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Über den ungarischen Romancier László Márton

Marton, Laszlo: Risse, Sprünge, Brüche . . .

Von Elisabeth Vera Rathenböck

„I ch schreibe sowohl Dramen als auch Romane, aber ich halte besonders meine Romane für wichtig. Wenn ich die Frage ganz kurz beantworten soll, dann müsste ich
sagen: Mich interessieren die menschlichen Irrungen und schriftlichen Formen dieser Irrungen. Das ist die kürzestmögliche Zusammenfassung" · die László Márton gibt, fragt man ihn nach seiner
Motivation, zu schreiben und der Zeit ihren Niederschlag in Literatur zu geben.

László Márton wurde 1959 in Budapest geboren, er studierte Literaturwissenschaft, Germanistik und Soziologie an der Budapester Universität und debütierte 1983 mit einem Band Erzählungen. Seitdem hat
er elf Bücher veröffentlicht und Premieren von 15 Stücken bzw. Dramenübersetzungen „erlebt und überlebt", wie er sagt. Seit 1984 ist er freischaffend tätig, zahlreiche Preise unterstützen den
Erfolg des aufstrebenden Autors, der zu den interessantesten ungarischen Nachwuchsliteraten zählt. Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihm im Vorjahr einen längeren Aufenthalt in Berlin. Die deutsche
Sprache hat er nach eigenen Angaben mit den „Leiden des jungen Werther" erlernt und er verwendet das Deutsche als Fenster zur Weltliteratur. Da die ungarische Sprache das Schicksal der
relativen Sprachminderheiten in Europa teilt und sich das Verlagswesen den Markterfordernissen beugen muss, gibt es z. B. keine Gesamtausgaben von Werken so wesentlicher Denker wie Sartre, Heidegger,
Kierkegaard, Freud, Jung, Wittgenstein, usw.

Mit seiner Tätigkeit als Übersetzer barocker, romantischer und klassischer Literatur (u. a. Novalis, Kleist, Grillparzer, Goethe, Luther, Gryphius, Gebrüder Grimm) ins Ungarische hat László Márton
nicht nur sein deutsches Sprachkönnen perfektioniert: er fand in den Erzählmustern, Satzarchitekturen und auch in der Handlungsaufbereitung der barocken und romantischen Literatur seinen eigenen
literarischen Boden. Dieser wird allerdings mit zeitgemäßen Themen bestellt, in seiner Art zu schreiben greift Márton auf historisches und enormes enzyklopädisches Wissen zu, die Fakten werden aber
von der Wirklichkeit und von einem realen Zeitgefüge entkoppelt, so dass surreale, kleinteilige Panoramen mit Sinnbildcharakter entstehen. Durchaus der Tradition barocker Romandichtung verpflichtet,
erweitert Márton seinen zentralen Handlungsstrang um unzählige Nebenhandlungen, Fährten von Personen werden verfolgt, in mystische oder schelmenhafte Begebenheiten gebettet. Wie Zahnräder der Zeit
greifen die Nuancen der Perspektiven ineinander und treiben den Lauf der (erzählten) Geschichte an. Zeitsprünge sind dabei Methode, auch um der Vorstellung von einer linearen Wirkung der Ereignisse
abzuschwören. Unglücksfälle, Verwirrungen steigern sich unermüdlich zu einer artistisch montierten Ideenwelt, die der von Jorge Luis Borges nahe kommt.

Ein Getriebener seiner Zeit

Freilich ist diese Literatur eine Herausforderung an die Leser, denn sie verlangt nicht nur den Willen, sich auch einmal im Geschichtslexikon einen knappen Überblick zu holen, sondern auch die
Absage an ein Nebenbei-Lesen. Doch es zahlt sich aus, denn als Fazit gewinnt man die Erkenntnis, dass der Mensch seine Geschichte(n) wiederholt und als Getriebener seiner Zeit immer nur sehr wenig
mitzubestimmen hat. Fantasma und Ironie als Komponenten deutscher Romantik können den Ausdrucksmöglichkeiten entgegenkommen, die in einem Ungarn vor 1989 erlaubt waren.

