Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
  Lexikon    Glossen     Bücher     Musik  

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Grass, Günter: Dynamit für einen Zwerg

Von Hermann Schlösser

Man könnte meinen, das Nobelpreiskomitee sei mit der deutschen Sozialdemokratie im Bunde. Denn kaum war seinerzeit Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt
worden, erhielt Heinrich Böll den Preis. Das war im Jahr 1972. Und heuer, ein Jahr nach dem Regierungsantritt des Kabinetts Schröder, wurde Günter Grass geehrt, der den Sozialdemokraten immer schon
nahe stand.

Während der Kanzlerschaft des Christdemokraten Helmut Kohl wurde kein Nobelpreisträger aus Deutschland gekürt. Das steht mit der deutschen Politik wahrscheinlich gar nicht im Zusammenhang, ist aber
überaus schlüssig. Denn welcher nobelpreiswürdige Autor hätte das Deutschland der Kohl-Ära adäquat repräsentiert? Am ehesten wohl der uralte Ernst Jünger, mit dem Kohl so herzliche Kontakte zu
unterhalten versuchte, wie Schröder mit Grass.

Aber wie hoch man auch den literarischen oder den zeitdiagnostischen Wert der Jüngerschen Schriften veranschlagen mag · ein idealer Nobelpreisträger wäre er nie gewesen. Denn dieser Preis wird
bekanntlich nicht für gutes Schreiben alleine vergeben, sondern auch für Verdienste um die Humanität und den Humanismus. Damit aber hat sich Jünger niemals abgegeben.

Anders Böll und Grass. Ihr Schreiben gehorchte · wie Böll es nannte · einer „Ästhetik des Humanen". In Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das nationalsozialistische Terrorregime
konzipierten sie eine Literatur, die von totalitären Allmachtsträumen frei sein sollte. Zu Zeiten übte dieses politisch gewissenhafte Literaturverständnis auch großen Einfluss auf Deutschlehrer,
Professoren und andere Pädagogen aus. Heute hingegen gelten Böll und Grass geradezu als Archetypen des „politisch korrekten Gutmenschen", für den man allenfalls ein müdes Achselzucken übrig hat.

Damit tut man vor allem Günter Grass Unrecht. Denn dass er auch anders könnte, wenn er wollte, zeigt sich in seinen Texten immer wieder · wenn auch in keinem mehr so ungehemmt wie in seiner berühmten
„Blechtrommel". Sie ist kein Erbauungsbuch für Gutmenschen: Oskar Matzerath, der Blechtrommler, ist ein radikal asozialer Geist, der seine Begabungen für allerhand niederträchtige Zwecke nützt.

Hätte Günter Grass diesen boshaften Geniestreich nicht geschrieben, wäre ihm der höchst dotierte Literaturpreis der Welt wohl versagt geblieben. Doch wäre er geehrt worden, wenn er nur diesen
Roman vorzuweisen hätte? Vermutlich auch nicht. Nobelpreiswürdig ist nämlich genau sein Bemühen, zwischen Eigensinn und Sozialverträglichkeit zu vermitteln. Obwohl er von der Faszination
nichtsnutziger Zwerge einiges versteht, arbeitete er sich lebenslang an politisch relevanten Themen ab: Vom demokratischen Sozialismus über die Umweltzerstörung, den Feminismus und die Dritte Welt
bis hin zu den Fragwürdigkeiten der deutschen Wiedervereinigung ließ er nichts unbedacht und unbeschrieben, was die deutsche Intelligenz in den vergangenen 40 Jahren beschäftigte.

Solche realpolitischen Denkanstöße mögen eine geringere ästhetische Durchschlagskraft haben als die selbstherrlichen Querschüsse Ernst Jüngers und ähnlicher Kaliber. Gerade deshalb hat es aber seine
Richtigkeit, dass sie mit einem Preis belohnt werden, den der Dynamithersteller Nobel einst stiftete, um die explosiven Folgen seines Produkts geistig im Zaum zu halten.

Freitag, 29. Oktober 1999

Aktuell

Erlebniswohnen in "G-Town"
Alles unter einem Dach: Die neue Lebensqualität in den Gasometern ist relativ
Drei Mädchen aus zwei Welten
Ceija, Sonja und Elvira – die Geschichte einer ungewöhnlichen Frauenfreundschaft
Kein "Lügner des Guten" sein
Der Präsident des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" (IKRK) im Gespräch

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum