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Annie Proulx führt ihre Leser durch eine unerbittlich raue Welt

Proulx, Annie: Am Rande des Abgrunds

Von Christian Hoffmann

Schlank, das Haar kurz, Drahtbrillen mit runden Gläsern, schenkt sie der Kamera die Andeutung eines Lächelns. Es fällt schwer, die Verbindung zwischen der beinahe knabenhaft wirkenden Person auf dem Foto und der gefeierten Schriftstellerin im Alter von 65 Jahren herzustellen, die dreifach geschieden ist, Mutter von vier Kindern, ausgebildete Historikerin, erfahren jedoch in anderen Berufen, Kellnerin, Postangestellte oder Verfasserin von Ratgebern über den Bau von Zäunen, Gattern und Feldwegen. Die Schriftstellerei prägte auch nur einen verhältnismäßig kurzen Teil ihres Lebens, da sie bereits 53 Jahre alt war, als ihr erstes literarisches Werk erschien: "Heart Songs", eine Sammlung von Erzählungen, die sie für Fischer- und Jägerzeitungen geschrieben hatte.

Wirklich, Annie Edna Proulx ist eine Frau, die in kein Schema passt. 1935 kam sie in Norwich, Connecticut, zur Welt; ihr Vater hatte sich zum Vizepräsidenten einer Textilfirma hochgearbeitet, der Mutter blieb daher Muße, sich der Malerei zu widmen. Die Familie übersiedelte mehrfach im Nordosten der USA, North Carolina, Maine, Rhode Island, und schließlich nach Vermont, wo Annie später, als Erwachsene, einen großen Teil ihres Lebens in dem Dorf Vershire in einem einfachen Holzhaus verbringen sollte.

Über ihre Kindheit und Jugend verrät sie wenig, nur, dass sie, die älteste von fünf Schwestern, sich zeitlebens für "die andere Hälfte der Gleichung" interessiert habe, den männlichen Blick auf die Welt. "Als ich jung war", sagt sie, "unternahmen Frauen keine Schitouren, Kletterpartien oder abenteuerliche Kanufahrten", und erklärt damit auch, warum ein großer Teil ihrer literarischen Helden männlichen Geschlechts sind: "Vielleicht erweckt der erfundene männliche Charakter den Bruder zum Leben, den ich nie gehabt habe."

Lächeln und Schweigen

Das Wort "Held" ist allerdings im Zusammenhang mit den Figuren der Annie Proulx irreführend. Unter ihren Charakteren ist der Journalist Quoyle aus dem Roman "Shipping News" noch der glücklichste. Von ihm, dem fleischgewordenen Kontrapunkt zum "American Way of Life", heißt es gleich auf der ersten Seite des Buchs, dass er seine Kindheit "überlebt" und die Qualen der Ausbildungsjahre "mit Lächeln und Schweigen" überspielt hat. Später meint es das Leben auch nicht übermäßig gut mit ihm. Er hat es gerade zum Reporter einer schäbigen Provinzzeitung und zum chronisch betrogenen Ehemann gebracht, als seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kommt, er die Stelle verliert und sich mit zwei kleinen Kindern und ohne regelmäßiges Einkommen irgendwie durchschlagen muss.

Wie die meisten Gestalten der Annie Proulx ist Quoyle ein potentieller Verlierer, der hart zu kämpfen hat, um sich gegen eine Unzahl von Katastrophen zu behaupten. Gemeinsam mit einer alten Tante bricht er nach Neufundland auf, wo er im Dorf seiner Vorfahren als Journalist bei einem Lokalblatt ein neues Leben sucht. Im Unterschied zu anderen Figuren der unerbittlichen Dame aus Vershire, hat er bei diesem Versuch zumindest teilweise Erfolg. Seine Kolumne über die im Hafen ein- und auslaufenden Schiffe mit dem Titel "Shipping News" kommt an, die Zeitung wird vorerst nicht eingestellt, und am Schluss sieht man Quoyle sogar zusammen mit einer Frau, die ihn vielleicht nicht betrügen oder verlassen wird, eine Wendung, die von vielen als Happyend aufgefasst wurde. Angesprochen auf dieses Missverständnis zeigt die alte Dame jedoch ihr schmales Lächeln: "Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass die Abwesenheit von Unglück schon wie strahlendes Glück aussieht."

