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Auf den Spuren John Steinbeck's in Monterey, Kalifornien

Steinbeck, John: Schriftsteller als Eissorte

Von Christine Brügge

„C annery Row ist mehr als nur eine Straße. Es ist die Gegend der Ölsardinen und Konservenbüchsen, ist ein Gestank und ein Gedicht, ein Knirschen und
Knarren, ein Leuchten und Tönen, ist eine schlechte Angewohnheit, ein Traum. Cannery Row · in Monterey, Kalifornien, zusammen- und auseinandergeschleudert · besteht aus Alteisen, Blech, Rost,
Hobelspänen, aufgerissenem Pflaster, Baustellen voll Unkraut und Kehrichthaufen."

So beschrieb der 1968 verstorbene Autor John Steinbeck in den vierziger Jahren die Straßenzüge des kalifornischen Küstenortes Monterey. Lebendig zeichnete er das Leben und Treiben der Einwohner nach
· wie sie sich plagten, betranken, belustigten, gegenseitig ärgerten und trotz allem eine große Portion Liebenswürdigkeit besaßen. Skurrile Gestalten, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihren
Erfinder zu Kultstatus verhalfen. Gelegenheitsarbeiter, Taugenichtse, Dirnen und Sonderlinge, die in alten Lagerhallen lebten, in ausrangierten Dampfkesseln und verrosteten Röhren. Henri, der Maler,
bastelte seit 20 Jahren an seinem Boot herum, auf dem es keine Frau oder Freundin lange aushielt. Der einsiedlerisch lebende Meeresbiologe Doc, der als Quell der Weisheit, Kunst und Naturwissenschaft
galt, „. . . konnte sich jeden Unsinn anhören und ihn in etwas Sinnvolles verwandeln. Sein Denken kannte keine Schranken; seine Zu- oder Abneigung konnte niemand beeinflussen. Mit Kindern sprach
er über die tiefsten Dinge so, dass sie alles verstanden. Er lebte in einer erregenden Wunderwelt. Er war lüstern wie ein Kaninchen und scheu wie ein Reh." Die Hure Dora, „. . . eine großartige
Frau mit flammend orangefarbenen Haaren und einer Vorliebe für nilgrüne Abendkleider", bediente mit ihren Mädchen ein- und wieder auslaufende Seebären, vorüberziehende Trecks und fliegende
Händler. Der Chinese Lee Chong betrieb einen Warenladen, in dem sich alles und jeder traf: Jung und Alt, Arm und Reich, Doof und Schlau · und in dem sich auch nahezu alles fand: Garn, Träume, Bohnen,
Schulden, Milch und Hoffnungen. Der Ort: Eine überbordende Minipizza · belegt mit allem, was Gottes Werk zu bieten hat. Die Zeit: Der Wandel vom Goldrausch zum individuellen High.

Das Buch „Die Straße der Ölsardinen" gehörte von den sechziger bis zu den achtziger Jahren zum guten Ton der internationalen Literaturszene. Sein Schauplatz, Monterey, wurde zum Pilgerort
begeisterter Leser und Künstler. Und das ist es auch heute noch. Ein Magnet. Sein warmes, mildes Klima, seine charakteristische Landschaft mit senkrecht abfallenden Klippen, steil aufragenden
Zypressen, sich auf den Sandbänken tummelnden Seehunden, gegen die Klippen schlagenden Wellen, kurvigen Küstenstraßen und kleinen weißen Stränden, zog früher scharenweise Landschaftsmaler an. Heute
kommen Fotografen. Denn die Halbinsel gilt als eines der beliebtesten Motive Amerikas. Auf dem eingegrenzten „Scenic Drive", einer sich dahinschlängelnden Küstenstraße, hängen die Bilderjäger von
Felsen, winden sich um Bäume, kriechen über den Boden oder stehen wie Pinguine nebeneinander, um die röhrenden Seehunde abzulichten, die sich vor ihnen auf den Kalkfelsen ausbreiten. Dieser
Anblick

kostet 14 Dollar pro Mensch, der sich auf den Scenic Drive begibt. Das Verkaufen scheint den Menschen von Monterey zu liegen. Nur, dass es heute eben keine Ölsardinen mehr sind.

Auch die Stadt selbst sieht aus wie eine Puppenstube aus Zuckerwerk, in der man alles kaufen kann, was sich in den zahllosen Döschen, Gläschen und Schublädchen befindet. Sie ist sauber, glatt,
touristisch hergerichtet. Und eine Gedenkstätte: John Steinbeck als Statue, John Steinbeck als Eissorte „John's" (Vanille mit kandierten Kirschen), John Steinbeck als Stimme, die durch die
Ausstellung des John-Steinbeck-Wachsmuseums führt. Eine Stadt verehrt den Schriftsteller, der sie verehrte und einen Mythos aus ihr machte.

