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Gedanken und Hintergedanken von Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison zu ihrem neuen Roman „Paradies"

Morrison, Toni: Utopie und Dystopie

Von Christine Dobretsberger

Exakt vor sechs Jahren wurde Toni Morrison der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Vor kurzem erschien unter dem Titel „Paradies" ihr jüngstes Werk,
gleichzeitig der erste Roman seit dieser Auszeichnung. Gleich vorweg: Toni Morrison kreiert auf gut 500 Seiten ein ungemein dichtes, vielstimmiges Meisterwerk. Die in sich verwobenen Erzählstimmen
sind von unterschiedlicher Klangfarbe und erinnern an ein breit angelegtes symphonisches Werk · Symbolhaft im Ansatz, prägnant in Ausdruck und Form. Nach „Menschenkind" (Pulitzerpreis 1988) und
„Jazz" versteht sich „Paradies" als Abschluss einer Werktrilogie und lädt in vielerlei Hinsicht zu einer diffizilen Rezeption ein.

In gewohnt epischer Breite wird die Geschichte der amerikanischen Kleinstadt Ruby erzählt, einer von Nachfahren schwarzer Sklaven erbauten Siedlung, die ein Refugium des Friedens darstellen soll und
auf streng patriarchalischen Normen basiert. Dass diese angedachte Enklave des Glücks dennoch zur Hölle mutiert, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Konfrontation einer weiblichen Gegenwelt:
Eine Handvoll Frauen, die in einem nahegelegenen Kloster Unterschlupf fanden um ein selbständig-unkonventionelles Leben zu führen, wird zur Zielscheibe von Hass und Intoleranz. Die Einwohner von Ruby
sehen sich durch diese autarken Persönlichkeiten in ihrer Machtposition gefährdet und rufen zum gewaltsamen Gegenzug . . .

Auf Einladung der amerikanischen Botschaft auf Kurzbesuch in Wien, sprach Toni Morrison mit der „Wiener Zeitung" über ihren aktuellen Roman.

„Wiener Zeitung": Nachdem ich Ihr neuestes Buch gelesen habe, fragte ich mich, was der Begriff „Paradies" in diesem ganz speziellen Fall bedeuten könnte. Geht es vielleicht darum, dass man mit
Paradies auch einen Ort assoziieren könnte, der ebenfalls eine Art geschlossene Gesellschaft darstellt?

Toni Morrison: Ja. Wenn man sich mit Definitionen rund um das Wort „Paradies" beschäftigt, kreisen die Gedanken unwillkürlich um Grenzen und Schranken. Nur ganz bestimmte Menschen erhalten
Zutritt. Beispielsweise Menschen mit einem innigen Glauben, egal welcher Religion oder Nationalität sie angehören. Und alle anderen besitzen keine Zutrittsberechtigung.

Lebensgeschichte als Korsett

„W. Z.": In Ihrem Roman kreieren Sie zwei Welten. Die Kleinstadt Ruby, die nach patriarchalischen Gesetzen geregelt ist. Und auf der anderen Seite eine unabhängige Lebensform, symbolisiert durch
jene Frauen, die im nahegelegenen Kloster Unterkunft gefunden haben. Einerseits Gemeinschaft, andererseits Isolation. Beides funktioniert nicht.

Morrison: Ich denke, Isolation ist nicht das Problem. Es geht vielmehr darum, wie jemand seine eigene Geschichte betrachtet. Die Menschen von Ruby sind tapfer, und in vielerlei Hinsicht
außergewöhnlich, hatten eine sehr schwierige Vergangenheit, und leben auf einer sehr abgehobenen Ebene. Konfrontiert mit anderen Lebensformen reagieren sie zunehmend unsicher, weil sie selbst so
viele Male ausgestoßen wurden. Mit der Zeit entwickelten sie sich genauso wie diejenigen, die sie einst zurückgewiesen hatten.

Die eigene Lebensgeschichte ist das wertvolle Material, das es dem Menschen unmöglich macht, den anderen in seiner eigenen Lebensgeschichte wahrzunehmen. Die Bewohner von Ruby kapseln ihre eigene
Geschichte wie in einem Mausoleum ein und sind nicht in der Lage, auf neue Ideen zu reagieren. Weil sie an ihrer eigenen Version von Geschichte so stark hängen. Die Frauen im Kloster hingegen sind
auf der einen Seite schwach, verwirrt und unreif. Mit der Zeit mutiert dieses Kloster aber zu einem Hafen · sie haben keine Verantwortung zu tragen und überdies den Vorteil dieser starken
Mutterfigur. Consolata, die immer da ist, und die den Frauen Liebe entgegenbringt, was immer sie auch tun. Die Probleme in Ruby kümmert sie nicht. Letztendlich ist aber alles hinfällig, weil sie in
dem Moment von den Männern ausfindig gemacht werden, wo sie erwachsen geworden sind.