Im Schatten leben

Trotz seines verhältnismäßig milden Schicksals hat Quoyle mit einem Problem zu kämpfen, das für alle Geschichten der Annie Proulx charakteristisch ist: Die Reise nach Neufundland, dem Land, in dem sein Vater aufwuchs, bedeutet zugleich die Erforschung eines Fluchs, der über der Familie liegt. Figuren, die im Schatten vergangener Gewalttaten leben, heimgesucht von den irrational gewordenen Spätfolgen blutigen Unrechts, stehen auch im Mittelpunkt der anderen Romane und der Erzählungen. "Stone City" zum Beispiel, eine der ersten literarischen Veröffentlichungen der Annie Proulx, kreist um eine verlassene Siedlung in Vermont, deren Bewohner die Umgebung in Angst und Schrecken versetzt hatten und schließlich von einer empörten Masse gelyncht wurden, und deren Nachfahren immer noch in hartnäckiger, wortloser Zwietracht mit ihrer Umgebung leben. "Post Cards", der erste Roman, beschreibt die Flucht eines Mörders, der nirgendwo Ruhe finden kann, so weit er sich auch von der Tristesse des heimischen Bauernhofs entfernt. "Accordion Crimes", der Roman, von dem die "Toronto Sun" vermutet, es handle sich um das "düsterste Buch aller Zeiten", ist die Geschichte eines Akkordeons, das Einwanderer aus Sizilien in die USA mitbringen, und das als Zeuge der nicht enden wollenden Grausamkeiten des Einwandererlebens selbst den Fluch verkörpert, der die ins gelobte Land Ausgewanderten über Generationen verfolgt.

Indes begründet sich der Erfolg der alten Dame selbstverständlich nicht auf der Anhäufung von Katastrophen, die in manchen Fällen sogar gekünstelt wirkt und ihr bei ihren Lesern nicht immer Sympathien einträgt. Ihre eigentliche Kunst besteht darin, durch Weglassen, Abbrechen, knappe Beschreibungen und die raffinierte Verwendung lokaler Idiome, eine eigentümliche Atmosphäre zu schaffen, eine Atmosphäre von Bedrohung und Gefahr, in der der Leser unwillkürlich Anteil am Überlebenskampf der Akteure nimmt und deren Qualen existentielle Metaphern werden. "Close Range", eine zweite Sammlung von Erzählungen, erschienen 1999, ist der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung.

Die in dem Band versammelten Geschichten, die im Original längst nicht mehr in Jägerzeitungen sondern in den renommiertesten Blättern der USA wie "The New Yorker" oder "The Atlanic" erscheinen, erzählen vom Leben in den Prärielandschaften Wyomings am Fuß der Rocky Mountains, wohin die Autorin Mitte der neunziger Jahren übersiedelt ist. Milder ist ihr Ton dabei nicht geworden. Mit lautem Krachen brechen die Knochen des Rodeoreiters, die rasierklingenscharfen Krallen des Emus schlitzen den Bauch ihres Betreuers im Tierpark auf, auf dem Dachboden werden Frauenleichen verstaut ("Wer so weit draußen wohnt, hat seine eigene Vorstellung von Spaß").

Mit dem Reifeneisen

Warum Annie Proulx von vielen Kritikern zu den bedeutenden Figuren der amerikanischen Gegenwartsliteratur gezählt wird, kann "Brokeback Mountains" veranschaulichen, der Schlussakkord zu "Close Range". Es handelt sich um die Romanze von Ennis und Jack, zwei schwulen Cowboys, genauer gesagt zwei Schafhirten, die als Jugendliche gemeinsam ihren ersten Sommer in den Bergen verbringen. Zwischen den beiden entspinnt sich dort eine erotische Beziehung, die zur Leidenschaft ihres Lebens werden soll.

Mit knappen Pinselstrichen tupft Annie Proulx Szene um Szene aus den darauffolgenden Jahrzehnten hin, wie die beiden Männer, die von einander loszukommen versuchen, Frauen kennen lernen, mit ihnen im Bett landen, Familienväter werden und dennoch immer wieder zueinander zurückkehren. Man sieht sie vor sich, die Gesichter der unzufriedenen Ehefrauen, die das Spiel bald leid sind, mit wachsender Erbitterung auf die Rückkehr ihrer Männer von den als Jagdausflügen getarnten erotischen Touren erwarten.

