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Eine Annäherung an Dragan Velikic in 14 Stationen

Velikic, Dragan: Große Werke kommen immer zu früh

Von Andreas P. Pittler

Fünf Romane hat der Schriftsteller Dragan Velikic bislang publiziert. Sein bislang jüngster, „Dante-Platz", erschien dieser Tage im Wieser-Verlag.
Nicht nur in diesem Opus Magnum legt der jugoslawische Autor Zeugnis ab von dem wahren Kreuzweg, den die Literatur, vor allem jene aus seiner Heimat, auf sich nehmen muss, um sich in einer Welt von
barbarischer Finsternis Gehör zu verschaffen.

1. Station

Der irische Schriftsteller Liam O'Flaherty meinte einmal, die Literaturlandschaft gleiche einer Festung. In ihr lebten die arrivierten Autoren, die, zu Reichtum und Anerkennung gekommen, sich
feiern ließen, während vor den Mauern des Bollwerks die jungen Schreibenden lagerten, die Alten schmähend und dabei stürmisch selbst Einlass fordernd.

Doch schon aus der Antike wissen wir, dass mitunter ein Achill auftritt, der keiner der beiden Seiten seine Kampfkraft leiht. Nun ist Dragan Velikic kein schmollender Kämpe, der
abseits steht, weil man ihm seinen Anteil vorenthält. Er ist ein Suchender, dessen Prosa sich abhebt von der allzu schnellen Effekthascherei mancher heute vorschnell hochgelobter Literaturhandwerker.
Meisterschaft verlangt Konzentration auf das Werk, das Sich-Versenken in den eigentlichen Gegenstand, ungeachtet allfälliger Zurufe von außen. Velikic ist es nicht um Ruhm zu tun.
„Besser ist es, nicht erfolgreich zu sein, als berühmt für einen Winter", erinnert er an eine Anspielung Nabokovs.

Für Velikic ist Literatur ein Prozess, in dem Autor und Publikum gemeinsam etwas ererben, denn nur, wenn zwischen Schreibenden und Lesenden eine tiefere Beziehung entsteht, wirkt das
Werk auch auf künftige Generationen.

Dementsprechend sind Velikics Romane auch keine simplen Erzählungen. Velikic will ebenso Spuren verwischen wie neue legen. „Verstecken und erstaunen", lautet
demgemäß auch seine Maxime, und er verfolgt dabei die Absicht, eine neue Realität zu entwerfen,„die ein bessere Zeuge wird als die wirkliche Wirklichkeit."

2. Station

„Bukette der Schatten: unruhige Feuerzungen umschlingen in schwankenden Umarmungen knisternd und flüsternd diese sonderbaren Besucher, die auf den blauen Mauern des Deville-Kastells die
Aschenblumen verflossener Zeiten herbeirufen.

Die Stadt der Schatten öffnet ihr steinernes Herz: Auf den blätternarbigen Steinen der zahnlückigen Krone des Amphitheaters schwebt der sterbende Blick von Crispi, über die mächtige Pylone, die Porta
Aurea, irren die müden Augen Michelangelos. In der Stadt, wo man die Leichen nicht tief begräbt, lockt die Pestluft die Geister der Toten herbei." (Aus: Via Pula. Klagenfurt 1991, S. 141.)

3. Station

1988 veröffentlichte Dragan Velikic, damals 35, seinen ersten Roman, „Via Pula", für den er den renommierten Milos-Crnjanski-Preis erhielt. In einer phasenweise an Danilo Kis
erinnernden Sprache nähert sich Velikic der Stadt Pula, seit jeher Schnittpunkt verschiedenster Völker und Kulturen, an, dabei den Erzählfluss in mancherlei Hinsicht brechend und
gegenzeichnend. Authentische Zeitungsartikel und historische Texte werden mit fiktiven Berichten und der eigentlichen Erzählung gegengeschnitten. Der Roman beginnt und endet im Jahr 1981, dazwischen
eine Zeitreise durch verschiedene Epochen vor dem Leser ausbreitend. Im Mittelpunkt von „Via Pula" steht die Geschichte des Psychiaters Bruno Gasparini, der, durch die Auseinandersetzung mit
einem Patienten auf die Geschichte der Stadt Pula verwiesen, schließlich auf sich selbst zurückgeworfen wird, bis er sich im Labyrinth der eigenen Psyche unwiederbringlich verliert.