Wallfahrt zum Mythos

Der Besitzer des Wachsmuseums, George Drucker, arbeitete früher in renommierten Wachsmuseen in Amerika, Asien und Europa, bevor er sich in Monterey niederließ, um hier in aller Ruhe die Geschichte
des Goldrausches und der Cannery Row zu kreieren. Für den quirligen Mittsechziger lebt John Steinbeck noch immer: „Oh, er ist definitiv noch hier. Die Leute reden täglich über ihn, sie
beschäftigen sich mit seinen Novellen. Wir versuchen hier dasselbe Flair zu erhalten, das damals zu seiner Zeit herrschte." Stündlich treffen Touristenbusse ein · Japaner, Österreicher, Spanier
und Amerikaner quellen heraus, verbreiten sich zielbewusst in alle Richtungen oder trotten in Knäuelform den Fremdenführern hinterher. Die Grüppchen strömen durch die Straßen, bleiben alle paar Meter
vor etwas stehen, schauen beflissen in Reiseführer, heben die Köpfe, vergleichen Abbildung mit Original, nicken und grüßen andere, den Weg kreuzende Karawanen. Ein Student steht an der Ecke und filmt
das Spektakel. „Ich mache meinen Abschlussfilm an der San José State University", erklärt er. „Dieser Pendelverkehr hat schon fast etwas Unwirkliches. Es erinnert mich an Wallfahrten zur
Villa von Elvis Presley. Ich hätte nie gedacht, dass ein Schriftsteller solch einen Sog auslösen kann. Hierher kommen mehr Menschen als zur Bar von Hemingway."

Vor kurzem ging ein Ruck durch Monterey. Der Baulöwe Dan Summers wollte Monterey zu einer gigantischen Einkaufsmeile umfunktionieren, mit einem finanziellen Aufwand von 50 Mill. Dollar. Hinfort mit
der Zuckerbäcker-Romantik. Doch er machte seine Rechnung ohne die Einwohner. Sie gingen auf die Straße, protestierten wochenlang. Mit Erfolg: „Unser öffentlicher Aufschrei verhinderte es. Wir
versuchen die Geschichte zu bewahren. Wir waren besorgt, dass sich hier die ganze Umgebung verändern würde." Jim Hidabright, beschäftigt in einem der vielen John-Steinbeck-Buchläden, fiel eine
Last vom Herzen. An den Wänden des Buchladens hängen Porträts von John Steinbeck. Knipsen verboten. Oder bezahlen. Pro Aufnahme. „Sonst kommen die Leute nicht mehr."

Kalisa Moore ist eine der wenigen Bewohner Montereys, die den Ort nicht als eigenen Markenartikel begreift · und die John Steinbeck noch persönlich kannte. Ein echtes Urgestein mit feurig roten
Haaren. Ihr Eisgeschäft „Kalisa's" ist außen knallgelb angemalt, und auch innen zeugt edles Detail in ihrem plüschig-lauschig eingerichteten Laden von einer tief sitzenden Vorliebe für kräftige
Farben und kitschige Arrangements. Wer angesichts ihres Rotschopfes meint, die ehemalige Hure Dora vor sich zu haben, wird erst mit einem schweigenden Grinsen auf die Folter gespannt und anschließend
aufgeklärt. „Zu dieser Zeit war ich noch gar nicht hier", blinzelt Kalisa über den Brillenrand. 1955 kam sie in den kleinen Küstenort, nachdem sie erst in Lettland und dann in Deutschland
gelebt hatte. „Aber, ob Sie es glauben oder nicht ·", lacht sie mit rauer Stimme, „dieses Haus war eines der Bordelle, die John beschrieb: das „La Ida Café". Ich habe es dann vor über
40 Jahren in ein Hotel umfunktioniert. Jaja, ich weiß, was Sie denken, aber ich meine ein reines Hotel. Und naja, nun verkaufe ich Eis. Ich habe ihn kennen gelernt. Anfang der sechziger Jahre. Nicht
mehr wie er hier lebte, sondern er lebte ja in New York, kam aber auf einer Reise hierher, es war seine letzte Reise. Das war so ein Déjà-vu-Trip, er wollte sehen, ob seine alten Freunde noch hier
waren, aber die waren leider nicht mehr da. Das machte ihn ziemlich depressiv. Immer wenn ich ihn sah, schlich er mit hängendem Kopf umher. Er hatte den Blues. Das Sprichwort sagt, du kannst nach
Hause gehen, aber du wirst es nicht mehr finden, weil die Menschen nicht mehr dieselben sind. Nun, manchmal sind sie eben nicht mal mehr auf dieser Welt."

