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Ein Gespräch mit dem französischen Erfolgsautor Philippe Djian

Djian, Philippe: „Ich liebe alle meine Bücher"

Von Jens-Uwe Sommerschuh

„Weißt du, dass Djian nach Deutschland kommt?" Selim Özdogan aus Köln hatte mich angerufen, Bewunderer der großen Bücher des Franzosen wie ich
auch. Soeben war Özdogans dritter Roman erschienen („Mehr") und das Vorbild war unverkennbar. Djian hingegen kümmerte sich offenbar gerade um seinen zehnten Roman. Der war letztes Jahr veröffentlicht
worden, „Sainte-Bob", und kam nun im Herbst · wie immer beim Züricher Diogenes-Verlag · als „Heißer Herbst" auf Deutsch heraus. Djian, der in seinen Büchern selbst am Image als Pressemuffel und
Kritikerhasser gebaut hatte, auf Promotiontour? Verkauften sich seine neueren Bücher so schlecht, dass der Unnahbare sein Köfferchen hatte packen müssen, um für gutes Wetter zu sorgen? Ich bat den
Diogenes-Verlag um einen Interviewtermin zur Frankfurter Buchmesse, und, o Wunder, es war kein Problem. Außer mir hatte sich lediglich ein Fernsehteam angesagt. Doch als die Stunde des Gesprächs
schlägt, fehlt ·Philippe Djian. Der kommt also doch nicht, denke ich. Missmutig blättere ich in der Mappe mit biographischen Angaben und Rezensionen, die mir der Verlag freundlicherweise . . .

1949 in Paris geboren, studierte er ein Jahr lang Literaturwissenschaft, besuchte dann eine Journalistenschule. Das ödete ihn jedoch derart an, dass er auch hier das Handtuch warf und nach Le Havre
zog, wo er zwei Monate als Docker arbeitete. Vom Lohn kaufte er sich ein Flugticket nach New York und erwischte dort einen Halbjahresjob in der Librairie Francaise im Rockefeller Center. Danach
erfüllte er sich einen alten Traum und fuhr nach Kolumbien, um eine Reportage über die Wahlen und die Guerilleros zu schreiben. Sie wurde nie gedruckt, und so hakte er den Journalismus endgültig ab.
Zurück in Paris, redigierte er anderthalb Jahre lang Texte für die Zeitschrift Detéctive", arbeitete in einer Buchhandlung und als Anstreicher. Als er schließlich bei Le Mans Maut-Kassierer an
einer wenig befahrenen Autobahnausfahrt wurde, packte er sich in der Kabine seine Schreibmaschine auf die Knie, schrieb Chansontexte, Kurzgeschichten und seinen ersten Roman, „Blau wie die Hölle".
Mit „Betty Blue. 37,2ø am Morgen", seinem dritten Buch, das 1985 erschien, wurde Djian weltberühmt.

Da kommt er. Das Flugzeug habe leider Verspätung gehabt. Er stehe gleich zur Verfügung, würde nur gern vorher noch ein Sandwich . . . Er sieht besser aus, als ich erwartet hatte, und ich merke, dass
ich im Begriff gewesen bin, ein Opfer seiner Bücher zu werden. Was hatten die Helden seiner letzten drei Romane aber auch für Wehwehchen, Rückenleiden, Herzrasen und unübersehbare Alkoholschäden.
Dass Diogenes hartnäckig ein Djian-Foto von Mitte der achtziger Jahre verwendete, tat ein Übriges: Der ist gewiss fett geworden und verquollen, hatte ich gedacht. Ein Irrtum. Der Typ mit dem
gespaltenen Kinn und den angewachsenen Ohrläppchen wirkt nicht wie einer, der grad fünfzig geworden ist. Abgesehen von den fettigen Haaren, sieht er absolut fit aus. Da ist er. Charmantes Lächeln:
Fragen Sie!

Voila.

„Wiener Zeitung": Sie haben wirklich als Docker gearbeitet?

Philippe Djian: Aber ja. Mein Fangeisen habe ich heute noch. Die Kaffeesäcke wurden von der Reling geworfen und ich musste sie auffangen und wegschleppen. Der Trick bestand darin, dabei so viel
Kaffee wie möglich so unauffällig wie möglich zu verlieren, um die Angelegenheit etwas zu erleichtern.

