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Vor 150 Jahren, am 7. Oktober 1849, starb Edgar Allan Poe

Poe, Edgar Allan: Tollwut in Baltimore?

Von Tom Appleton

Die Bluttat war extrem brutal ausgefallen: „Da man auf dem Kamin eine ungewöhnliche Menge Ruß bemerkte, forschte man im Kaminrohr nach und zog · es ist grauenhaft,
nur daran zu denken · den Leichnam der Tochter aus ihm hervor, der mit dem Kopf nach unten ziemlich hoch in den Schlot hinaufgezwängt worden war. Der Körper war noch ganz warm. Bei der Untersuchung
entdeckte man zahlreiche Hautabschürfungen, die ohne Zweifel durch die Heftigkeit, mit welcher man den Leichnam hinaufgeschoben und wieder herausgezogen hatte, verursacht worden waren." So weit
die Tochter. Nicht minder übel zugerichtet war aber auch die Mutter, die vier Stockwerke tiefer, auf einem gepflasterten Hof an der Rückseite des Hauses lag: „Hier fand man den Körper der alten
Dame mit so vollständig durchgeschnittenem Halse, dass der Kopf, bei dem Versuch, die Leiche aufzurichten, abfiel."

Dies also ist der berühmte Doppelmord in der Rue Morgue, welcher der allerersten Detektivgeschichte Thema und Titel lieferte. Der Verfasser hieß Edgar Allan Poe. Die Umstände von Poes eigenem
Ableben · vor nunmehr 150 Jahren, am

7. Oktober 1849 · waren kaum weniger mysteriös. Der 40-jährige und eben von einer lebenslangen Abhängigkeit kurierte Ex-Alkoholiker war voll neuer Hoffnung und mit neuem Geld von New York nach
Baltimore aufgebrochen. Wurde er von den Brüdern seiner neuen Braut (die gegen die Hochzeit waren) verfolgt, überfallen, und mit Whisky voll gepumpt, bis man ihn, tödlich vergiftet, in den schäbigen
Kleidern eines Fremden, in der Gosse liegen ließ? Oder wurde der wohlhabend aussehende Autor am Bahnhof von Wahlhelfern geschnappt, die eben damals, wie es in der jungen Demokratie weithin üblich
war, wehrlose Bürger zusammentrieben und unter Alkoholeinfluss setzten, um dann die willenlos gemachten Opfer am Tag der Wahl in großer Zahl von einem Wahllokal zum nächsten zu kutschieren? Niemand
weiß es. Eine weitere, neuere Theorie, erstmals in der „New York Times" vom 15. September 1996 vorgetragen, besagt, Poe sei nicht an den Folgen des Alkohols, sondern an der Tollwut gestorben.
Wie auch immer: Sein eigener Tod gibt, wie bei einem Autor von Kriminal-und Horrorgeschichten vielleicht nicht anders zu erwarten, bis heute Rätsel auf.

Poe gilt heute als Begründer und Vorläufer verschiedener literarischer Genres, einschließlich der Science-fiction. Die vergleichsweise wenigen „Schlussfolgerungsgeschichten" sollten freilich seine
größte und folgenreichste Erfindung in die Literatur einschleusen: die Gestalt des Detektivs.

