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Ein Gespräch mit dem deutschen Schriftsteller

Heym, Stefan: "Ideale Verhältnisse gibt es nicht"

Von Michael Martens

Wiener Zeitung: Sie haben sich vier Jahrzehnte lang, kritisch bejahend für einen Staat eingesetzt, den es nun nicht mehr gibt. Das kann nicht völlig bedeutungslos sein in Ihrer Biographie?

Stefan Heym: Natürlich ist es von großer Bedeutung, dass die DDR nicht mehr existiert, denn dadurch existiert in Deutschland die Alternative nicht mehr zum Kapitalismus. Der Kapitalismus hat gesiegt und hat den Versuch, etwas anderes, eine andere Ordnung, ein anderes Verhältnis der Menschen zueinander zu schaffen, vernichtet. Das spürt man natürlich im Leben. Die Menschen hier haben neue Probleme bekommen. Manchen geht es besser. Aber den meisten geht es, zumindest seelisch gesprochen, nicht besser. Die Verhältnisse geben weiterhin Anlass, sich Fragen zu stellen über den Staat und seine Herrschaft.

W. Z.: Das hieße, die DDR war nur denkbar als Gegenstück zur BRD und andersherum.

Heym: Ja, ohne den Kapitalismus hätte es keine DDR gegeben. Das ist doch klar.

W. Z.: Nun ist ja der Sozialismus von Marx und Engels konstruiert worden als Alternative zu dem Kapitalismus, der damals bestand. Seither hat der Kapitalismus nun ja auch ein paar Fortschritte gemacht.

Heym: Natürlich. Die Verhältnisse haben sich verändert. Die Technik hat sich verändert und die Produktionsmittel, auch die Produktionsweise hat sich verändert. Aber immer noch ist es das alte System: Die Produktionsmittel befinden sich in einer Hand, die anderen haben nichts und müssen ihre Hand verkaufen.

W. Z.: Einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz halten Sie nicht für möglich?

Heym: Ideale Verhältnisse werden nie existieren. Man wird auch nie einen idealen Sozialismus schaffen. Das gibt es nicht. Es sei denn, wir geraten zufällig ins Paradies. Aber man muss versuchen, etwas Besseres zu schaffen. Und diesen Versuch zu vertreten habe ich unternommen.

W. Z.: Was war denn das Erhaltenswerte, das mit der DDR verloren ging?

Heym: Zum Beispiel, dass es keine Arbeitslosen gab und kaum Obdachlosigkeit. All die Nachteile des Kapitalismus hat es in der DDR nicht gegeben. Dafür gab es andere Nachteile, die sehr groß waren und die viele Menschen veranlasst haben, eine Haltung gegen die Versuche einzunehmen, die da unternommen wurden.

W. Z.: Weil das Experiment die Menschen nie hat einnehmen können für sich?

Heym: So ist es. Man hat das auch sehr schlecht propagiert. Die Art, wie man mit den Menschen gesprochen hat, war total falsch. Ich habe über diesen Punkt auch immer wieder geschrieben.

W. Z.: Sie haben ja nun in vier Deutschlands gelebt: In Weimar, ganz kurz unter Hitler, dann in der DDR und jetzt in der Bundesrepublik. Wie stehen Sie zu diesem vierten Deutschland Ihres Lebens? Wie sehen Sie Ihre Rolle darin? Haben Sie überhaupt eine?

Heym: Ich glaube, dass ich nichts anders tun kann als schreiben. Wenn ich arbeite, schreibe ich. Ich webe nicht, ich stricke nicht, ich schneide niemandem die Haare. Nur als Abgeordneter im deutschen Bundestag habe ich versucht, auf eine andere Art zu wirken und das nach einer Weile wieder aufgegeben, weil mir erschien, dass die Leute, die mit mir im Bundestag saßen, darauf aus waren, sich auf Kosten des Volkes noch ein wenig zu bereichern. Ich wollte nicht der Alterspräsident dieser Menschen sein.

