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Eine Hommage

Chotjewitz: Geschichten erzählen ist wie Leben

Von Georg Oswald

„Was ist er: ein Nacherzähler, Fabulierer, Arrangeur, Sprachspieler, ein Provokateur, ein ernsthafter Schriftsteller? Von allem etwas? Alles in einem?" fragte Anfang
der achtziger Jahre der deutsche Kritiker Volker Hage in einem Rückblick auf Peter Otto Chotjewitz' Veröffentlichungen. Am Ende der Neunziger haben diese Fragen nichts an Aktualität verloren, im
Gegenteil, die Veröffentlichung des neuen Romans „Das Wespennest" faßt alles noch einmal zusammen, was das Chotjewitzsche Schreiben ausmacht. Den Klappentexten seiner Bücher sowie diversen
Lexikoneinträgen kann man entnehmen, daß Peter Otto Chotjewitz, der seinen zweiten Vornamen auch gerne mit der Abkürzung O. stehenläßt, am 14. Juni 1934 in Berlin geboren wurde. In Hessen
aufgewachsen, erlernte er zunächst den Beruf des Malers und Anstreichers, holte auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach und studierte darauf hauptsächlich Jus. In seiner juristischen Laufbahn
vertrat er in den Siebzigern Andreas Baader und den Schriftsteller Peter Paul Zahl. Die Doppelexistenz als Autor und Jurist bildet einen ersten aufschlußreichen Anhaltspunkt für sein Schreiben. Die
beiden Romane „Hommage à Frantek" und „Die Insel · Erzählungen auf dem Bärenauge" bilden in den Sechzigern das Debüt eines vielversprechenden Autors, der im Lauf der Zeit ganz
unterschiedliche Texte hervorgebracht hat. Es sind zunächst sprudelnde Geschichten, aberwitzige Anspielungen, mit Leseanweisungen versehen, die einem entgegenspringen. Es geht um eine Figur, deren
Identität während des ganzen Romans nie geklärt wird. Oder die Geschichten beziehen sich auf eine Stadt, die in persönlichen Anekdoten ersteht. Gegen das lineare Erzählen einer Geschichte setzt der
Autor ein Geschichtenlabyrinth.

Im Berlin der frühen sechziger Jahre knüpft Chotjewitz auch Kontakte zu österreichischen Schriftstellern. Mit dem im Februar dieses Jahres verstorbenen Wiener Dichter Gerald Bisinger gibt er 1967
eine Festschrift für H. C. Artmann heraus. Für den Süddeutschen Rundfunk entsteht ein Hörspiel:„Phantombild oder das unerwartete Auftauchen des Dichters H. C. Artmann aus einer Kiste mit Büchern
von H. C. Artmann." Diese Wertschätzung findet nicht einseitig statt, auch Artmann läßt Chotjewitz zur Sprache kommen. Über die Jahre hinweg finden sich in österreichischen Literaturzeitschriften
immer wieder Beiträge des Autors zu den unterschiedlichsten Themen.

Wir schreiben die Zeit der Studentenbewegung, der Naherwartungsphase der Revolution. Mit dem damals propagierten „Tod der Literatur" hat sein Schreiben wenig zu tun. Wenn die Gesellschaft die
Literatur abschaffen möchte, so solle sie das selbst besorgen, meint er einmal ungerührt. 1969 erscheint „Roman · Ein Anpassungsmuster", ein Band, der den Hang der Literatur zur
Selbstdarstellung auf die Spitze treibt. Der Autor läßt die Leser mittels Fotos an seiner eigenen Blöße teilhaben. Es sind ästhetische Spiele, Tabubrüche, Normenüberschreitungen, experimentelle
Schreibweisen, die sich in seiner Literatur wiederfinden. Das Hauptaugenmerk seiner ersten Texte liegt auf ästhetischen Fragen. Das Unvollständige, das Skizzierte, das Scheitern ist Teil seiner
Textproduktion.

Nach dem Ende der Studentenbewegung läßt sich auch eine Zäsur in seinem Schreiben abstecken. Die nun folgenden Veröffentlichungen nähern sich langsam einer dokumentarischen Schreibweise. Zunächst
erscheint ein Buch über die Mafia, das Ideen einer falschen Sozialromantik zurechtrückt, gefolgt von einem Band über die Briganten im 19. Jahrhundert, süditalienische Rebellen, die sich gegen die
piemontesischen Truppen zur Wehr setzen. Neben diesen Themen, die aus seinem langjährigen Aufenthalt in Italien herrühren, sollte man auch einmal den Übersetzer Chotjewitz gebührend herausstellen,
denn viele Texte von Leonardo Sciascia und Dario Fo, von Nani Balestrini, Corrano Stajano und Giuseppe Fava sind im deutschen Sprachraum durch seine Übersetzungsarbeit bekannt geworden. Manche
Theatertexte Fos sind in Gemeinschaftsarbeit mit seiner Frau Renate Chotjewitz-Häfner entstanden.