Oft wird ja in leichtfertiger Weise der ehemalige Staatssozialismus in Ungarn als „gemäßigte Diktatur" transportiert, allerdings meist nur von Außenstehenden. Zensur- und Spitzelwesen arbeiteten auch
hier perfekt: „Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen", sagt László Márton, „und deswegen waren die Schriftsteller daran gewöhnt, sich in einer ,blumigen` Sprache auszudrücken. Ganz
interessant ist, dass sich auch die offizielle Kulturpolitik einer vergleichbaren Sprache bediente. Die Polemik mit der Macht führten die älteren Kollegen auf diese verschleierte Weise. Die Leser
haben sich daran gewöhnt, auch daran, dass sie sich die Hintergrundgedanken selbst bilden müssen. Nun halte ich das teilweise für heuchlerisch, teilweise für unfruchtbar. Darum konnte ein aufrichtig
geschriebener Satz kathartisch wirken. Das ist die Geschichte mit dem nackten Kaiser. Nichts fürchtete die Leitung der kommunistischen Diktatur so sehr, als dass der nackte Kaiser entlarvt wird. Eben
diese Enthüllung setzte die neue ungarische Literatur durch und darum wurde die ungarische Prosa in den achtziger Jahren so spannend, weil sie nicht mehr eine Polemik mit der Macht führen wollte.
Sondern sie wollte die Äußerungen der Macht, auch des Alltagslebens analysieren. Und diese Analyse ergab sehr viel Interessantes, erhöhte die Widersprüche und die Albernheiten der machtbeschützten
und -beherzten Alltagssprache. Seitdem die Diktatur nicht mehr existiert, sind aber die Enthüllungen nicht mehr interessant. Darum funktionieren gewisse Texte auch nicht mehr und gewisse ältere
Kollegen sind auch ziemlich verzweifelt, weil, was sie 30 Jahre ganz erfolgreich betreiben haben, völlig wirkungslos geworden ist."

Wenn László Márton verneint, ein politisch motivierter Autor zu sein, so wehrt er sich vor allem dagegen, dass seine Texte lediglich vor dem politischen Hintergrund (der jungen Demokratie) Ungarns
interpretiert werden. Er sucht nach politischen Bewegungen in der europäischen Geschichte und er sucht nach „kulturellen Traditionen des gesamten Raumes, sagen wir von Ost- und Mitteleuropa. Ich
möchte mich aber in diesem Sinne räumlich nicht beschränken . . . Ich stelle mich immer der Frage, wie man sich mit der Tradition auseinandersetzen kann, ohne dabei konservativ zu sein oder
reaktionäre Utopien zu hegen . . . Natürlich interessieren mich auch die Brüche. Die ungarische Geschichte ist voll von Rissen, Sprüngen, Brüchen."

