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Vor 40 Jahren starb der Universalkünstler

Vian, Boris: Ein eiliges Leben

Von Natalie Freund

„Ich werde keine 40 Jahre alt", hatte Boris Vian zu seiner Frau gesagt. Er sollte recht behalten. Als am 23. Juni 1959 sein Herz im Kino Marboeuf bei der
Voraufführung eines Films versagte, war er gerade 39. Der französische Verlag Fayard bringt nun, zum 40. Todestag Vians, das Gesamtwerk des lange verkannten Schriftstellers und Allround-Genies in 14
Bänden heraus: sieben Romane, sieben Theaterstücke, drei Opern, um die 500 Chansons, 28 Drehbücher, Hunderte Artikel, zahlreiche Erzählungen und unzählige Gedichte. Es ist kaum zu glauben, was der
Autor des berühmten Chansons „Der Deserteur" in seiner kurzen Lebenszeit alles geschaffen hat. Seiner Bibliographie muß man außerdem eine ebenso dichte Biographie hinzufügen: einen
„anständigen" Beruf als Ingenieur, Gelegenheitsjobs als Übersetzer (unter anderem von Raymond Chandler, Georg Kaiser und August Strindberg!), ein Leben als Nachtschwärmer und Jazztrompeter, zwei
Ehen, zwei Kinder und noch vieles mehr.

Dennoch bleibt Boris Vians Bedeutung in der französischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts umstritten. Die Meinung der Literaturwissenschaftler ist gespalten: Die einen verehren ihn, viele
aber nehmen ihn nur als blasse Kopie des großen Raymond Queneau wahr. Dabei war es gerade Queneau, der an Vian glaubte, ihm half, seinen ersten Roman zu publizieren, und der sein Buch „Der Schaum
der Tage" als „ergreifendsten Liebesroman der Gegenwart" bezeichnete. Wenn Vian heute an den französischen Schulen durchgenommen wird, so ist das den Schülern zu verdanken, die in den späten
sechziger Jahren darauf bestanden hatten, ihn in das Unterrichtsprogramm aufzunehmen.

Krank am Herzen

Warum dieses eilige Leben, dieser Schaffensdrang? Boris Vian wurde am 10. März 1920 im gutbürgerlichen Ville d'Avray, einem Vorort von Paris, geboren. Bis 1929 wohnten die Vians in einer
prächtigen Villa. Die Kinder erhielten Privatunterricht. Dann verlor Paul Vian nach dem Börsenkrach sein Vermögen. Er sah sich gezwungen, die Villa zu vermieten und mit seiner Familie ins
Portiershäuschen zu ziehen. Die neuen Mieter waren die Menuhins, und Boris konnte sich an seinem Schachpartner Yehudi Menuhin, der damals 13 Jahre alt war und bereits auf eine sechsjährige
Konzertkarriere zurückblicken konnte, ein Beispiel nehmen. Als Boris mit 15 Jahren an Diphterie erkrankte und eine Herzmuskellähmung davontrug, wußte er, daß er sich „mit dem Leben beeilen"
mußte. Zu seinem großen Leid wurde er nun noch mehr von seinen Eltern umsorgt. Vielleicht war es diese übertriebene Fürsorge, die Boris Vian zu dem kreativen Energiebündel machte, das er war: Wie
zum Trotz gegen die Eltern und gegen die Krankheit schonte er sich nicht, sondern lebte gleich mehrere Leben gleichzeitig. Er hat diese behütete Kindheit in zwei seiner Romane eingearbeitet: In
„Das rote Gras" baut Wolf, Ingenieur wie Vian, eine Maschine, die Erinnerungen zerstören soll · zuerst werden Erinnerungen wachgerufen, damit sie dann für immer vergessen werden können:

„,Da sind mehrere deutliche Dinge`, sagte er. ,Mein Wunsch, meine Schlaffheit zu besiegen und das Gefühl, daß ich diese Schlaffheit meinen Eltern zu verdanken hatte, und die Neigung meines
Körpers, sich ganz dieser Schlaffheit zu überlassen. Es ist komisch, wissen Sie, mein Kampf gegen die bestehende Ordnung hat mit der Eitelkeit begonnen. Wenn ich mir in diesem Spiegel nicht
lächerlich vorgekommen wäre . . . Das Groteske meines Aussehens hat mir die Augen geöffnet. Und die offensichtliche Groteskheit gewisser Familienfreuden hat mich dann vollends angewidert. Sie wissen
doch, die Picknicks, bei denen man sein Gras mitbringt, damit man auf der Straße sitzen bleiben kann, um dem Ungeziefer aus dem Weg zu gehen.` (. . .)"