Detektivische Elemente hatte es auch schon vor Poe gegeben, so in Voltaires „Zadig" (1748). Was aber bei Voltaire nur Spielerei war, das Spurenlesen, wurde bei Poe zur ernsthaften Arbeit.
Falsche Fährten wurden gelegt und rote Heringe zur Irreführung der Spürhunde darüber gestrichen. Entsprechend verändert wirkte denn auch der Tatort: „Das Zimmer war in der wildesten Unordnung: die
Möbel zertrümmert und nach allen Seiten umgeworfen. Aus einer Bettstelle waren die Betten herausgerissen und in die Mitte des Zimmers geschleppt worden. Auf einem Stuhl lag ein mit Blut beflecktes
Rasiermesser. Auf dem Kamin fand man zwei oder drei lange, dichte Flechten von grauem Menschenhaar, die auch mit Blut besudelt waren und mit den Wurzeln herausgerissen zu sein schienen. Auf dem Boden
lagen vier Napoléons, ein Ohrring mit einem Topas, drei große silberne Löffel, drei kleinere von „metal d'Alger" und zwei Beutel, die beinahe 4.000 Francs in Gold enthielten. Die Schubfächer eines
Schreibtisches standen offen und waren ohne Zweifel geplündert worden." Das ist die typische Dinglichkeit des Tatorts und aller Tatorte aller Kriminalgeschichten seither. Und auch sonst bietet
sich hier die klassische Urszene aller nachfolgenden Locked-Room-Mysteries (Morde hinter geschlossenen Türen): der Schlüssel steckt · aber von innen. Die beiden Fenster sind geschlossen, sogar
vernagelt. Der Kamin ist, wie gesagt, verstopft. Vom Täter (respektive den Tätern) fehlt zwar nicht jede Spur. Aber er hat sich (oder sie haben sich, wenn es mehrere waren) offenbar in Luft
aufgelöst.

Der Detektiv

Ebenso verwirrend die Aussagen der Zeugen. Alle geben an, sie hätten in den Zimmern der Mordopfer zwei sich streitende Stimmen gehört. Die eine habe, meinen die Zeugen übereinstimmend, einem
Franzosen gehört. Uneinig sind sie sich über die Zweite. Isidore Muset hält sie für die Stimme eines Mannes oder einer Frau, die spanisch gesprochen habe. Henri Duval spricht selbst kein Italienisch,
hält die Stimme aber für die eines Mannes oder einer Frau, die italienisch sprach. Der Zeuge Odenheimer aus Amsterdam erkannte die Stimme eines männlichen Franzosen, spricht aber selbst kein
Französisch. William Bird, Engländer, hält die Stimme für deutsch, spricht selbst kein Deutsch. Alfonzo Garcio, gebürtiger Spanier, spricht kein Englisch aber meint, die Stimme gehöre einem
Engländer. Alberto Montani, Italiener, denkt an einen Russen, hat jedoch selber nie mit einem Russen gesprochen. Man sieht sechs Statisten in einem absurden Stück, die auf den Hauptdarsteller warten:
den Detektiv Dupin. Dupin ist ein französisch-amerikanischer Doppelkopf, so, wie sich Poe wohl gerne selbst gesehen hätte, der Probleme mit logischer Fantasie, mit einer Synthese aus Analyse und
Imagination lösen wird. Poe verstand freilich kaum Französisch, er war nie in Paris gewesen, die Geschichte spielt an einem imaginären Ort. Der Name Rue Morgue (Leichenschauhausgasse) fiel ihm erst
bei der Korrektur der Druckfahnen ein. Der Chevalier Cesar Auguste Dupin erweist sich als quasi-anagrammatische Selbstumwandlung (und wunschhafte Selbsterhebung in den Adelsstand) seines Erfinders
Edgar Allan Poe.

Beigegeben ist diesem Dupin ein Amerikaner in Paris, ein weiterer Doppelgänger „Poes", diesmal als watsonscher Erzähler. Dupin und Kompagnon „schlafen nie" („we never sleep", ein Motto, das
später von der Detektei Pinkerton aufgegriffen werden würde.) In der Nacht sind die beiden Detektive auf den Straßen von Paris unterwegs, tagsüber sitzen sie hinter zugezogenen Jalousien wach und
räsonieren beim schwachen Licht parfümierter „Kerzen", wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Im Original steht zweideutiger das Wort „taper": was Kienspan, Fidibus, Kerze bedeuten kann; aber
auch ein Joint sein könnte, der wesentlich bessere Ursache hätte, als „parfümiert" zu gelten.