Velikic heute zu seinem Debüt: „Dieser Roman war so etwas wie mein privates Examen, und am Ende des Schaffensprozesses wusste ich, besser konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht sein.
Und noch heute würde ich nichts an dieser Arbeit ändern, sie war und ist die Bühne, auf der ich meine weiteren Werke aufführen konnte."

Und tatsächlich: In seinem neuen Roman „Dante-Platz" findet sich, als vermeintliches Werk des Haupthelden Labud Ivanovic getarnt, eine längere Passage aus diesem Erstling Veliki
cs.

4. Station

„Heute verfolgt ein Primitivdenken in ganz Jugoslawien die Vernünftigen und Toleranten, die das einzige Hindernis für den totalen Krieg darstellen. Falsch ist es, die Primitiven nur in den
Barbaren zu sehen, denn in dieser Zeit gehen im ganzen freien Europa, im wohlhabenden und ordentlichen Europa, friedliche und brave Menschen durch die Straßen, die morgen schon vom Kriegsvirus
infiziert sein können. Und dann werden sie zuhauf töten, so wie sie es vor einem halben Jahrhundert getan haben.

Auf den Kriegsschauplätzen werden viele unschuldige Menschen sterben, und unter ihnen auch mancher Bach, Mozart, Kafka." (Aus: Stimme aus der Erdspalte. Klagenfurt 1992, S. 29 f.)

5. Station

1992 erschien Velikics zweiter Roman, „Das Astragan-Fell", in deutscher Übersetzung. Abermals entwirft der Autor ein literarisches Labyrinth, legt allseits Wege an, die dem
Leser Führung, aber auch Verführung sind. Das Werk leuchtet gleichsam direkt ins Herz der Finsternis dieses Jahrhunderts, ein Traum von Identität, ein Trauma der Irrungen und Wirrungen. Veliki
c greift die zahlreichen Knäuel unterschiedlichster Lebensläufe, die sich in dem Labyrinth des Lebens finden lassen, auf und verknüpft sie zu einer sprachgewaltigen Paraphrase auf die
ewig gleichen Fragen des Seins, webt aus feinen Satzfäden und dichten Bildern eine Geschichte, die, wie es damals in einer Rezension hieß, den Leser nicht so leicht aus ihren Fängen entlässt. Und
wieder spielt dabei die Stadt Pula eine nicht unwesentliche Rolle.

James Joyce behauptete einmal, wenn Dublin völlig zerstört werden würde, so könnte man es allein ob seiner Prosa völlig ident wieder aufbauen. Ähnliches gilt für Pula und Velikic. In
seinem Çvre hält er eine stadtgeschichtliche Entwicklung fest, eine Installation der Zeit, quer durch die Epochen nach 1945. So auch in „Dante-Platz". Velikic: „Hier halte
ich alle Straßen, Orte und Plätze der Stadt, die ich damals in meiner Jugend durchschritt und durchmaß, fest. Ein Annähern, mehr noch, ein Wiedererobern der eigenen Kindheit in ihrer damaligen
Umwelt. Man folgt dem Leben und stößt dabei auf die Wahrheit."

6. Station

„Frau Ema war seit 15 Jahren nur noch eine Fotografie. Die einzige Spur ihrer Existenz lag irgendwo im Schrank von Major Stanimir Delic: eine Blechbüchse für Patronen vom Kaliber 7,65 mm mit
einer kastanienbraunen Haarsträhne. Monate nach dem Tod der Mutter schrieb Marko das Gedicht ,Uhren, Urnen und Gespenster`. Stanimir ging zu dem Schrank im Schlafzimmer wie zu einem Altar und
beichtete nachts bisweilen im Flüsterton davor. Die einzige Spur von Emas Existenz in den Fingern des alten Mannes ähnelte einem seidigen Fell." (Aus: Das Astragan-Fell. Klagenfurt 1992, S. 35.)