„W. Z.": Jahre später waren Sie Weinkönig im Bordeaux. Vom Hafenkuli zum Kultautor zum König. War Ihnen das eine Ehre?

Djian: Das war ein hübscher Spaß, nicht mehr. Ich habe auch vergessen, in welchem Jahr das war. Jedenfalls war das mal ein Job mit vielen angenehmen Seiten. Ich kenne mich ein wenig aus mit Wein,
aber ich kenne mich mit vielen Sachen aus, ohne das Bedürfnis zu haben, in jeder zum König gekrönt zu werden. Es war gehobene Gaudi. Würden Sie das ausschlagen? Na also.

Knapp bei Kasse

„W. Z.": Was hat Sie Anfang der achtziger Jahre bewogen, Paris zu verlassen und sich in ein Autobahn-Maut-Kassenhäuschen in der Provinz zu hocken?

Djian: So weit weg war das auch wieder nicht. Das war bei La Ferte-Bernard, in der Gegend von Le Mans. Ich arbeitete nachts an der Zahlstelle einer kleinen Ausfahrt der Autobahn Paris·Le Mans. Der
Grund war schlicht und schön zugleich. Ich hatte ein Kind und wollte nicht mit ihm in Paris bleiben. Und ich war furchtbar knapp bei Kasse. Dort war es ruhiger, wir wohnten billiger, ich hatte einen
wunderbaren Job, und ich kam zum Schreiben. Genau da habe ich ernsthaft angefangen zu schreiben.

„W. Z.": Angefangen, dem Berg französischer Literatur weitere Bücher hinzuzufügen . . .

Djian: Aber ja. Ich konnte damals kein französisches Buch lesen, ohne drüber einzuschlafen. Solch langweilige Literatur, irgendwie immer noch in der Sprache Diderots und Voltaires, wollte ich
niemals schreiben. Hemingway, Kerouac, Brautigan und andere, Amerikaner vor allem, wiesen mir den Weg, meinen eigenen, von historischen französischen Vorgaben befreiten Stil zu entwickeln.

„W. Z.": Den Sie mit „Erogene Zone" und „Betty Blue" schon früh fanden. Waren Sie vom Erfolg überrascht?

Djian: Ja, sehr. Ich hatte vorgehabt, mit dem Bücherschreiben Geld zu verdienen. Ich war völlig ahnungslos, ich wusste damals noch nicht, dass man vom Schreiben, selbst wenn man ziemlich gut ist,
normalerweise nicht leben kann. Plötzlich war ich berühmt. Und hatte immer noch kein Geld. Aber das kam dann bald in Ordnung, ich stieß, trotz heftiger Attacken seitens der Literaturkritik, relativ
schnell in den erlesenen Kreis derer, die mit ihren Büchern richtig Geld verdienten. Vielleicht war da viel Glück dabei. Denn gut zu sein, reicht mitunter nicht.

„W. Z.": Mit welchem Ihrer zehn Romane identifizieren Sie sich rückblickend am stärksten?

Djian: Meine ersten Romane waren mir sehr nahe, das war eine fast körperliche Identifikation mit dem Erzähler, der Held ähnelte mir selbst sehr. Später, ab „Echine · Rückgrat" war es eine mehr
literarische Identifikation. Ich konnte nachvollziehen, was mein Held da anstellte, aber das war nicht mehr ich persönlich, das war nur noch eine Geschichte, und das fand ich ganz beruhigend.

„W. Z.": Sie haben in ihrem Werk kein Lieblingsbuch?

Djian: Nein, ich liebe Sie alle, so unterschiedlich sie sind. Ich bin mit meinem gesamten Ouvre im Einklang. Einzige Ausnahme ist mein allererstes Buch . . .

„W. Z.": „Blau wie die Hölle"?