Pech für Travolta

Wie ein Leitmotiv färbt außerdem eine Episode aus Ennis' Kindheit das Geschehen, die Erinnerung an den Leichnam eines Homosexuellen, den ihm als Neunjährigem sein Vater gezeigt hat, mit dem Reifeneisen aufgespießt, den Penis abgerissen, das Gesicht zerquetscht. "And I don't want a be dead", stöhnt Ennis, um doch wieder zum nächsten Treffen mit dem Geliebten aufzubrechen, von dem er schließlich hört, dass er bei einem Unfall ums Leben gekommen sein soll, als er gerade beschäftigte war, auf einer entlegenen Landstraße einen Reifen seines Wagens zu wechseln.

Nach dieser jähen Rückkehr der Erzählung zu den symbolischen Autoreifen nimmt der Leser die Geschichte von Unfall ebenso so skeptisch auf wie Ennis, durch dessen Träume Jack den Rest seines Lebens spuken wird.

Ja, die Geschichten der alten Dame aus der Prärie widersetzen sich aller Lieblichkeit. Sogar John Travolta kann ein Lied davon singen. Als 1994 mit dem Pulitzer Preis die Begeisterung um Annie Proulx ihren ersten Höhepunkt erreichte, nahm er sich vor, Quoyle aus dem Erfolgsroman "Shipping News" in einem an Originalschauplätzen gedrehten Film zu spielen.

Nach zwei Jahren der Vorarbeiten gaben die Produktionsfirma Columbia und John Travolta das Projekt auf. Man habe sich nicht über das Skript einigen können, hieß es in einer lakonischen offiziellen Mitteilung. Im Drehbuch von Laura Jones, die immerhin Filme wie "Portrait of a Lady" nach Henry James geschrieben hat, war die Art von Sentimentalität, die in Hollywood geschätzt wird, auch nach langem Kampf nicht unterzubringen. Vielleicht kommt daher das schmale, ein wenig verlegene Lächeln der Frau auf den Fotos: Die rauen, bitteren Wahrheiten ihrer Bücher stehen mit dem Gewicht von Felsen da und lassen sich nicht um einer Idylle willen wegzaubern, nicht einmal mit den geballten Mitteln der Filmindustrie.

Folgerichtig kümmert sich Annie Proulx nicht im geringsten um das weitere Schicksals des Films, selbst wenn inzwischen Kevin Spacey, ausgezeichnet mit einem Oscar für die Hauptrolle in "American Beauty", als Quoyle einspringen will. Auch mit den immer näher rückenden Dreharbeiten zu "Brokeback Mountain" befasst sie sich nicht, sondern durchquert statt dessen mit ihrem Truck die Weiten von Oklahoma, um für ein neues Buch zu recherchieren. "Meine Sache ist es, Nebenstraßen zu durchstreifen", sagt sie. "Ich verspüre immer diese verrückte Freude, wenn ich in den Wagen steige, alles hinein werfe und losfahre." Auf Flohmärkten, in Bars und Coffeeshops, in "Warteräumen, Telefonzellen, auf Felsen, ausgestreckt im Rasen" findet sie ihre Inspiration.

Romane und Erzählungen von Annie Proulx:

Heart Songs and Other Stories, 1988, Charles Scribner's Sons, New York. Deutsch: Herzenslieder, 1998, List, München.

Postcards, 1991, Flamingo, New York. Deutsch: Postkarten, 1995, List, München.

The Shipping News, 1993, Charles Scribner's Sons, New York. Deutsch: Schiffsmeldungen, 1995, List, München.

Accordion Crimes, 1996, Charles Scribner's Sons, New York. Deutsch: Das grüne Akkordeon, 1997, Luchterhand Literaturverlag, München.

Close Range: Wyoming Stories, 1999, Dead

Line, New York. Deutsch: Weit draußen. Geschichten aus Wyoming, 1999, Luchterhand Literaturverlag, München.

Freitag, 18. August 2000

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