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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Zum 30. Todestag des französischen Schriftstellers Jean Giono

Aus Freude an der Lüge

Von René Freund

Um den unbekannten Autor des Romans "Colline" vorzustellen, verbreitet der Verlag Grasset im Jahr 1929 folgende lakonische biographische Notiz: "Jean Giono. Geboren in Manosque 1895. Kann lesen und schreiben. Kann nicht schwimmen."

"Kann nicht schwimmen": Dieser Satz trifft in all seiner Doppeldeutigkeit auf Jean Giono zu. Der Autodidakt war als Autor lange umstritten, wollte er doch mit keiner der modernen literarischen Strömungen mitschwimmen. Unterzugehen drohte Giono auch im Ersten Weltkrieg, wo er zum radikalen Pazifisten wurde, was ihm später die Feindschaft von rechten und linken Gruppierungen einbrachte.

Heute, 30 Jahre nach seinem Tod, schwimmt der Name Giono wieder obenauf: Er wird in literarischen Kreisen in einem Atemzug mit Marcel Proust genannt. Die erfolgreiche Verfilmung seines Romans "Der Husar auf dem Dach" hat in Frankreich eine Giono-Renaissance ausgelöst. Doch im deutschsprachigen Raum gilt Giono allenfalls als Geheimtipp. Sein einzig halbwegs bekanntes Werk wird als Mini-Taschenbuch gehandelt: "Der Mann, der die Bäume pflanzte" ist die populäre Öko-Geschichte eines Hirten, der auf seinen Wegen Eicheln aussät und so nach und nach einen kargen Landstrich wieder in eine blühende Landschaft verwandelt. Giono selbst hat die Geschichte immer als authentisch bezeichnet und vorgegeben, den Mann, der die Bäume pflanzt, persönlich zu kennen. In Wirklichkeit ist die Legende von dem "grünen" Hirten eine Erfindung Gionos. Das augenzwinkernde Lügen, das "Gschicht'ldrucken" ist eine Leidenschaft der Provençalen. Giono: "Freude an der Lüge: sie verschönert das alltägliche Leben, unterhält die Freunde, regt die Phantasie an und erzeugt Vollkommenheit dort, wo sie fehlt."

Mit der Provence hat sich Giono immer identifiziert. In dem kleinen Städtchen Manosque nördlich von Aix-en-Provence kam er, als Sohn eines Schusters und einer Büglerin, auf die Welt, in Manosque hat er geschrieben, in Manosque ist er gestorben. Nur in Ausnahmefällen hat er seine Heimatstadt verlassen, zum Beispiel in diesem Jahr 1929, als er anlässlich des Erscheinens seines ersten Buchs nach Paris fuhr. Es war das erste Mal, dass der Nichtschwimmer Giono sich in die trüben Gewässer der französischen Metropole begab, und er sollte sie bis an sein Lebensende herzlich hassen. Und das, obwohl er auf Anhieb Erfolg hat: "Colline" wird begeistert aufgenommen und Giono sofort in den Rang eines bedeutenden Schriftstellers erhoben, unter anderem von André Gide, der auch später sein Freund und Fürsprecher sein wird. Dennoch will Giono nur eines: In die Täler und Berge zwischen der Durance und dem Lure-Massiv zurückkehren, jene verzauberte Landschaft, die ihn die Liebe zu den Jahreszeiten, zu den Bäumen, den Unwettern, den Felsen, den riesigen Schafherden und der Kargheit gelehrt hat.

Die Ablehnung der mondänen literarischen Zirkel hat sicher dazu beigetragen, Giono den zweifelhaften Ruf eines "regionalistischen" Schriftstellers zu verpassen. Nichts ist falscher als das: Auch wenn viele der Werke Gionos in der Haute-Provence spielen, die Themen, um die es geht, sind universell-menschlich: Liebe, Hass, Krieg, Gott, Natur. "Wie unser Faulkner", schrieb der Giono-Fan Henry Miller, "erzeugt auch Giono seinen eigenen irdischen Bereich, einen mythischen Bereich, der der Realität entschieden näher ist als Geschichts- und Geographiebücher."

