine Politik. Sie wollte einen Mythos schaffen um ihren Kreis herum.

W. Z.: Wenn wir hier schon klatschen, dann richtig: Sie kannten auch Joseph Brodsky, der war ja fast Ihr Jahrgang.

Kriwulin: Er war nur vier Jahre älter als ich. Und ich will Ihnen offen sagen: Ich war damals sehr neidisch auf seinen Ruhm. Einmal war eine Gruppe junger Schriftsteller, auch Brodsky war dabei, bei Achmatowa. Sie sagte: "Ihr jungen Leute könnt euch glücklich schätzen, ihr lebt in einer Zeit des Aufblühens der Lyrik." Ich fragte: "Was denn für ein Aufblühen?" Und Achmatowa: "Na, immerhin gibt es doch den Brodsky." Das hat mich sehr gekränkt damals. Mir gefiel vieles nicht von dem, was er schrieb und Brodsky war sehr skeptisch gegenüber dem, was ich schrieb. Heute bin ich sogar der Meinung, dass Brodsky zu einem großen Teil Recht hatte. Das meiste von dem, was ich in den sechziger Jahren geschrieben habe, ist längst vernichtet worden von mir.

W. Z.: Wo haben junge, nicht systemkonforme Dichter wie Sie und Brodsky damals eigentlich aus ihren Gedichten vortragen können?

Kriwulin: Irgendwo gab es immer eine Möglichkeit, vor einem kleinen Kreis aufzutreten. Wir waren zwar alle keine Mitglieder im Schriftstellerverband, aber man ließ uns gewähren. Mal fand der Schriftstellerverband einen Raum für Lesungen von einem von uns, mal der Komponistenverband, mal trat man in irgendeinem Militärtechnischen Institut auf. Das ergab sich so. Wir existierten und wir existierten nicht.

W. Z.: Wovon haben Sie denn gelebt?

Kriwulin: Zwei Jahre lang auf Kosten meiner Eltern, denn nachdem ich einen Antrag auf Ausschluss vom Komsomol gestellt hatte, war ich von der Universität geflogen. Zeitweilig hatte ich dann sogar eine historisch bedeutsame Arbeit. Seit 1709 wird in St. Petersburg täglich der Wasserstand der Newa vermessen und in ein Buch eingetragen. Dieser Wasserstandmesser war ich. Meine einzige Aufgabe bestand darin, Tag für Tag eine Stange ins Newawasser halten und die Wasserhöhe in das seit über zwei Jahrhunderten fortgeschriebene Buch einzutragen. Damit habe ich im Wortsinne einige Zeilen der Geschichte dieser Stadt geschrieben. Ich habe diese Arbeit dann aber verloren, weil ich auf die Idee gekommen war, die Wasserstände schon auf ein halbes Jahr im Voraus einzutragen, um die Tage gänzlich frei zu haben, was nach einigen Monaten durch einen dummen Zufall aufflog.

Später fand ich dann aber eine andere wunderbare Arbeit: Ich war 17 Jahre lang Redakteur in einem völlig sinnlosen Verlag für medizinische Populärliteratur, die kein Mensch las. Dort hatte ich mein eigenes Büro mit einem großen Schreibtisch und einem Telefon. Die schwierigste Aufgabe für mich bestand darin, meine Aufgaben in diesem Verlag, die sich bequem an einem Vormittag hätten erledigen lassen, auf ein Jahr auszudehnen. Denn ein Verlust dieser Arbeit hätte einen Verlust meines Büros nach sich gezogen, und das Büro war alles für mich: Dort habe ich gelesen, Gedichte geschrieben und Freunde empfangen. Aber es wäre mir in diesen Jahren nie in den Sinn gekommen, dass ich jemals vom Schreiben würde leben können. Brodsky übrigens auch nicht.

W. Z.: Hat Sie das nicht gestört?

Kriwulin: Nein. Es gab in der Stadt eine ziemliche dichte und große inoffizielle Literaturszene. Es gab literarische Kreise. Ich hatte darin meine Leser, meine Kritiker und meine Feinde.

W. Z.: Gab es damals eigentlich einen Unterschied zwischen den Literaturszenen in Moskau und Leningrad?

Kriwulin: In den Sechzigern hatte die inoffizielle Literaturszene in Moskau ihren Zenit bereits überschritten. Das Zentrum verlagerte sich nach Leningrad. Die meisten Moskauer Karrieren haben hier angefangen - die Sorokins zum Beispiel.

W. Z.: Und jetzt?

Kriwulin: Hat Moskau aufgeholt. Prosaisten zum Beispiel haben wir in Petersburg überhaupt nicht, keinen einzigen, da ist ein völliges Loch. Vielleicht liegt das auch am Erbe der Untergrundkultur. Sie eignet sich ihrem Wesen nach eher für die kleinen Formen als für monumentale Vorhaben, die viel Geld kosten oder viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Petersburger Untergrundkultur der siebziger Jahre war eine sehr lokale Angelegenheit mit einer sehr lokalen Sprache, die teilweise schon in Moskau nicht mehr verstanden wurde. Obwohl wir alle versucht haben, aus diesem rein lokalen Code herauszukommen. Brodsky zum Beispiel wählte die große Form und orientierte sich an der Antike.

Die meisten anderen, mich eingeschlossen, standen in der Tradition der russischen absurden Literatur. Zur Absurdität kommt etwas, was für mich bis heute eine große Rolle spielt, die Religiosität nämlich. Das Paradox liegt darin, dass es sich hier um eine ganz andere Religiosität handelt als bei der europäischen oder der russisch-orthodoxen: Fassen Sie die Religion mal als Un-Sinn auf, als heitere Anerkennung der Absurdität des Daseins, und als das Wissen davon, dass wahrscheinlich irgendwo eine fehlerfreie Welt existiert, angesichts derer diese Welt, die wir als real anerkennen, noch absurder wird.