Djian: Nein, ein Jahr davor hatte ich 1981 bereits einen Erzählband veröffentlicht: „50 contre 1". Der ist bisher nur in Frankreich erschienen, und das ist auch gut so. Leider habe ich gehört,
dass Diogenes „Fünfzig gegen einen" nun doch nächstes Jahr auf Deutsch rausbringen wird. Das wurde damals, zugegebenermaßen anders, als das in meinen frühen Romanen anklingt, von der Schreibmaschine
weg veröffentlicht. Ich wurde immer sofort gedruckt, ich hatte keine Zeit, groß was zu überarbeiten. Und diese Erzählungen sind wirklich nicht besonders gut.

„W. Z.": Wie finden Sie Yves Boissets Verfilmung von „Blau wie die Hölle"?

Djian: Eine Katastrophe. Wem langweilig ist, der sollte sich gemeinsam mit Freunden diesen Film antun. Die werden viel zu lachen haben, aber nicht wegen der Story. Von meiner Story ist da
eigentlich nichts übrig geblieben.

„W. Z.": Stimmt es, dass Sie an Ihren Ur-Manuskripten kaum etwas ändern?

Djian: Das stimmt.

„W. Z.": Die Romane „Erogene Zone", „Betty Blue", „Verraten und Verkauft" und „Rückgrat" aus den 80er-Jahren bargen Geschichten, Schritt für Schritt erzählt, aber schnell und packend. Mit „Pas de
deux" und „Matador" vom Anfang der 90er folgten weitaus kunstvollere Konstruktionen. Die Sainte-Bob-Trilogie, die nun mit „Heißer Herbst" abgeschlossen wurde, ist wieder linear erzählt, aber viel
ruhiger, fast behäbig. Welche Erzählform liegt Ihnen mehr?

Djian: In der französischen Literatur ist die verschachtelte Konstruktion weiter verbreitet und zurzeit wieder besonders in Mode. Ich finde es viel schwieriger, linear zu erzählen. Da musst du den
Leser wirklich packen, du musst eine echte Story haben, die sich unaufhaltsam entwickelt. Sonst stürzt dein Leser ab. Mit verschiedenen Ebenen, Rückblenden oder dem Wechsel der Erzählperspektive zum
Beispiel, kannst du dich ganz anders durchmogeln. Ich bevorzuge die linear erzählte Story.

„W. Z.": Andererseits haben Sie mal gesagt, die Story interessiere Sie nicht besonders. Entscheidend sei der Stil.

Djian: Das ist kein Widerspruch. Die Story ist wichtig. Aber die kann sich jeder ausdenken. Was zählt, ist die Unverwechselbarkeit, die Einzigartigkeit des Stils. Ich bin als Schriftsteller erst
dann wirklich interessant, wenn ich eine ganz und gar eigene Stimme habe.

Heftige Angriffe

„W. Z.": Einigen Ihrer Romane, vor allem „Verraten und verkauft", ist zu entnehmen, dass die Kritiker Ihren Stil lange Zeit überhaupt nicht mochten. War das wirklich so oder ist das eine
literarische Überhöhung?

Djian: Die Romanszenen sind natürlich erfunden. Aber ich wurde wirklich heftig angegriffen. Du bist zu Amerikanisch, schrieben sie, du gehörst nicht dazu. Aber ich wollte ja auch gar nicht
dazugehören.

„W. Z.": Sie haben mehrere Jahre in Lausanne in der Schweiz gelebt. Jetzt sind Sie wieder nach Frankreich gezogen. Warum hatten Sie Ihre Heimat verlassen? Weshalb nun die Rückkehr?

Djian: Um mich von der dominanten Pariser Literaturszene zu distanzieren, mich vor dem Rummel einer Szene zu schützen, die sich für den Nabel der Welt hält, in weiten Teilen aber
sterbenslangweilig ist, habe ich in Florenz, Bordeaux und zuletzt in Lausanne gelebt. Jetzt bin ich alt genug, dass mich das nicht mehr anficht, jetzt halte ich Paris aus, ich bin seit ein paar
Wochen wieder zu Hause.

„W. Z.": Die Erzähler ihrer Romane ähneln sich sehr, es ist eigentlich ein und derselbe Typ, der lediglich mit Ihnen gealtert ist. Daneben aber agieren auf sehr unterschiedliche Art beeindruckende
Frauengestalten. Welche lieben Sie selbst am meisten? Nina? Betty? Marlene? Eileen?