Ein Wunder von mythischer Dimension ist es auch, dass Jean Giono überhaupt zum Schriftsteller werden konnte: Als sein Vater, ein Schuster, im Jahr 1911 schwer erkrankt, muss Giono die Schule verlassen und als Laufbursche bei einer Bank arbeiten, um die Familie erhalten zu können. Schon damals beginnt er aber in seiner spärlichen Freizeit wie besessen zu lesen: die großen griechischen und lateinischen Klassiker in populären Ausgaben, Dante, Shakespeare, Musset, Baudelaire. Giono liest nicht nur, er lernt beim Lesen: Er lernt, dass ein Schriftsteller ein Handwerker ist, dass er die Techniken seines Metiers beherrschen und vervollkommnen muss, dass Worte, Rhythmus, Farben, Laute mit großer Gewissenhaftigkeit gewählt werden müssen.

Der kleine Bankangestellte Giono ist 19 Jahre als, als der Erste Weltkrieg ausbricht. 1915 wird er zur Alpin-Infanterie eingezogen und macht die grauenvollen Schlachten um Reims und um Verdun mit. "Ich habe keine Seele mehr, ich habe kein Herz mehr, ich habe keinen Himmel mehr, ich habe keine Ideale mehr, ich bin nur noch Knochen, Fleisch und Waffe." Giono wird mehrfach verletzt, unter anderem gerät er auch in einen Gas-Angriff.

Erster Roman wird Erfolg

Nach dem Krieg kehrt Giono auf seinen Posten als Bankangestellter zurück. 1920 heiratete er Elise Maurin, mit der er zwei Töchter bekommen und eine glückliche Ehe bis an sein Lebensende führen wird. Giono beginnt kleine Essais zu schreiben, Skizzen, Pläne. In einer regionalen Literaturzeitschrift erscheint bald ein erster Artikel von ihm. Der Erfolg seines ersten großen Romans verändert sein Leben: "Colline" erhält den amerikanischen Brentano-Preis. Im selben Jahr wie "Colline" erscheint "Un de Baumugnes". 1930 folgt "Regain". Zeitungen und Revuen bestellen Texte bei Giono, der beschließt, seinen Job bei der Bank aufzugeben und fortan vom Schreiben zu leben. Er kauft ein Haus auf einem Hügel oberhalb von Manosque, in dessen Obergeschoß er in den folgenden Jahren ein Werk nach dem anderen verfasst: "Le grand troupeau" (eine erschütternde Anklage des Kriegs), "Que ma joie demeure", "Jean le Bleu". Jedes dieser Bücher vermehrt seinen Ruhm.

Giono beginnt sich zu engagieren. Er wird Mitbegründer der linken Wochenzeitschrift "Marianne". Im Zentrum von Gionos politischem Denken steht ein fast schon militant zu nennender Pazifismus, den er sich in den Schützengräben von Verdun angeeignet hat. Giono beginnt in den dreißiger Jahren eine Art Guru-Figur zu werden. Auf der Contadour-Hochebene teilen in den Oster- und in den Sommerferien junge Menschen und andere Suchende mit ihm die Freuden des einfachen Lebens: Es wird gelesen, geschrieben, musiziert, diskutiert.

Von den "Contadour"-Leuten lässt sich Giono in eine Rolle drängen, die ihm gar nicht liegt: jene des politischen Agitators. Giono ist viel zu sehr Autor, um auf das Schreiben verzichten zu können. Ihn als politischen Pazifisten und Anarchisten zu bezeichnen, wäre ein Missverständnis. Giono ist zum Beispiel - im besten Sinne - zu naiv, die beginnenden Kämpfe zwischen Parteikommunisten, Sozialdemokraten und Trotzkisten zu verstehen. Sein Pazifismus ist humanitärer, sein Anarchismus persönlicher Natur.