Ob Dupins abgehobene Gedankenlesekunst vielleicht nichts anderes ist als die geschärfte Intuition des Kiffers? Jedenfalls glaubt der knifflige Analytiker an die Rationalität der Täuschung. Er nimmt,
um einen Fall zu lösen, die Welt lieber zwischen halbgeschlossenen Lidern wahr:„Blickt man", erläutert er seine Theorie der tangentiellen Wahrnehmung, „einen Stern flüchtig oder von
seitwärts an, so dass man ihm die äußeren Partien der Netzhaut zuwendet, die für schwache Lichteindrücke empfindlicher sind als die inneren, so erblickt man den Stern und seinen Glanz am
deutlichsten." Und weiter: „Durch übertriebene Tiefsinnigkeit schwächen und verwirren wir den Gedanken; und man kann sogar die Venus selbst vom Firmament verschwinden lassen durch zu
anhaltendes, zu scharfes oder zu unmittelbares Anstarren."

Kritisch ist Poes fiktiver Detektiv denn auch gegenüber seinem Gegenspieler in der realen Welt, Vidocq. Jener „hielt sich seine Gegenstände so nahe vor das Auge, dass er vielleicht ein oder
zwei Punkte mit außergewöhnlicher Schärfe wahrnahm, dafür aber naturgemäß keinen Überblick über das Ganze gewinnen konnte." Dupin lässt hier Vidocq, den ersten professionellen Detektiv der Welt
und Gründer der Pariser Kriminalpolizei, der Sureté, in der Vergangenheit auftreten. Poe mag dem Fehlschluss aufgesessen sein, dass der französische Detektiv längst im Totenreich weilte, da der
erste, anonyme Band von Vidocqs umfangreichem Memoirenwerk bereits 1830 erschienen war. In der Realität sollte es sich zuletzt aber genau umgekehrt verhalten: Als Vidocq 1857 starb, lag Poe bereits
acht Jahre lang in der Erde.

Geboren wurde Edgar Poe 1809 in Boston. Beide Eltern waren Schauspieler, der Vater zudem Alkoholiker. Zu dem eigenen beruflichen Misserfolg kam noch die Geburt des dritten Kindes, der als Resultat
eines Seitensprungs der Mutter entstandenen Tochter, Rosalie, 1810, die wohl den Vater bewogen haben mochte, seiner Familie den Rücken zu kehren und spurlos zu verschwinden. Ein Jahr später, im
Dezember 1811, starb die Mutter an Tuberkulose. Zu Edgars prägenden Kindheitserfahrungen gehörte es, den Todeskampf seiner Mutter miterlebt zu haben: Der Anblick ihrer in der Totenstarre gebleckten
Zähne begleitete ihn ein Leben lang. Der ältere Bruder, William Henry, wurde zu den Großeltern in Baltimore abgeschoben. Erst kurz vor seinem frühem Tod 1831 sollte Henry · der, von Poe idealisiert
und in vielen Geschichten heroisiert, zur See gefahren war · noch für einige Monate bei seinem jüngeren Bruder aufgenommen werden. Die Spur der kleinen Schwester verliert sich. Bekannt ist nur, dass
sie als Erwachsene geistig behindert war.

Poes Lebensmärchen erwies sich als schöner Traum, der in einen Alptraum abstürzte. Wie Oliver Twist wurde auch dieser Waisenknabe von einem steinreichen Großkaufmann, John Allan, aufgenommen und im
Luxus aufgezogen. Aber Poe war kaum großjährig geworden, als sich der Stiefvater gegen den talentierten 18-jährigen wandte und ihn Knall auf Fall ohne einen Penny auf die Straße setzte. Statt ein
Millionenvermögen zu erben und in sorgloser Muße zahlreiche intellektuelle Interessen zu pflegen, musste Poe nun als unterbezahlter Lohnschreiber, stets hart am Rande der psychischen oder physischen
Selbstauflösung, sein Dasein fristen.