In „Der Herzausreißer" ängstigt sich Clementine derart um ihre Drillinge Joël, Noël und Citroën, daß sie bestimmte Sicherheitsmaßnahmen ergreift, um alle Gefahren abzuwehren: Die Bäume im
Garten werden gefällt, damit die Kinder nicht hinaufklettern und herunterfallen können, die Erde wird zum Schutz gegen Mikroben zubetoniert, und zuletzt enden die drei in separaten Käfigen, im Haus,
wo sie gefahrlos heranwachsen können.

Vians Herzleiden befreite ihn wenigstens vom Militärdienst. Er konnte studieren, Feste organisieren, Trompete spielen und heiraten. Sein literarisches Talent zeigte er bereits im Vorwort seiner
Abschlußarbeit für das Ingenieursstudium: Er hatte das nur begrenzt poetische Thema „Die Physikochemie metallurgischer Produkte" in Alexandrinern abgefaßt. Danach arbeitete Vian in einem Büro
als Ingenieur, um sich, seine Frau Michelle Léglise, die er 1941 geheiratet hatte, und seinen Sohn Patrick, der ein Jahr später zur Welt kam, „durchzufüttern". Die Konfrontation mit der
Administration und Bürokratie beschreibt er · man könnte beinahe sagen „verarbeitet" er · mit viel Humor in „Drehwurm, Swing und das Plankton". Seine Freizeit jedoch verbringt er musizierend
und schreibend. Er spielt in Claude Abadies Orchester Trompete; gemeinsam heizen sie die Abende der Pariser an. Das Bekenntnis zum Jazz war seine Art von Widerstandskampf. Als Jazzexperte schreibt
Vian auch für Musikzeitschriften. Vor allem organisiert er unvergeßliche Jazz-Sessions mit Größen wie Charlie Parker, Miles Davis und Duke Ellington.

Der Stimmungsmacher

So wurde Boris Vian zum „Prinzen" von Saint-Germain-des-Prés, dem damaligen kulturellen Zentrum Frankreichs, in dessen Lokalen sich Künstler und Intellektuelle trafen. In den Cafés wie dem „Flore"
oder dem „Deux Margaux" konnte man untertags Schriftsteller wie Sartre treffen, der dort entweder die Zeitungen las oder mit Freunden diskutierte, während sich am Abend die Kellerlokale füllten. Da
wurde musiziert, getrunken, getanzt und gelacht. Alle, die zur Szene gehörten, waren da, neben Jean-Paul Sartre Simone de Beauvoir, Juliette Gréco, Jacques Prévert, Henri Salvador, Raymond Queneau
und Albert Camus. Wurde eines der Lokale in den Zeitungen als Geheimtip gepriesen, so wechselte man einfach zum nächsten, um ungestört weiterfeiern zu können.