Melancholie der Stadt, Melancholie der Wüste. ·

7. Station

Im Epilog zu „Dante-Platz" beweist Velikic, dass er auch „simple Geschichten" schreiben könnte, doch darum geht es ihm nicht. Er will Umfahrungen legen, gleichsam ein Stück
vom Kuchen des Lebens herausheben.„Und wenn auch der Leser dabei etwas ,verliert`, so ist das kein Nachteil, denn dafür entwickelt er vielleicht eine eigene Sichtweise und generiert dadurch eine
neue Sichtweise der Dinge." Jeder Anfang sei schließlich willkürlich gesetzt, erinnert Velikic, der seinen Epilog demgemäß auch als Beginn für neue Romane verstanden wissen will.
Geschichten beginnen und enden eben nicht einfach so, was die Literatur festhält, ist eine Momentaufnahme, bei der der Autor entscheidet, welchen Augenblick er abbildet. Zufall? Mag sein. „Aber",
so Velikic,„manchmal wird Zufall zum Teil der Strategie."

8. Station

„Von einem Autor, der aus Osteuropa kommt, erwartet der Westen gemeinhin, er müsse ein Zeuge aus der Hölle sein, wogegen seiner Kunst wenig Bedeutung beigemessen wird. Und fast schon dünkt es
dem westlichen Standpunkt zufolge wie Häresie, wenn ein jugoslawischer Autor über Dinge schreibt, die nicht mit dem Krieg in seiner Heimat in Zusammenhang stehen. Allzu leicht wird dabei vergessen,
dass Literatur niemals eins zu eins abzubilden imstande ist. Für einen Autor aus Jugoslawien besteht heute keine Möglichkeit zu einem ,Alibi`, sich nur der Literatur verpflichtet fühlen zu dürfen."
(Aus: Zusammenleben. In: A.P. Pittler/H. Verdel: Zwischen Feder und Fahne. Picus-Verlag, Wien 1993, S. 107.)

9. Station

Die Ereignisse in seiner Heimat zwangen Velikic, die neutrale Warte des Schriftstellers zu verlassen · so wie er auch schließlich gezwungen sein sollte, seine Heimat als solche zu
verlassen. In dem regimekritischen Magazin „Vreme", später auch im unabhängigen Radiosender B-92, vor allem aber in dem an den Sender angeschlossenen Buchverlag, arbeitete Velikic
unermüdlich für ein demokratisches, weltoffenes Jugoslawien, seine Stimme immer wieder auch im Westen erhebend. Und doch blieb es vor allem die Literatur, der er sich verpflichtet fühlte, und so
schrieb er neben seinen zahlreichen essayistischen und journalistischen Arbeiten seinen dritten Roman, „Der Zeichner des Meridian", der 1994 auf Deutsch erschien. Eine ahnungsvolle Suche nach
einer Bleibe zwischen Exil und aufgehobener Identität, in der sich klarerweise auch die Entwicklungen in Jugoslawien widerspiegelten. Es gibt keine eindeutigen Vorzeichen, lautet Velikic
s Botschaft im „Meridian", das Leben ist nicht vorherbestimmt. Und weil eben Geschichte veränderbar ist, erzählt Velikic seine Geschichte, denn die Literatur ist es, die dauert.

10. Station

„An der Schwelle des Alters überprüfen wir den Weg, den wir über die Jahre gegangen sind. Nun entdecken wir seine wichtigen Stationen, die wir ,Knoten` nennen. In einer durchsichtigen
Vergangenheit schauen wir alles nichtrealisierte Leben. Dabei ist die Person, mit der wir das Leben verbracht haben, vielleicht nur die Kopie der Person, die verborgen in der Schrift des Palimpsests
atmet. Eine zufällige Begegnung oder ein Innenhof, dessen Konturen wir vergessen haben, werden jetzt zum klaren Wegweiser. Doch sind wir bereits im Mittelpunkt der Pyramide angelangt."

(Aus: Der Zeichner des Meridian. Klagenfurt 1994, S. 163.)

11. Station

1994 befand sich Velikic im Wiener Exil. Hier ging er daran, seinen vierten Roman, „Nordwand" zu verfassen, der, zumindest teilweise, als Biographie James Joyces gelesen
werden kann, wenn auch Velikic weit über die üblich flache Darstellung eines Lebenslaufes hinausgreift. Von „Nordwand" gibt es bislang noch keine deutsche Übersetzung, was umso
schmerzlicher ist, als der Roman zu einem beträchtlichen Teil in Wien spielt. Die bislang veröffentlichten Teile des Werkes lassen jedoch ein baldiges Erscheinen von „Nordwand" als dringlich
erforderlich und geboten erscheinen.