Als die politische Situation sich gegen Ende der dreißiger Jahre immer mehr zuspitzt, schreibt Giono den Aufruf "Verweigerung des Gehorsams", ein radikal-pazifistisches Manifest, das unter anderem folgende Sätze enthält, die dem Autor später vorgeworfen werden und ihn sogar ins Gefängnis bringen sollten: "Was kann uns schlimmstenfalls passieren, wenn die Deutschen Frankreich erobern? Dass wir zu Deutschen werden? Ich für meinen Teil will lieber ein lebender Deutscher sein als ein toter Franzose."

Im September 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbricht, befindet sich Giono auf der Contadour-Ebene. Er ringt tagelang mit sich und tut schließlich etwas, was von vielen als Verrat an seinen Schriften empfunden wird: Aus Sorge um seine Familie, die im Falle seiner Desertion ebenfalls mit Repressalien zu rechnen haben würde, fährt er nach Digne und stellt sich der Mobilisierungskommission. Doch beim Militär ist er kein Unbekannter mehr. Offensichtlich wird er als gefährlich eingestuft: Giono wird am 16. September 1939 wegen "Defätismus" verhaftet und in Marseille eingesperrt. Im Gefängnis schreibt er Teile seiner Hommage an Herman Melville, dessen "Moby Dick" er übersetzt hat.

Nach zwei Monaten wird Giono, möglicherweise durch die Intervention seiner Pariser Fürsprecher, wieder freigelassen und vom Militärdienst befreit. Er kehrt nach Manosque zurück und widmet sich fortan ausschließlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sein "Journal de l'Occupation", das Tagebuch der Jahre 1943 bis 1944, enthält wenig Politisches und viele Beobachtungen zum Leben in der Familie und zur eigenen Arbeit. Dass Giono sich als Aktivist zurückhält, bedeutet nicht, dass er auf sein humanitäres Engagement vergessen würde: Er versteckt Widerstandskämpfer und verfolgte Juden in seinem Haus (zum Beispiel den Pianisten und Komponisten Jan Meyerowitz, der Giono in Atem hält, weil er sich ständig auffällig benimmt, und Luise Strauss, die erste Frau von Max Ernst, die es Giono auch nicht gerade leicht macht, weil sie ihn dazu überredet, ihren Liebhaber, einen deutschen Deserteur, als Gärtner anzustellen).

Nach dem Krieg sollte ihm der wagemutige Einsatz für andere Menschen vorerst nicht weiterhelfen: Giono, der nichts anderes getan hatte als die Veröffentlichung einer Geschichte in einer Nazi-Zeitung zuzulassen, wird der Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschuldigt und landet abermals im Gefängnis - diesmal für fünf Monate. Viele seiner Anhänger von früher haben sich von ihrem "Guru" abgewandt. Giono - er konnte nicht schwimmen - ist durch seine "pazifistische Naivität" in die Gegensätze zu vieler verschiedener politischer und auch literarischer Strömungen geraten. Die rechten Nationalisten lehnen ihn genauso ab wie die antipazifistischen Kommunisten und die totalitären Stalinisten. Giono gerät in Isolation. Als seine Mutter im Alter von 89 Jahren stirbt, wird Giono beim Begräbnis von nur vier Einwohnern aus Manosque begleitet. Der französische Schriftstellerverband, vom Kommunisten Louis Aragon regiert, belegt den "Provinz-Autor" mit zwei Jahren Publikationsverbot.