Grenzübertritte

Bei seinem Stipendienaufenthalt in Ottensheim nahe Linz im Mai 1997 hat László Márton nicht nur einen Grenzübertritt, den künstlerischen Austausch mit einem Buchdrucker, gewagt, sondern er
versuchte sich in einer besonders komplexen Verschränkung sprachlicher, literarischer und zeitlicher Ebenen. Das literarische Milieu, das auch den Autor selbst widerspiegelt, stellt viele Bezüge zum
unmittelbaren realen Umfeld her und Márton schrieb nicht in ungarisch. „Als ich erfahren habe, dass ich dieses Stipendium erhalten werde, suchte ich zuerst eine Geschichte, die etwas mit
Oberösterreich zu tun, aber auch ungarische Beziehungen hat. Und so stieß ich auf die Geschichte von János Batsányi." Die Figur, welche Márton hier ausgrub, war Janusz Bacsany, ein
Freiheitsdichter und Spracherneuerer · bei Márton „János Batsányi, der im November 1816 nach Linz gekommen war". Bacsany lebte hier bis 1845 im Exil, eine in einer Fassade gut versteckte
Gedenktafel an der Linzer Landstraße erinnert an ihn. Die Novelle „Die fliehende Minerva oder Die letzten Tage des Verbannten", die 28 Jahre nach Batsányis Ankunft in Linz einsetzt, begleitet
diesen in seinen letzten Stunden, die er im Vormärz in der Provinzialhauptstadt des Landes ob der Enns, das keineswegs vom System Metternich unbehelligt war, verleben wird. Márton zeigt ein
sommerlich überhitztes Gemälde einer Stadt, in der Überdruss und auch Lethargie gegenüber der Bürokratisierung der Gesellschaft schwelen. Das Leben scheint bis ins letzte einerseits vom
(wirklichkeitsverstellenden) Zensur- und Spitzelwesen, andererseits von einer magischen, traumatisierten Atmosphäre bestimmt. Nicht mehr bloßes Keimen, sondern bereits das Bersten nationalen
Bewusstseins, das sich in den Provinzen der Monarchie u. a. in der Besinnung auf die eigenen Sprachen ausdrückte · unzählige Grammatiken wurden damals verfasst · bleibt subtil bedrohlich als
Geschichte über János Batsányi aufgeschrieben. Sein neuester und erster Roman, der auch für den deutschsprachigen Raum übersetzt wurde, ist „Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz", eine
brisante historische Parabel auf den Spartakusaufstand in Berlin im Jahre 1919, der von den Proletariern inszeniert wurde und bei dem Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (als Führer der ehemaligen
KPD) ermordet wurden. Mártons Hauptfigur wird dabei als Dritter im Bunde geführt, doch lernen die Leser Jacob Wunschwitz als Herrn über alle Zeiten kennen, denn der Großteil des Romans ist ins frühe
17. Jahrhundert verlegt. Márton führt in das an der Neiße gelegene Städtchen Guben in der Niederlausitz (ehemalige DDR), das sich zu einem bedeutenden Handelszentrum innerhalb der Hanse entwickelt
hat. Scheinbar aus reiner Willkür tritt hier über Nacht das Verbot ein, dass die Gubener Winzer ihre Weinfässer nicht mehr wie gewohnt in der Markthalle zwischenlagern dürfen, um von da aus ihre
Handelswege zu beschreiten. Der Groll der Winzer lässt nicht lange auf sich warten, von der freien Warenwirtschaft abgeschnitten kündet sich in der Folge ein Aufstand der Zünfte an. Der Tuchfärber
und geborene Gubener Jacob Wunschwitz, der eigentlich in sein Heimatstädtchen reist, um dort sein Haus zu verkaufen, schlittert unversehens in die aktuellen Ereignisse. Er wird zum Wort- und
Schriftführer der aufständischen Bürger erhoben, er wird der verlängerte Arm von Utopisten, der Verfasser einer Gubener Stadtordnung und er gilt als vermeintlicher Anstifter des Gubener
Bürgeraufruhrs, ihm wird unterstellt, dass er trotz strengstem Verbot eine Beschwerde bei fremden Höfen eingereicht hätte. Letztendlich soll ihm wegen Majestätsbeleidigung der Kopf abgeschlagen
werden.