W. Z.: Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass die Revolutionäre von 1848 zu spät zu diktatorischen Mitteln gegriffen hätten, um ihre Revolution zu sichern. Die Grundfrage lautet aber doch wohl: Gebiert nicht jede Revolution mehr Leid als sie zu beseitigen versprach?

Heym: Das Problem ist immer dasselbe: Wenn Sie die Freiheit verteidigen wollen, können Sie den Gegnern der Freiheit keine Freiheit geben.

W. Z.: Es braucht Demokraten mit gebleckten Zähnen sozusagen.

Heym: Zumindest mit Zähnen, sie müssen ja nicht unbedingt gebleckt sein. In Deutschland zum Beispiel wäre ich dafür, dass man Rechtsextremen keine Möglichkeiten gibt, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das muss polizeilich unterdrückt werden, mit diktatorischen Mitteln.

W. Z.: Die Geschichte kennt ja keinen Konjunktiv. Sie ist immer ausgekommen ohne die Fragen nach dem "Was-wäre-gewesen-wenn?". Ihre Bücher dagegen haben diese Frage immer wieder gestellt. Wenn Sie das letzte Jahrhundert, das Sie ja fast zur Gänze miterlebt haben, sich ins Gedächtnis rufen - gibt es da eine dieser "Was-wäre-gewesen-wenn Fragen", die sich Ihnen immer wieder aufdrängt?

Heym: Das ist zwar ein sehr müßiges Gedankenspiel, aber man verfällt natürlich manchmal darauf. Also was wäre zum Beispiel gewesen, wenn 1945 das große Bündnis zwischen den Amerikanern und den Russen nicht auseinandergebrochen wäre? Was wäre geschehen, wenn die Atombombe nicht abgeworfen worden wäre über Japan? Es gibt da immer wieder historische Gabelungen, an denen sich diese Frage stellen ließe. Tatsache ist aber: Es ist so gekommen, wie es gekommen ist - und damit müssen wir uns auseinandersetzen.

W. Z: Sie haben eine Affinität zum Common Sense.

Heym: Das stimmt. Freut mich, dass Sie das bemerkt haben.

W. Z.: Man sollte meinen, dass einer, der so weit auf der linken Seite der Gesellschaft steht, für den Common Sense nichts übrig hat.

Heym: Wieso? Nur mit Common Sense können Sie Dinge ändern. Sie können doch nicht mit Träumen herangehen an Ihre Sache. Sie müssen doch mit der realen Welt rechnen.

W. Z: Aber was ist denn der grundsätzliche Impetus des Sozialismus anderes als zunächst mal: Ein Traum?

Heym: Ich glaube, der richtige Sozialismus ist eine höchst vernünftige Angelegenheit, an die man vernünftig, also mit Common Sense, herangehen muss. Wer das nicht tut, gerät unweigerlich in eine fürchterliche Klemme.

W. Z.: Ich habe von Ihnen einmal etwas gelesen, über dass ich mich geärgert habe: Sie bezeichneten 1989 in einem Essay für den "Spiegel" Ihre Mitbürger in der DDR als eine "Horde von Wütigen", die bei Hertie auf die Jagd nach Tinnef ginge. Wie aber kann man, bildlich gesprochen, einem Menschen, der nie gereist ist, sein Fernweh vorwerfen oder dass er geblendet ist vom Glanz des Goldes, wenn er Gold nie besaß?

Heym: Man hat mich ja dann auch sehr kritisiert für diesen Artikel. Ich muss anerkennen, dass die Menschen an die Grabbeltische geströmt sind, weil sie die vorher nicht gehabt haben. Aber das nun als das Vorbild zu bezeichnen, die Existenz von Grabbeltischen, das ist wohl nicht das allein Entscheidende. Es gibt auch noch andere Momente. Das habe ich damals gesagt. Es war eine sehr radikale Situation und ich habe mich sehr radikal geäußert dazu. Vielleicht wäre es für meine Bequemlichkeit besser gewesen, wenn ich mich vorsichtiger ausgedrückt hätte. Aber ich hielt es für notwendig in der damaligen Lage, das so zu sagen wie ich es gesagt habe, und die Kerle im "Spiegel" haben es auch mit großem Vergnügen abgedruckt, um mich ein paar Wochen später genau deswegen zu attackieren.