Poe, der Analytiker, bot sich als Analysand geradezu an, ebenso wie sein Werk, das wichtige Erkenntnisse der Psychoanalyse vorwegnimmt. „Edgar Poe" aus dem Jahr 1933, die dreibändige Studie der
Freud-Schülerin Marie Bonaparte, einer Urenkelin Napoleons, wirkt zwar streckenweise wie eine Parodie aus der Feder Robert Neumanns, erweist sich aber letztlich doch als subtiles und
einsichtsförderndes Werk. Marie Bonaparte zufolge glich der Doppelmord an den zwei Frauen einem gewalttätigen Sexualakt. Sie vermutete in der Geschichte die Rekonstruktion jener kindlichen
Erforschung des „Sexualattentats" an der Mutter, also des Geschlechtsverkehrs der Mutter mit einem anderen Mann, der zur Geburt der Halbschwester geführt hatte. Und tatsächlich entpuppt sich
der Gesuchte in der Geschichte als „rot" und „haarig", also als personifizierter Phallus, als eine fast schon philogenetische Ur-Vatergestalt, wie sie uns in Träumen begegnet: Der Mörder ist ein
Orang-Utan (indonesisch für: ein Wald-Mensch). So fühlt denn auch der Erzähler der „Rue Morgue", wie im Traum.

Verdecken durch Aufdecken

Poe war bestimmt nicht der Einzige, der sich von seinen Träumen inspirieren ließ · siehe Kafka, siehe Robert Louis Stevenson. Aber in der Detektivgeschichte treten die Traum- oder Märchenelemente
deutlicher zutage. Beschreibungen wie die Folgenden verdecken z. B. etwas, in dem sie es aufdecken: „Unter den Bettkissen, nicht unter dem Bettkasten, entdeckte man eine kleine, eiserne Kassette.
Sie war offen und der Schlüssel steckte in dem Schloss; ihr Inhalt bestand aber nur aus einigen alten Briefen und anderen belanglosen Papieren." Und noch einmal: „Madame L'Espanaye und ihre
Tochter waren, in ihre Nachtkleider gehüllt, offenbar damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Papiere in der schon erwähnten, eisernen Geldkiste zu ordnen, die sie zu diesem Zweck mitten in das
Zimmer gestellt hatten. Sie war offen und ihr Inhalt lag auf dem Fußboden daneben." Marie Bonaparte bemerkt mit Recht den Widerspruch zwischen den beiden Textstellen: Anschließend waren die Briefe
und die Papiere in der Schatulle, vorher lag ihr Inhalt verstreut auf dem Fußboden neben dem Kästchen. Nun hätten aber weder der Mörder-Affe noch die ermordeten Frauen sich die Zeit nehmen können,
die Papiere wieder in die Kassette zurückzulegen. Marie Bonaparte schließt daraus, die Briefe seien im Bereich der latenten, das heißt, hinter der Geschichte verborgenen Gedanken des Autors mit
Schuld beladen. Die Enthüllung des angenommenen, „daneben" liegenden Seitensprunges der Mutter wird bei ihrem Tod als Geheimnis mit ins Grab, in die Schatulle des Sarges genommen. Zuletzt weist Marie
Bonaparte hier auf die symbolische Darstellung des Raums als Synonym für die „Frau" hin, wie sie uns noch in der abfälligen Bezeichnung „Frauenzimmer" begegnet, wobei der Kamin als der Geburtskanal
anzusehen wäre, in den zur Ungeschehenmachung der außerehelichen Geburt der jüngeren Schwester die Tochter wieder zurückgestopft worden ist.

Poe war das überragende literarische Genie Amerikas im 19. Jahrhundert. Auch wenn er das Böse in „Paris" ansiedelt, ist er ein amerikanischer Schriftsteller. Die rückschrittlichen gesellschaftlichen
Konventionen Europas, die seinem Zeitgenossen Hawthorne so sauer aufstießen, hätten solch „perverse" Storys wie diejenigen Poes in der alten Welt vielleicht kaum zum Druck gelangen lassen. Perversion
ist, wie schon Herbert Marcuse bemerkt hat, ein Akt der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. So kommt es zu der Künstlichkeit der Geschichten Poes, in denen ein noch unbekanntes Territorium
vermessen wird durch Protagonisten, die ihre Entdeckungen nicht in der Geografie machen, sondern in der Topografie der amerikanischen Psyche.

Freitag, 01. Oktober 1999

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