12. Station

„Herr Artifoni nannte dem Träger die Adresse, und alle drei schlugen den Weg am Ufer ein, um an der nächsten Ecke nach rechts abzubiegen. Sie gingen am Park entlang, und der junge Mann
betrachtete schweigend die Häuserfassaden auf der anderen Straßenseite. Als sie zu einem steinernen Tor kamen, blitzten die Lichter des Corso auf. Herr Artifoni blieb stehen und sagte, dass es das
Doppeltor sei, nur 20 m werde er ihnen das Herkulestor zeigen, das älteste Denkmal der Stadt. Der junge Mann bemerkte, dass es viele Tore gab in dieser Stadt, und erkundigte sich bei Herrn Artifoni,
ob man in Pula öfters an- oder abreise. Herr Artifoni zuckte die Achseln und ließ die Frage unbeantwortet." (Aus: Nordwand. In: Andreas P. Pittler [Hg]: Dublin. Klagenfurt 1998, S. 135 f.)

Im Schweigen der Dinge. ·

13. Station

Vorerst aber erscheint nun Velikics 5. Roman, „Dante-Platz", der abermals in Pula angesiedelt ist. „Den Dante-Platz gibt es wirklich. Er hieß unter den Italienern so und
heißt heute im unabhängigen Kroatien wieder so. Nur zwischen 1947 und 1992, in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, hieß er ,Platz der Revolution`." Rund um diesen zentralen Ort
in der Pulaer Altstadt entwirft Velikic diesmal ein Kaleidoskop unterschiedlichster Lebensläufe. Da ist Damjan Savic, ein Bibliothekar, der den Nachlass des im Exil
verstorbenen Autors Labud Ivanovic ordnen soll, da ist aber auch der amerikanische Professor Adam Rosenberg, der sich auf die Suche nach Mitteleuropa gemacht hat und dabei auf Ivanovi
c, den ungarischen Autor Otto Koranyi und dem rumänischen Dichter Cornel Buzea stößt und in dieser Sache mit dem Literaturwissenschaftler Beljanskij ebenso konferiert wie mit dem
Buchhändler Brockpechler. Da ist aber auch Petar Furcic, ehemals Bandmitglied der Gruppe „Akanthus", nunmehr aber Briefträger, ein Tor zu einer nächsten Ebene Velikic
scher Wirklichkeit. Alle Protagonisten Velikics sind Archetypen, sie sind aber auch Schlüssel zu neuen Handlungsräumen, Koordinaten eines Systems von Zeit und Ort. Einmal mehr
bedient sich Veli-

kic dabei der gelungenen Synopsis von Fict und Fact, und selbst für den Pangnoten ist es eine wahre Herkuliade, die zahlreichen Zitate und Verweise zu entschlüsseln, die sich, Joycens
„Ulysses" gleich, in „Dante-Platz" finden. Nun, ein Schlüssel sei hier abschließend geboten: das mehrfach zitierte Hauptwerk Ivanovics, „Schisma", hat seinen
Ursprung in Velikics eigenem Schaffen: „Vor zehn Jahren wollte ich diese Geschichte tatsächlich einmal schreiben. Aber mit der Zeit fand ich es spannender, DARÜBER zu schreiben als
SIE zu schreiben."

14. Station

„Was ist das schon, der rechte Augenblick? Für das Werk gibt es nur den schlechten Augenblick. Große Werke kommen immer zu früh. Das Vermögen des Künstlers besteht ja gerade darin, das zu sehen,
was ansonsten noch unsichtbar ist, um so die unvermeidlichen Bewegungen aufzeigen zu können, die erst erfolgen werden. Jedes große Werk erreicht aus der Zukunft die Gegenwart." (Aus: Dante-Platz.
Klagenfurt 1999, S. 232.)

„Dante-Platz" wurde von Bärbel Schulte übersetzt. Alle Werke Velikics sind auf Deutsch im Wieser-Verlag erschienen.

Freitag, 15. Oktober 1999

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