Allerdings litt „Prince Boris" auch darunter, lediglich als Musiker und Stimmungsmacher anerkannt zu sein. Doch seine Romane hatten keinen Erfolg. Entweder wurden sie erst gar nicht verlegt oder sie
wurden von niemandem gekauft. Die Kritiker übersahen ihn geflissentlich oder sie nahmen ihn nicht ernst. Alles drehte sich um Sartre und den Existentialismus. Das Verhältnis zwischen Vian und Sartre
war dementsprechend schwierig. Beide waren Persönlichkeiten von Saint-Germain-des-Prés, nur war Sartre um vieles berühmter und angesehener. Als ernstzunehmender Schriftsteller und Denker war er
sozusagen der König und Vian der Hofnarr, der abends alle unterhielt. Als Vian 1946 „Der Schaum der Tage" schrieb, war das Verhältnis zwischen ihnen noch gut. Sartre war von der Persiflage
seiner Person in Vians Roman amüsiert. Die Kritik geht auch weniger in Sartres Richtung, als in die seiner hysterischen Fans: Chick, eine der Hauptpersonen, ist ein fanatischer Bewunderer von „Jean-
Sol Partre". Es geht ihm aber nicht um den Inhalt seiner Bücher, sondern darum, alle möglichen Ausgaben und Reliquien zu besitzen · wie zum Beispiel die in Stinktier gebundene Ausgabe von „Moder oder
Erbrechen". Besonders komisch ist die Schilderung des berühmten Vortrags „Der Existentialismus ist ein Humanismus", den Sartre am 29. Oktober 1945 gehalten hatte, und der zu einem Massenereignis
geworden war. Sartre erscheint dabei auf einem Elefanten, umringt von Scharfschützen. Die draußen wartenden Massen werden von dem Elefanten niedergetrampelt, während sich drinnen Sartre mit einem
Beil den Weg zum Podium freischlägt, wo er dann ausgestopfte Exemplare von Erbrochenem vorführt.

„Für mich gibt es keine

Essenz"

Vian war vom Existentialismus alles andere als angetan, aber er hat sich wohl auch zuwenig damit auseinandergesetzt, um konkrete, produktive Kritik zu üben. In einem Artikel, der im Juli 1946
unter dem Titel „Sartre et la merde" erschien, äußert er sich folgendermaßen: „Ich bin kein Existentialist. Für einen Existententialisten geht die Existenz der Essenz voraus. Für mich gibt
es keine Essenz." Die neue Generation, die den Prinzen Vian zehn Jahre nach seinem Tod zu ihrem König ernannte, war wohl gerade von diesem trotzigen Verhalten angetan. Er verkörperte für sie den
„Revoluzzer", der sich der Masse entgegenstellt. Er kritisiert das System und alles, was im entferntesten damit zu tun hat, aber er bleibt dabei trotzdem lebensbejahend. Er verurteilt alle Werte, die
unserer Gesellschaft wichtig sind, aber er tut es auf derart humoristische Art, daß einem die ständige Sozialkritik nie auf die Nerven geht. In „Der Schaum der Tage" beginnt alles
schiefzugehen, als Colin und Chloé heiraten. Die Ehe ist für Vian ein Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gibt. Vor allem, weil der Mann nun wirklich gezwungen ist, zu arbeiten, um Geld zu
verdienen. Und in Vians Romanen ist Arbeit immer eine extrem langweilige oder gänzlich absurde Tätigkeit: In „Herbst in Peking" bauen Ingenieure mitten in der Wüste eine Eisenbahnlinie. Dafür
muß schließlich auch das einzige Gebäude weit und breit, das Hotel, abgerissen werden, weil die Linie just dort durchgehen muß.

Vian mokiert sich auch besonders gerne über die Religion und ihre Theatralik. Bei der Hochzeit von Chloé und Colin wird die Zeremonie mit einem Spektakel gleichgesetzt, und der Priester ist um sein
Aussehen so eitel besorgt wie ein Filmstar. Die Sprache wird von Vian nicht nur dazu verwendet, eine Person oder eine Gesellschaft zu beschreiben, eine „Botschaft" zu vermitteln oder einen Stil zu
formen. Sie ist bei ihm kein Mittel, eine Liebesgeschichte zu erzählen, sie spielt vielmehr aktiv in der Geschichte mit. Die Sprache ist in Vians Werken immer eine der Hauptpersonen. Er nimmt die
Sprache beim Wort und schafft somit ein ganz eigenes Universum, in dem Mäuse sprechen können und alte Stühle ärztlich behandelt werden müssen. Seine semantischen Absurditäten haben ihm einen Platz im
„College de Pataphysique" beschert, das Alfred Jarry mit seinem „Doctor Faustroll, pataphysicien" als ihren Begründer ansieht und das sich der Wissenschaft imaginärer Lösungen widmet. Mit
Eugéne Ionesco, Raymond Queneau, Marcel Duchamp, Man Ray und Max Ernst war er dort in guter Gesellschaft.