W. Z.: Was haben Sie gedacht, als Sie die Nachrufe auf Honecker gelesen haben?

Heym: Ich habe es eigentlich bedauert, als er gestorben war, denn ich hätte gern noch mal mit ihm geredet. Ich hatte sogar die Absicht, ihn zu interviewen. Schon Ulbricht hatte ich interviewen wollen nach seiner Absetzung, aber der ist mir dann auch weggestorben. Honecker hatte ja zunächst, nach seinem Machtantritt, dafür gesorgt, dass der "König-David-Bericht", die "Schmähschrift" und der "Lassalle" in der DDR erscheinen konnten. Danach hat er seine Haltung geändert, weil politische Entwicklungen ihren Lauf genommen hatten, die ihm das Gefühl gaben, dass seine anfängliche Liberalität ein Fehler war. Die Menschen haben halt Widersprüche. Das interessiert mich. Darum hätte ich gern noch einmal mit ihm gesprochen.

W. Z.: In Ihren Romanen sind meist Intellektuelle die Protagonisten: Schriftsteller, Revolutionäre, Journalisten.

Heym: Das liegt daran, dass Menschen dieses Typs die Widersprüche stärker empfinden und reflektieren. Das ist für mich als Schriftsteller viel nützlicher, als wenn ich mir Leute vornehmen würde, die nichts oder so gut wie nichts im Kopf haben.

W. Z.: Was bleibt von der Arbeit, von der Arbeit des Stefan Heym?

Heym: Die Bücher. Und wenn in den Büchern Menschen vorkommen, in die der Leser sich hineinversetzen kann, dann werden sie auch ein langes Leben haben.

W. Z.: Folgt noch eine uralte Frage: Was meinen Sie denn ist die Wirkung von Büchern?

Heym: Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen zur direkten Wirkung des Wortes: Während des Krieges habe ich bei Radio Luxemburg psychological warfare gemacht. Das Ende jeder Sendung bildete jeweils ein Witz für die Soldaten. Nach einer Weile gingen uns die Witze aus. Ich bat daher meine Kollegen, bei ihren Verhören von Wehrmachtssoldaten auch zu fragen, ob die Gefangenen nicht Witze wüssten. Was dabei herauskam war, dass die Gefangenen uns unsere eigenen Witze zurückerzählt haben. Das ist also ein eindeutiger Fall von direkter Wirkung des Wortes. Es gibt auch in meinen Büchern Szenen, die direkt gewirkt haben. Diese Wirkung kam von der Seite des herrschenden Apparats her. Der hat angefangen, die Verbreitung meiner Bücher zu unterbinden. Jahrzehntelang. Das ist ja wohl eine direkte Wirkung. In der DDR waren meine Bücher das, was man als "Bückware" bezeichnete. Das heißt, sie wurde unter dem Ladentisch verkauft.

W. Z.: In der Szene des "Nachrufs", in der Sie beschreiben, wie Sie 1944 erstmals mit deutschen Kriegsgefangenen in Berührung kamen, ist eine große Entfremdung zu spüren. Sind die Deutschen "die anderen" geblieben für Sie?

Heym: Ich bin gegen nationale Vorurteile. Ich sehe den Menschen nicht als Deutschen oder Franzosen, sondern als Menschen. Es gibt natürlich Unterschiede in den Haltungen der verschiedenen Völker, aber das sind nicht die wichtigen Unterschiede. Die entscheidenden Unterschiede sind die zwischen den Klassen. Die sind viel größer als die zwischen den Völkern. Aber die gefangenen Deutschen damals waren Feinde. Das waren Kriegsgefangene, die noch kurz zuvor auf uns geschossen hatten. Als ich später nach Berlin zurückkam, nicht als Soldat, sondern nachdem ich schon in die DDR übergesiedelt war, habe ich mich oft gefragt, ob der Mann, der neben mir in der S-Bahn saß, nicht womöglich meinen Onkel oder meine Tante umgebracht hat. Das wäre ja möglich gewesen. So ein Gefühl hatte ich. Mittlerweile hat sich das bei mir verloren.