W. Z.: Was für eine Rolle erfüllt diese absurde Religiosität?

Kriwulin: Die Rolle eines unsichtbaren Lebenskerns. Die Unsichtbarkeit ist sehr wichtig, denn sobald er sichtbar wird, verliert der Kern seinen Sinn.

W. Z.: Wie sieht eine Literatur aus, der eine solche Weltsicht zugrunde liegt?

Kriwulin: Ich kann als Beispiel meinen einzigen Roman anführen, der Ende der siebziger Jahre entstand. Der Roman ist geschrieben als ein endloser Satz. Es gibt mehrere Personen, die ständig reden, einander unterbrechen und irgend etwas erzählen: Anekdoten, Geschichten, Nacherzählungen von Büchern, Rezensionen. Erst am Ende wird klar, was eigentlich vor sich geht. Vorher ist es ein großes Verwirrspiel, denn die Protagonisten haben nicht einmal Namen.

W. Z.: Das hört sich ziemlich unlesbar an.

Kriwulin: Absolut unlesbar. Zu Beginn jedenfalls. Doch dann wird der Roman vielleicht deshalb recht spannend, weil er aus Tausenden Einzelgeschichten besteht, die am Ende alle auf einen Knoten zulaufen: Es stellt sich heraus, dass alle Handelnden sich in einem Raum befinden, weil eine Hausdurchsuchung durchgeführt wird, nach einem Manuskript. Und das gesuchte Manuskript ist der Roman selbst. Die Idee war, dass die Prosa durch ihren Fluss den Leser ergreifen sollte. Wie das Leben selbst - das ergreift einen ja auch nicht, weil es einen Sinn hätte.

W. Z.: Es gibt einen Begriff, der sehr oft in Ihren Texten auftaucht: Das Wort vom Paradox.

Kriwulin: Ja, das ist für mich ein Schlüsselwort. Dazu gibt es eine Geschichte, die mit dem Roman in Zusammenhang steht: Als ich ihn gerade beendet hatte, wurde eine Hausdurchsuchung bei mir durchgeführt und der Roman konfisziert. Das war ein Schlag für mich. Es verging etwa ein halbes Jahr, bis ich verstand, dass ich mich von diesem Schlag nicht würde befreien können. So habe ich den Roman noch einmal geschrieben. Als ich bei der Szene der Haussuchung angekommen war, kamen sie ein zweites Mal zu mir und nahmen auch die zweite Fassung mit. Eine Fassung habe ich später wiederbekommen.

W. Z.: Hat Sie diese Erfahrung bewogen, verstärkt journalistisch zu arbeiten?

Kriwulin: Nein, das kam erst später und hat sich ganz natürlich ergeben. Die Literaturlandschaft, in der ich lange gelebt hatte, löste sich auf. Da habe ich verstanden, dass ich mich nach neuen Möglichkeiten umsehen musste. So fing meine journalistische Arbeit an.

Am Anfang stand ein Feuilleton, das in der "FAZ" gedruckt und hier bekannt wurde. Darüber wurde tagelang diskutiert in der Stadt. Der Artikel enthielt drei Grundthesen, die ich auch heute noch für vertretbar halte. Erstens: Deutschland hat eine kulturelle Funktion gegenüber Russland zu erfüllen - die Schaffung einer neuen russischen Verwaltung, einer Struktur, in der nicht mehr gestohlen wird. Zweitens: Wenn Deutschland Russland helfen will, dann darf es keine Mark an staatliche Stellen verteilen. Drittens: Wollen die Deutschen einen bestimmten Einfluss in Russland behalten, so dürfen sie nicht vergessen, dass die Menschen hier ein Weltreich überlebt haben, weshalb man ihnen wie Kranken begegnen muss.

Diesen Artikel habe ich der "Welt" angeboten, aber dort schreckte man wohl vor den Inhalten zurück. So bin ich zur "FAZ" gekommen und dort geblieben.

W. Z.: Haben Sie noch andere Projekte für die Zukunft geplant?

Kriwulin: Ja. Ich möchte die Erinnerung an die Zeit des Untergrunds lebendig halten und sie zu so einer europäischen Legende zu machen, wie es die Belle Époque in Frankreich war. Aber das wird mir natürlich nicht gelingen.

W. Z.: Was ist denn an dieser Epoche der sowjetischen Untergrundliteratur so bedeutsam?

Kriwulin: Es existierte damals eine Kultur des Auswählens und des Verzichts. Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass sich die Vertreter der Hochkultur bald in einer ähnlichen Situation wiederfinden werden, wie wir in den siebziger Jahren. Es wird ein Establishment geben, es wird McDonalds geben und Mickymaus, und abseits davon eine Szene von Menschen, die sich wirklich mit Kultur auseinandersetzen wollen.

W. Z.: Was haben sie gegen Donald Duck? Es gibt ernst zu nehmende Künstler, die stundenlang von der Bedeutung Donald Ducks erzählen. Vor kurzem schrieb jemand eine Doktorarbeit über die Architektur in Entenhausen.

Kriwulin: Um als Russe etwas über die Architektur in Entenhausen zu erfahren, muss ich keine Doktorarbeit lesen. Es reicht, sich die Häuser der neureichen Russen anzusehen. Entenhausen ist bei uns schon Wirklichkeit. Mickymaus ist für mich gleich Lenin. Da ist kein Unterschied.

Freitag, 09. Februar 2001

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