So fand er weder den chinesischen Gemischtwarenhändler Lee Chong, der anschreiben ließ und von einer Bande Halbwüchsiger terrorisiert wurde, noch die Hure Dora, die feste Preise hatte, keinen Fusel
verkaufte und kein unsittliches Wort duldete. Auch nicht den Meeresbiologen Doc, der täglich einen Bier-Milch-Shake trank. War das Monterey, wie John Steinbeck es beschrieb, eigentlich authentisch?

„Oh absolut. John Steinbeck hat keine Charaktere erfunden. Er hat sie nur beschrieben. Hat sie vielleicht ein bisschen verändert, sich einen Namen ausgedacht, eine Eigenschaft übertragen, aber die
Charaktere, die er beschrieben hat, waren wirkliche Menschen. Natürlich musste er sagen, dass das fictional ist . . ." Neugier regt sich. Wo sind die anderen? „Tot", sagt Kalisa knapp.
„Nur noch Alicia und ich sind übrig."

Lachs statt Sardinen

Alicia ist ebenfalls eine alte Dame, sehr alt, die ihren Laden drei Eingänge weiter betreibt. Doch sie ist nicht mehr oft in der Cannery Row. Bleibt lieber zuhause. „Die Knochen, Sie wissen."
Kalisa humpelt aus ihrem Hinterzimmer am Eistresen vorbei und schaut vor die Tür. Blick links, Blick rechts. „Schmeiß mal die Maschine an", befiehlt sie dem Verkäufer. Ächzend wirft sie
ihren korpulenten Körper zurück auf einen Stuhl. „Viele Touristen heute." Alicia und Kalisa sind befreundet. Ihre Namensverwandschaft ist reiner Zufall. Die Touristen bemerken sie kaum. Dass
diese beiden alten Damen lebende Relikte sind, erkennen sie nicht. Man sucht nicht danach. Der Fremdenführer ist die Bibel · und die erwähnt nur Zeugen aus Holz und Metall. Wieder zieht eine leise
schnatternde Gruppe am halb offenen Fenster vorbei. Ein warmer Luftschwall drückt herein. Ein paar Frauen bleiben stehen und möchten ein Eis kaufen. „Selbst gemacht", sagt der Verkäufer.

Kalisa dreht sich um und widmet sich ihren Aufzeichnungen. Wie eine steinzeitliche Schildkröte sitzt sie in ihrem halbdunklen Hinterzimmer, wie unter einem dicken Panzer. Ihre kleinen runden Augen
bewegen sich flink unter den schweren Lidern. Ihre Lippen zählen murmelnd die handschriftlich notierten Zahlenkolonnen: „81, 82, 83 . . ." Was vom Tage übrig blieb.

Schlendert man weiter durch Monterey, stellt man fest, dass noch viele Überreste der Welt vorhanden sind, die John Steinbeck so eingängig beschrieb. Der Gemischtwarenladen von Lee Chong gehörte
original dem Chinesen Wing Chong und heute Alicia. Er ist ein Nippes-Geschäft mit Postkarten, T-Shirts, Luftschlangen und der unvermeidlichen Gedenkecke für John Steinbeck. Sein Bild steht auf einem
kleinen Tisch, umrahmt von seinen Büchern und Originalmanuskripten. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite steht das Labor des Meeresbiologen Doc. Das dunkelbraune Holzgebäude ist schmucklos
und geschlossen, nichts zeugt von seiner Geschichte. Traurig mutet es an. Nur ein paar Mal pro Jahr wird es geöffnet und dann finden Führungen durch das Hausinnere statt.

Die historischen Fischfabriken überragen die meisten Häuser. In ihnen befinden sich weitere John-Steinbeck-Huldigungen. Die kleinen weißen Holzhäuser der einfachen Fischarbeiter stehen noch immer eng
aneinander geschmiegt auf einer Erhebung. Von hier aus hat man einen guten Blick über die Küste. Man sieht die Dünen, die Klippen, die Felsen, so wie es damals schon war. John Steinbeck hat sie gut
beschrieben. Er hat nur einen Fehler gemacht · einen profunden: Die Cannery Row war niemals die Straße der Ölsardinen, wie die einheimische Zeitung „The Cannery Row" im vergangenen Jahr richtig
stellte: „Die Öffentlichkeit glaubt, dass es die Sardinen waren, die Monterey ernährten. Doch in Wirklichkeit war es der Lachs."

John Steinbeck's Roman „Die Straße der Ölsardinen" ist deutsch im Zsolnay-Verlag erschienen · und bei dtv auch als Taschenbuch erhältlich.

Freitag, 31. März 2000

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