Politisches

Italien spielt auch in „Der dreißigjährige Friede" (1977) eine nicht unbedeutende Nebenrolle. Im Mittelpunkt der Erzählung steht allerdings die dreißigjährige Geschichte der Bundesrepublik,
aufgezeigt am Beispiel der gescheiterten Lebenskarriere des Jürgen Schütrumpf. Es sind die Schilderungen des kleinbürgerlichen Milieus, die die Stärken des Berichts ausmachen. Dabei bedient sich der
Autor einer stark zurückgenommenen Sprache, wird manchmal lakonisch, der überbordende Sprachwitz der ersten Romane scheint mit den abgehackten Satzstrukturen wie weggeblasen. Es ist die Zeit, in der
sich der Autor auch in seinen eigenen Texten vermehrt politischen Themen zuwendet. „Die Herren des Morgengrauens" erscheint 1978, ein Romanfragment nach Kafkas „Prozeß" gebaut, aber nicht
metaphysisch sondern real gemeint. Der Schriftsteller und Anwalt Fritz Buchonia ist in ein Ermittlungsverfahren geraten, weil er sich für die Verbesserung der Haftbedingungen von Häftlingen
eingesetzt hat, die sich im Hungerstreik befinden. Der psychische Druck läßt Traum und Wirklichkeit durcheinanderkommen. Buchonia schreibt an einem Buch über seinen Fall:„Er scheute sich, die
Erzählung in der Ich-Form zu schreiben, da er das Thema für heikel hielt. Deshalb erfand er sich eine Figur, die alles das denken, sagen und erleben sollte, wovor er sich fürchtete und womit er nicht
identifiziert werden wollte." „Sympathisantenverdacht" hieß das Verdikt der Siebziger, gegen das sich nicht nur Chotjewitz, sondern auch Heinrich Böll und selbst Luise Rinser zu wehren hatten.
Chotjewitz hatte an Schriftstellerkollegen einen Brief geschickt, in dem es um die Haftbedingungen der gefangenen RAF-Mitglieder in Stammheim ging. Der Schlußsatz der beigefügten Erklärung der
Gefangenen war ausschlaggebend, daß gegen den politisch engagierten Schriftsteller ein Verfahren angestrengt wurde, das später jedoch nicht mehr weiterverfolgt wurde. Das Romanfragment ist kein Buch
über die RAF, sondern eine minuziöse Darstellung des politischen Klimas in Deutschland.

Vor kurzem ist das Buch in einer Reihe wiederveröffentlicht worden, die sich das Ziel gesetzt hat, auf Texte und Autoren aufmerksam zu machen, „die verdrängt oder zu Unrecht in Vergessenheit
geraten sind". Der Roman „Saumlos" gehört zeitlich und von der Schreibweise auch noch in diese Periode. In einem Dorf in Hessen, das dem Roman den Titel gab, geht ein Journalist, der
zufällig in seiner Heimatgemeinde länger aufgehalten wird, dem angeblichen Selbstmord eines Bewohners nach und stößt so nach und nach auf die zerstörte Geschichte der jüdischen Bewohner vor 1933.

1986 erscheint ein Dokumentarband zum Attentat von David Frankfurter am Landesgruppenleiter der Nationalsozialisten in der Schweiz, Wilhelm Gustloff. Emil Ludwig hat über den jüdischen Attentäter
kurz nach der Tat einen Text geschrieben, der in Deutschland und in der Schweiz praktisch nicht greifbar war. Chotjewitz recherchiert den Fall 50 Jahre später noch einmal und betreibt Archivstudien.
Es entsteht unter dem Titel „Mord in Davos" früh schon ein erhellendes Buch über das Verhältnis der Schweiz zum Nationalsozialismus. In den achtziger und neunziger Jahren erscheinen sporadisch
Texte, die den Fragmentcharakter und den spielerischen Umgang mit unterschiedlichen Erzählweisen wieder stärker hervorheben.„Mißglückte Geschichte, deren Ende schon in der Mitte feststeht, so daß
der Anfang zu lang ist, zwischendurch einige Seiten ausgelassen werden müssen und der Schluß unbefriedigend bleibt, da er keine Überraschung mehr bildet" ist eine Geschichte der 1986
veröffentlichten Romanstudien „Tod durch Leere" überschrieben. Fast war man geneigt, den Buchtitel als poetischen Abgesang aufzufassen.