„Paradies" ist keine Pauschalisierung über isolierte Gemeinschaften, viel eher eine Auseinandersetzung mit jener anmaßenden Selbstgerechtigkeit, die aus einer traumatischen Vergangenheit
resultieren kann, sowie deren Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Weiters eine Geschichte über Frauen, die ohne Männer leben, bzw. nicht davon abhängig sind, was Männer vorschreiben.

„W. Z.": Also eher eine Frage der Macht . Und Macht ist stets in einem Naheverhältnis zur Angst angesiedelt · der Angst, Macht zu verlieren.

Morrison: Ganz genau das ist der Punkt. Die Tatsache, dass diese Frauen durch ihre Unabhängikeit an Macht gewinnen, lässt sie verdächtig erscheinen. Und ich mag das Bild, wenn die Frauen, als es
zur Konfrontation kommt, wirklich kämpften. Sie versuchten wirklich die Männer hinauszutreiben. Wären die Männer früher ins Kloster gekommen um sie zu verjagen, wären sie davongelaufen, da dies ihrem
früheren Muster entsprach, mit Problemen umzugehen. Aber zu diesem Zeitpunkt waren sie bereit zu kämpfen.

„W. Z.": Trotzdem hat es letztlich nicht im Sinne dieser Frauengemeinschaft geklappt.

Morrison: Im Zuge meiner Recherchen für „Paradies", stieß ich auf ein Buch mit dem Titel „Ghost Towns of Oklahoma." Es enthält eine Beschreibung von all jenen in Oklahoma
gegründeten Städten, die wieder verschwanden. Schwarze Siedlungen gab es nicht. Trotzdem war eine für mich von Interesse: Eine rein weibliche Stadt, gegründet von und für Frauen. Insgesamt 24 Frauen,
die nach Oklohoma zogen um eine komplett weibliche Gesellschaft zu gründen.

Stadt der Frauen

Das klingt jetzt vielleicht komisch · aber sie verboten sogar männliche Tiere! Das ganze Unternehmen funktionierte zirka sechs Monate bis sie sich wieder in alle Winde zerstreuten. Ich persönlich
würde keine wie auch immer geartete Stadt fördern, die auf einen strikten Ausschließlichkeitsgedanken basiert. Man kann nicht ohne andere Menschen leben · Menschen anderen Geschlechts, anderer
Herkunft, Alter oder Rasse. Dies sollte eine Bereicherung in zivilisierten Gesellschaften darstellen und nicht das Gegenteil.

Auch die Frauen im Kloster unterhielten ursprünglich eine ernst zu nehmende Beziehung, eine gescheiterte Beziehung zu einem Mann. Mit ein Grund, weshalb ich zuvor diese Frauen als schwach und unreif
bezeichnete, ist, dass sie sich erst finden mussten in diesen Beziehungen mit Männern. Egal wie auch immer sich der Liebhaber oder Ehemann verhalten hat. Erst wenn der durch viel Leid abgespaltene
männliche eigene Anteil wieder akzeptiert und angenommen werden kann, ist eine Wertschätzung der eigenen Person möglich.

„W. Z.": In letzter Instanz waren die Frauen nicht in der Lage, sich von ihrer eignen Vergangenheit zu lösen.

Morrison: Ja, das ist richtig.

„W. Z.": Denken Sie generell betrachtet, dass es möglich ist, sich von einer mitunter traumatischen Vergangenheit zu befreien?

Morrison: Es ist nicht möglich sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Es ist möglich sie neu zu ordnen. Sie zu verstehen. Sie an den richtigen Platz zu stellen, wenn man in sich geht. Das hat
nichts mit vergessen zu tun · viel eher damit, die richtige Rangordnung zu finden, damit man die Zukunft besser managen kann.

Widerfahrenen Horror kann man nicht einfach vergessen, sondern man muss vielmehr versuchen, ihn begreiflich zu machen. Die Frauen im Kloster betreiben mit diesem Nach-Außen-Stülpen ihrer inneren
Schreckensbilder eine Art Exorzismus. Im Malen finden die Frauen ihre eigenen Zeichen, ihre eigenen Bildgeschichten, die sie auf diesem Weg sichtbar machen.

„W. Z.": Geist und Spiritualität, in einem sehr positiven Sinne verstanden, werden in Ihren Büchern stets von Frauen verkörpert. Baby Suggs in „Menschenkind" oder Consulata in „Paradies" . Ist
dies für Sie ein typisch weiblicher Charakterzug?

Morrison: Wissen Sie, ich finde es einfach interessant, mich ausführlich mit dem Leben von Frauen zu beschäftigen. Sethe zum Beispiel aus „Menschenkind" hatte ein klassisches Leben als
sie mit Männern · mit Paul D. zusammen war. Auch die Frauen in „Paradies", die in Ruby leben, entsprechen einem klassischen Familienbild. Sie lieben ihre Männer und die Männer sie. Ich denke
nicht, dass ich mit meinen Büchern dieses Klischee verringere, nur deshalb, weil ich die weibliche Sicht darstelle. Mit anderen Worten ausgedrückt: Ein männlicher Autor gibt seinerseits ja auch die
männliche Sicht wider. Man muss Entscheidungen treffen, will man keine flachen, sondern vielschichtige Charaktere zeichnen.