W. Z.: Wenn Sie früher von der DDR in die BRD reisten für Lesungen oder Ähnliches, was für einen Unterschied im geistigen Klima bemerkten Sie da? Lässt sich das erklären?

Heym: Die DDR wurde immer als der kleine Nachbar angesehen. Man wusste im Westen nur, was dort in der Presse erschien, und das war kein vollkommenes Bild. Aus meinen Büchern ließ sich etwas über die DDR erfahren, es gab auch einige fähige Korrespondenten, die sehr viel wussten und ein treffendes Bild vermittelten. Fritz Pleitgen zum Beispiel. Ein vollständiges Bild aber, mit all seiner Komplexität, das hat wohl im Westen kaum einer gehabt. Nun darf man auch nicht vergessen, dass man in der Bundesrepublik ohnehin nur daran interessiert war, ein ganz bestimmtes Bild von der DDR zu zeigen. Das war kein echtes Bild, sondern eines mit Vorurteilen. Die FAZ hat jetzt zum ersten Mal eine anständige Kritik über ein Buch von mir gebracht, was mich natürlich sehr gefreut hat, obwohl ich im allgemeinen nicht viel auf Kritiken gebe.

W. Z.: Sie meinen also, die Kritik interessiert Sie nicht? Wenn Marcel Reich Ranicki Sie in seinen 600-seitigen Lebenserinnerungen nicht einmal erwähnt, lässt Sie das kalt?

Heym: Hat er mich nicht erwähnt? Da sehen Sie, wie zuverlässig die Kritiker sind. Wenn er mich erwähnt hätte, hätte er mich sicher verrissen. Das wäre auch gut gewesen, denn ein guter Verriss ist nützlich. Aber so haben wir ein sehr kühles Verhältnis miteinander.

W. Z.: Fühlen Sie sich vom Jahrhundert betrogen?

Heym: Ich bedaure, dass die DDR auf diese schändliche Weise zugrunde gegangen ist. Aber dass ich mich betrogen fühlte - wieso? Ich habe doch keine Ansprüche gehabt.

W. Z.: Haben Sie einmal das Gefühl gehabt in Ihrem Leben, richtig zu einer Gruppe dazuzugehören?

Heym: Aber ja, natürlich. Zwar nicht einer besonderen politischen Gruppe, wohl aber einer Gruppe von Menschen, von Schriftstellern, von Kollegen in der DDR. Wir haben uns sehr gut verstanden, obwohl wir sehr verschieden waren. Es gab ja keine Schriftstellergruppe in der DDR, die gemeinsam politisch aufgetreten ist. Jedenfalls keine, an der ich beteiligt war. Natürlich frage ich mich manchmal, ob alles umsonst war und warum alles so gekommen ist wie es kam. Das sind auch meine Fragen, das ist eines meiner literarischen Themen.

W. Z.: Man könnte das in das Bild eines Fußballspiels kleiden. Erste Halbzeit: Ihre Mannschaft liegt knapp vorn. Nach der neunzigsten Minute: Leider knapp verloren.

Heym: Na ja. So genau sind die Parallelen denn wohl doch nicht. Die Mannschaften waren ja sehr verschiedenartig zusammengesetzt. Mit den Doktrinären in meiner Mannschaft habe ich nicht sehr gut zusammengespielt und die nicht mit mir.

W. Z.: Sie waren ein Außenseiter im eigenen Team?

Heym: So ungefähr kann man das wohl sagen. Ja.

Stark gekürzte Fassung eines Gesprächs, das im September 2000 stattfand und in voller Länge im Frühjahr 2001 in der Buchreihe "Gespräche über die Zeit" erscheinen wird, die Michael Martens im Hans Boldt Verlag Winsen/Luhe herausgibt. Im selben Verlag ist kürzlich auch Martens' Porträt des Czernowitzer Dichters Josef Burg erschienen: "Irrfahrten - ein ostjüdisches Leben", 63 Seiten.

Freitag, 19. Jänner 2001

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