Mit einem fulminanten Roman schreibt sich Giono in die literarische Öffentlichkeit zurück: "Der Husar auf dem Dach", erschienen 1951, ist eine Parabel auf den Verlust der Menschlichkeit in Zeiten der Not. Angelo, ein romantischer Held in der Tradition Stendhals, in die Provence geflüchteter Freiheitskämpfer aus dem Piemont (wie Gionos Großvater), ist in Zeiten der sich ausbreitenden Cholera-Seuche der Einzige, der noch Mut, Freiheitssinn und Nächstenliebe unter Beweis stellt - wofür sich die niederträchtigen Menschen an ihm rächen wollen. Die Parallele zu Gionos Leben ist offensichtlich: Auch er, der sein Leben dafür eingesetzt hatte, Menschen in Zeiten der Not zu helfen, soll dafür gelyncht werden. 1944 wird Giono von kommunistischen Widerstandskämpfern (die sich bereits in der Vorkriegszeit an seinem Pazifismus gestoßen hatten) als "kriminell" bezeichnet und während einer öffentlichen Anhörung mehrere Male mit dem sofortigen Erschießen ohne Prozess bedroht. Zum Glück finden sich einige Zeugen, die bestätigten, dass Giono sich tatkräftig für die Verfolgten eingesetzt hat.

"Der Husar auf dem Dach" eröffnet einen ganzen Reigen weiterer Meisterwerke, die Giono in den folgenden Jahren schreiben wird: "Ennemonde et autres caractères", "Les récits de la demi-brigade", "L' iris de Suse".

Auch Drehbücher und Regie

Giono, der bereits 1930 sein erstes Drehbuch geschrieben hat, interessiert sich in seinen literarischen Schaffenspausen nun immer mehr für den Film: Zwischen 1955 und 1965 schreibt er zahlreiche Drehbücher, arbeitet bei Roman-Adaptationen mit und wird schließlich sogar Produzent und Regisseur. Als seine wichtigsten Filme gelten "L'Eau vive" (1958, Drehbuch), "Cresus" (1960, Drehbuch, Regie und Produktion, mit "Don Camillo" Fernandel in der Hauptrolle) und "Un Roi sans divertissement" (1963, Drehbuch und Dialoge). Aber im Gegensatz zu seinem "Freund-Feind" Marcel Pagnol, der nur etwa 50 km von Giono entfernt zur Welt kam, war Giono in erster Linie Schriftsteller. Filmemachen, das interessierte ihn vor allem in Bezug auf das Schreiben.

Die großen Romane Gionos galten indes lange als unverfilmbar, obwohl sich Größen wie Buñuel und Truffaut mit einschlägigen Projekten befassten. Erst 1994 gelang Jean-Paul Rappeneau eine ansehnliche Verfilmung von "Der Husar auf dem Dach" (mit Frauenschwarm Olivier Martinez als Angelo und Männerschwarm Juliette Binoche als Pauline). Zur Zeit wird in Frankreich Gionos Roman "Les âmes fortes" von Regisseur Raoul Ruiz verfilmt. Publikumswirksame Hauptdarstellerin: Lætitia Casta.

Doch nur die literarischen Erfolge waren es, die Giono mit Stolz erfüllten. 1969 kündigte die renommierte "Collection de la Pléiade" die Veröffentlichung von Gionos gesammelten Werken an. Der Autor empfing die Kommentatoren der Pléiade und erzählte ihnen viel über Entstehungsgeschichte und Hintergründe seiner Werke, "nicht ohne", wie sein Biograph Pierre Citron anmerkt, "seiner Gewohnheit gemäß ordentlich dazu zu erfinden." Gionos letzter Wunsch ging nicht in Erfüllung: Der herzkranke Autor erlebte das Erscheinen des ersten Bandes der "Pléiade" nicht mehr. In der Nacht vom 8. auf

9. Oktober 1970 starb er in Manosque im Schlaf.

Die Werke Gionos sind in deutscher Sprache nur teilweise und bei verschiedenen Verlagen erhältlich: "Bleibe, meine Freude", "Jean der Träumer", "Die große Meeresstille" (alle bei Goldmann), "Der Deserteur" (Suhrkamp), "Ennemonde" (Kirchheim), "Melville zum Gruß" (Matthes und Seitz), "Der Husar auf dem Dach" (Kiepenheuer & Witsch). Die umfangreichste Biographie Gionos stammt von Pierre Citron: "Giono 1895-1970", Ed. du Seuil, Paris 1990.

Freitag, 06. Oktober 2000

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