Die Politik hat ihren Spielball gefunden, bleibt zu fragen: Tod, wo ist dein Stachel? Ab Seite 242 übertritt man für wenige Seiten eine Zeitschwelle und folgt einem Jacob Wunschwitz ins
20. Jahrhundert. Erst jetzt gibt László Márton den Vermutungen Recht, die man beim Lesen bis dahin bereits angestellt hat: hier wird kunstvoll ausgeschmückt über Intrigen zwischen weltlichen und
geistlichen Mächten erzählt, an deren Vollendung die europäische Teilung in zwei konträre politische Systeme stehen wird. Und Márton deutet noch einmal auf einen anderen, auf den Genossen Wunschwitz,
der am 18. Februar 1950 schon ein bisschen nachdenklich geworden folgendes unternehmen wird: „An jenem Tag musste er das Gesetz über Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit unterschreiben,
dem es zu verdanken ist, dass sich der von den Philosophen erträumte und von Beamten dann verwirklichte geschlossene Handelsstaat durch ein Netzwerk zur Kontrolle und gegenseitigen Beobachtung der
Staatsbürger für vier Jahrzehnte im Zustand kollektiver Geiselhaft selbst stabilisiert." Die Gründung der Stasi · „dieses Netzwerk von Institutionen stellen sich die Staatsbürger als ein
weibliches Wesen vor" · hat Márton in die Hand einer „Wachsfigur" gelegt, dessen Lebenslauf in die Distanz von vier Jahrhunderten geschoben wurde, um als „eine möglichst fein abgestufte,
eine möglichst vielschichtige Zergliederung der Wirkungszusammenhänge" geschildert zu werden.

Entstanden ist ein 365 Seiten starkes, sprachlich virtuoses und figurenreiches, durchkonstruiertes Paradigma der kleinen Ursachen und kleinen Menschen, die große Folgen für Teile der Menschheit
hervor bringen können.

Die kleine Nation

Ungarn hat durch wenige zentrale Namen · György Konrád, Péter Esterházy, Péter Nádas, Imre Kertész, György Dalos und Istvan Eörsi · einen Platz in der deutschsprachigen bzw. europäischen
Literaturrezeption erlangen können. Durch diese männlich dominierte Riege ungarischer Gegenwartsliteratur gelingt es weiterhin, diesen Rang zu behaupten. Exilanten oder Emigranten haben nicht
unbedingt ihre Sprache als Heimat verloren, sondern das Ungarische als literarische Sprache beibehalten. Das ist nicht selbstverständlich, viele tschechische Autoren etwa wechselten nach ihrer
Emigration auch die Sprache. Doch letztendlich sind es auch die Themen, die die Aufgeschlossenheit des kleinen Ungarn gegenüber Europa und vice versa ausmachen werden. Márton betont die
Selbstbehauptung und das Vertrauen in die eigene Sprache: „Bei einer kleinen Nation, bei einer kleinen Kultur besteht immer das Problem, dass die innere Wertstruktur nicht nähergebracht werden
kann, aus sprachlichen Gründen und aus solchen der Denkweise. Es sind wichtige Faktoren, die · sozusagen · Geheimnisse des Stammes bleiben und nicht über die Grenze kommen. Aber es sind zentrale
Themen vorhanden, z. B. die historischen Erfahrungen des osteuropäischen Daseins, speziell natürlich, was Ungarn betrifft. Das kann schon kräftig dazu beitragen, dass einige Romane, etwa Imre
Kertesz' ,Roman eines Schicksalslosen`, so erfolgreich wurden. Ich halte nicht die Thematik für so wichtig, vielmehr den Radikalismus der Form, der Ausdrucksweise und der Sicht, der Sehweise, was für
das westliche Lesepublikum · oder sagen wir so: für das deutschsprachige Publikum · viele Anregungen geben kann."

László Márton: Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz. Roman. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke, Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 1999, 365 Seiten.

László Márton: Die fliehende Minerva oder Die letzten Tage des Verbannten. Erzählung. Ranitz-Druck Nr. 4, herausgegeben von Ludwig Hartinger, Handpressendruck aus der Edition Thanhäuser, Ottensheim
1998, 48 Seiten.

Von Elisabeth Vera Rathenböck ist heuer im Resistenz-Verlag Linz·Wien der Roman „Memento Mori" erschienen. Er beschreibt drei Frauenschicksale, die dieses Jahrhundert durchmessen und sich dabei auf
eigenartige Weise berühren.

Freitag, 26. November 1999

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