Djian: Das ist auch immer dieselbe. Das ist eine Frau in vielen Variationen. Das ist meine Frau, mit der ich seit 25 Jahren zusammen bin. In den Büchern taucht diese Frau natürlich in
verschiedenen Facetten auf, ein Spiegelbild der momentanen Verfassung des Erzählers, der sich auch verändert.

„W. Z.": Ihr Erzähler ist ein Genießer, und er kann endlos leiden. Luc in „Heißer Herbst" leidet auf den ersten 60 Seiten. Die letzten 35 Seiten von „Matador" sind teils eine infernalische
Katastrophe, teils ein orgiastisches Fest der Erotik. Wo sind die Grenzen?

Djian: Genießen und leiden sind zwei Seiten der Existenz. Und es geht immer um die Existenz. Ob jemand die ganze Welt umarmen möchte oder sich vor Wut, Trauer und Leid in die Hand beißt, es
bedeutet immer: Ich lebe! Es geht darum zu fragen: Wer bin ich? Meine Helden fragen sich das ständig, und ich frage mich das auch immer wieder. Was bin ich als Vater meiner drei Kinder? Was bin ich
als Liebhaber? Was als Autor? Es gibt da keine Grenzen. Alles ist möglich, im Schönen wie im Schlimmen.

Hier unterbricht uns die für Medien zuständige Dame des Verlages. Mehr sei leider nicht drin, die Zeit schon überschritten, ein Fernsehteam warte. Ich ärgere mich, weil ich nicht dazu gekommen bin,
ihn zu seinem jüngsten Roman „Heißer Herbst" zu befragen. Der hatte mir genauso wenig gefallen wie der Vorgänger „Kriminelle", eigenartig saft- und kraftlose Plauderprosa in kleinstädtischem Milieu,
trotz der nach wie vor brillant geschilderten Sex-Szenen und einiger witziger Dialoge alles in allem wenig aufregend. Mein Kollege Selim Özdogan war in seinem Urteil noch schärfer. „Ich fürchte,
ihm geht wirklich die Puste aus", schrieb er sich in der in Berlin erscheinenden Zeitung „Junge Welt" seinen Unmut von der Seele, „ich erwarte von ihm kein gutes Buch mehr, werde aber
immer dankbar bleiben für die anderen."

Ich auch, und so frage ich nicht, sondern lasse mir später mein völlig zerfleddertes Exemplar von „Betty Blue" signieren.

Veröffentlichungen von Philippe Djian:

50 contre 1. Erzählungen. 1981. Deutsche Übersetzung in Vorbereitung.

Bleu comme l'enfer. Roman. 1982. Deutsch: Blau wie die Hölle. 1990.

Zone érogène. Roman. 1984. Deutsch: Erogene Zone. 1987.

37,2ø le matin. Roman. 1985. Deutsch: Betty Blue. 37,2ø am Morgen. 1986.

Maudit manège. Roman. 1986. Deutsch: Verraten und verkauft. 1988.

Echine. Roman. 1988. Deutsch: Rückgrat. 1991.

Crocodiles. Erzählungen. 1989. Deutsch: Krokodile. 1993.

Lent dehors. Roman. 1991. Deutsch: Pas de deux. 1994.

Sotos. Roman. 1993. Deutsch: Matador. 1995.

Assassins. Roman. 1994. Deutsch: Ich arbeitete für einen Mörder. 1996. Titel der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe von 1998: Mörder.

Criminels. Roman. 1996. Deutsch: Kriminelle. 1998.

Sainte-Bob. Roman. 1998. Deutsch: Heißer Herbst. 1999.

Die deutschsprachigen Ausgaben sind bei Diogenes, Zürich, erschienen, übersetzt von Michael Mosblech (bis „Pas de deux") und Ulrich Hartmann (ab „Matador")

Jens-Uwe Sommerschuh lebt als Schriftsteller in Dresden. Veröffentlichungen: Das Erste Buch Amasis. Erzählungen. 1995; Carcassonne. Roman. 1996; Das Zweite Buch Amasis. Erzählungen. 1998 (alle bei
Buchlabor, Dresden); Coyote. Roman. 2000 (in Vorbereitung bei Rütten & Loening, Berlin).

Freitag, 19. November 1999

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