Hautfarbe nebensächlich

„W. Z.": Nachdem ich „Paradies" las, war ich sehr überrascht, dass Sie das Buch mit dem Satz eröffnen: „Das weiße Mädchen erschießen sie zuerst." Denn das Thema Rasse spielt für mich nur eine
untergeordnete Rolle.

Morrison: Ja, das ist auch irrelevant und ich freue mich, dass Sie es so gelesen haben. In diesem Buch habe ich versucht, einerseits sehr spezifisch über eine Gesellschaftsform zu schreiben, in
der Rasse eine sehr große Rolle spielt, andererseits über eine völlig „rassenneutrale" Gemeinschaft. Aber im Grunde genommen ist es völlig irrelevant ob das Mädchen weiß oder schwarz ist.
Manche Leute werden beflissentlich nach dem weißen Mädchen suchen. Wenn ihnen das wichtig ist, hat es nur etwas mit ihrer Denkweise zu tun.

„W. Z.": Manchmal gewinnt man den Eindruck, als fungiere in Ihrem Werk die Sprache als einziger Ausweg aus einer schrecklichen Wirklichkeit. Sie arbeiten dann mit Metaphern, wenn die Situation
einfach nicht mehr in Worte zu fassen ist.

Morrison: Die Sprache in der Literatur kann es ermöglichen, das Unaussprechbare sichtbar zu machen. Die Sprache muss den Mut besitzen auf Schreckliches einzugehen und es andererseits auf eine
Art und Weise zu spiegeln, die mit nuancierteren Mitteln agiert als die Realität. Das schier Unaussprechliche fassbar zu machen. Es gibt keinen Grund, weshalb ein Buch nicht auch schön sein kann,
obgleich es von schrecklichen Dingen handelt.

„W. Z.": Warum sind Ihre Bücher immer in der Vergangenheit angesiedelt und nicht in der Gegenwart?

Morrison: Die Vergangenheit ist unendlich im Sinne, dass sie wächst und wächst. Ich denke, die beste Möglichkeit, über die Gegenwart nachzudenken, ist die Vergangenheit zu verstehen. „Paradies"
ist sehr gegenwartsbezogen, sehr aktuell, gerade zu diesem Zeitpunkt des Jahrhunderts: Isolationismus, der ständige Geschlechterkampf, alles Themen, die den Umstand verdeutlichen, dass Kriege
nicht beendet werden, sondern auf allen Ebenen überdimensional anwachsen. Die Gegensätze werden immer größer und die weltweiten Konflikte · im Großen wie im Kleinen · gehen weiter. Schon aus diesem
Grund wollte ich das Buch ursprünglich „Krieg" nennen.

Angst als Motor

Des weiteren fungiert meiner Meinung nach die Angst als einziger Motor für Kriege aller Art. Bestehende Gemeinschaften agieren immer nach dem selben Prinzip: Sie operieren mit Angst um die Menschen
zur Ablehnung und Ausgrenzung gewisser Gruppen zu bringen. Wenn sich das nicht verändert, wird es immer zum Kollaps kommen. Deshalb sehe ich mein Buch „Paradies" als eine Art postmodernen
Roman.

„W. Z.": Was könnte Ihrer Meinung nach ein Weg sein, um zumindest eine Art Paradies auf Erden zu erlangen?

Morrison: Hierfür habe ich keine Antworten · nur viele Fragen: warum denken wir in Bezug auf das Paradies immer nur im Zusammenhang mit dem Ausschließlichkeitsprinzip anstelle von Integration?
Warum haben wir hollywood-ähnliche Vorstellungen anstelle uns das Paradies hier auf Erden vorzustellen? Und nicht unbedingt erst nach unserem Leben.

„W. Z.": Deshalb auch diese letzten Worte in Ihrem Buch · „herunter ins Paradies"?

Morrison: Ganz genau.

„W. Z.": Warum entschlossen Sie sich dann trotzdem, das Bild des Klosters nicht als eine Art Paradies aufrechtzuerhalten? Warum mussten die Frauen gewaltsam vertrieben und getötet werden?

Morrison: Vielleicht wurde es ja gar nicht zerstört. Vielleicht überlebten die Frauen ja doch! Schließlich fand man nur eine tote Frau. Ich habe es offen gelassen. Schließlich wurden manche
Frauen später ja wieder gesichtet · nicht von jedem, aber von denjenigen Menschen, die den Frauen sehr nahe waren. Ein ambivalentes Ende · also, sind Sie doch nicht so pessimistisch!

Romane von Toni Morrison, erschienen im Rowohlt-Verlag:

Paradies (1999), Jazz (1993), Menschenkind (1989), Solomons Lied (1993), Teerbaby (1993), Sehr blaue Augen (1979), Sula (1980), Im Dunkeln spielen; Weiße Kultur und literarische Imagination · Essays
(1994).

Freitag, 19. November 1999

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