Vian hatte zuwenig Zeit, an seiner Kritik zu feilen, anderseits wollte er auch nicht in die Rolle eines ernsten Intellektuellen schlüpfen. Er hielt sich auch nie lange bei einem angefangenen Werk
auf. Wenn er Chansons schrieb, so gefielen sie ihm entweder auf Anhieb oder sie landeten im Papierkorb · er wollte keine Zeit damit verlieren, sie zu bearbeiten. Auch seine Romane schrieb er in
Rekordzeit: „Der Schaum der Tage" entstand von März bis Mai 1946, „Herbst in Peking" von September bis November desselben Jahres, und dazwischen schrieb er in 15 Tagen „Ich werde auf
eure Gräber spucken".

Ein zwiespältiger Erfolg

Dieser letzte Roman war sein damals einziger Erfolg. Alles fing mit einer Wette an. Boris Vian war frustriert, weil seine Romane nicht veröffentlicht wurden. Der Verleger Jean d'Halluin empfahl
Boris als Rezept für ein erfolgreiches Buch eine Mischung aus Henry Miller, William Faulkner und Hemingway. Vian ging die Wette ein, ein so buntes Buch in nur 14 Tagen zu verfassen, was er auch
schaffte, zumindest was die Zeit betrifft. „Ich werde auf eure Gräber spucken" veröffentlichte er unter dem Pseudonym Vernon Sullivan, trat aber als Übersetzer aus dem Amerikanischen auf · nach
dem Krieg war die Nachfrage nach ausländischer Literatur groß. Der Pornokrimi, in dem Sex, Mord, Alkohol, Rassenverfolgung und Gewalt wild vermischt werden, kam im November 1946 auf den Markt und
wurde augenblicklich zum Skandal. Der wurde umso größer, als das Buch neben der Leiche einer ermordeten Prostituierten gefunden wurde. Gleichzeitig wurde es ein kommerzieller Erfolg. Vians
Autorenschaft blieb nicht lange geheim, vor allem nach seinem Nachwort zum zweiten Sullivan-Buch „Tote haben alle dieselbe Haut". Darin beschimpft er die Literaturkritiker, die ein schlechtes
Buch zu einem Erfolg machen, und andere, „kompliziertere" Bücher, die sie nicht verstehen, zum Tode verurteilen. Nach einer Klage wegen Verleitung Jugendlicher zur Ausschweifung wurde es im Juli 1949
schließlich verboten.

„Ich werde auf eure Gräber spucken" war Vians größter, um nicht zu sagen einziger Erfolg zu Lebzeiten, und gerade das deprimierte ihn, weil er es für ein künstlerisch schlechtes Buch hielt. Er
hatte sich mit diesem Vorhaben einen Strick gedreht, denn er wurde Vernon Sullivan bis zu seinem Ende nicht mehr los. „Ich werde auf eure Gräber spucken" verkaufte sich seinerzeit 500.000mal,
von „Der Schaum der Tage" wurden damals nur 2.000 Stück verkauft. Sullivan hat dem Schriftsteller Vian die Show gestohlen, er hat ihn im wahrsten Sinn des Wortes umgebracht: Es war die
Voraufführung des Films „Ich werde auf eure Gräber spucken", den er noch zu verhindern versucht hatte, bei dem sein Herz versagte.

Literatur auf Deutsch:

Boris Vian: Der Schaum der Tage.

· Das rote Gras.

· Der Herzausreißer.

· Drehwurm, Swing und das Plankton.

· Herbst in Peking.

· Ich werde auf eure Gräber spucken.

Klaus Völker: Boris Vian · der Prinz von Saint-Germain.

Alle erhältlich beim Verlag Wagenbach (auch Erzählungen und Gedichte).

Philippe Boggio: Boris Vian, Rowohlt-Taschenbuch, 1997.

Freitag, 18. Juni 1999

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