Kritische Heimatliteratur

In der Folgezeit werden seine Buchveröffentlichungen spärlicher. Er schreibt Kinderbücher, eine Sammlung mit Satiren, die in der deutschen Wochenzeitung „Freitag" erschienen sind, kommt 1997
heraus. „Das Wespennest", der jüngste Roman, zeigt Chotjewitz wieder als Fabulierer, der sich seiner Register wohl zu bedienen weiß. Man kann den neuen Roman auf verschiedene Arten lesen, als
Geschichtsbild der Bundesrepublik, als Roman einer Kleinstadt. Die Unterteilungen des Erzählbandes „Durch Schaden wird man dumm" könnte als grobe Genrecharakterisierung gelten: Heimat- und
Familiengeschichte, Porträts, Kriminal- und Detektivgeschichte, Nacherzählungen, Horror und Science-fiction, Versuche, politisch zu werden. Chotjewitz schließt an seine beiden ersten Romane an,
verbindet sie mit den politischen Erzählungen der Siebziger und läßt auch stilistisch einiges von seinen Kolumnen einfließen. Dabei vermeidet der Autor, die eine große Geschichte zu erzählen, er geht
ihr aus dem Weg. Gegen das lineare Geschichtenerzählen setzt er Anekdoten, ein Sammelsurium von Anspielungen. Die Form des Romans ist ein Stützstrumpf, um die Überfülle zusammenzuhalten. Freilich,
der Strumpf weist Laufmaschen und Löcher auf, doch das schadet ihm nicht. An seinen besten Stellen wird der Roman zur bissigen Satire, an seinen Schwachpunkten verzettelt er sich in blubberndem
Kneipenkauderwelsch. Die hier ausgebreitete Geschichte der Bundesrepublik spannt sich von 1933, „als die Nazis noch mit den Gewerkschaften demonstrierten", bis ins Frühjahr 1999, als sich
Bayern von Deutschland abspaltet und deshalb unter dem Oberbefehl von Oskar Lafontaine bombardiert wird.

Schnoddrigkeit als Prinzip

Jedes der 66 Kapitel ist mindestens eine Geschichte für sich. Die Schauplätze wechseln, bleiben aber in der Mehrzahl doch im Nordhessischen, in der Kleinstadt Hofacker. Kindheitsgeschichten,
sexuelle Erfahrungen, die Besatzungszeit, historische Exkurse, philosophische Einsprengsel, der Antisemitismus und die RAF, alles setzt sich zu einem mehr oder weniger chronologischen Kaleidoskop
zusammen. Das Schnoddrige gehört zum Stilprinzip des Romans, die Sprache ist mit Lokalkolorit durchsetzt. Chotjewitz verarbeitet einen ganzen Stapel literarischer Anspielungen und Exkurse, Homer,
Abälard, Thomas Mann, Klassiker und Gegenwartsautoren. Jeder einschlägig Interessierte wird auf seine Aha-Erlebnisse kommen. Aber der Autor kann sich das Schalkhafte nicht verbeißen, die Zitate
bedeuten kein Versteckspiel hinter Autoritäten, sie sind augenzwinkernd zugeworfene Kieselsteine im Anekdotenfluß. Der erste Satz aus Gabriel García Márquez' Roman „Hundert Jahre Einsamkeit"
hat es dem Anwalt und Autor Modder, der Hauptfigur des Romans · wir kennen diese Konstellation schon ·, besonders angetan. Es ist die Erinnerung an etwas ganz Nebensächliches angesichts einer
lebensbedrohlichen Situation. Und Chotjewitz hat an anderer Stelle einmal darauf hingewiesen, daß der Anfangssatz seines Romans „Saumlos" nach demselben Prinzip gebaut ist. Nimmt man den Roman
als Geschichte der Bundesrepublik in Satiren und Anekdoten, läßt sich die Struktur, die der Titel andeutet, nachvollziehen. War die Erzählung „Der dreißigjährige Friede" eine nüchterne
Beunruhigung, so ist „Das Wespennest" ein Bild nicht nur für die Erzählstruktur. Die wild gewordenen Wespen sind auch der verwechselte Mutterboden, von dem Modder annimmt, er rieselt in seinen
Schuh. Man merkt es dem Roman beinahe an, daß die Zeitschrift „jungle world" kapitelweise den Vorabdruck besorgt hat. Ein satirisches, skizzenhaftes, unbändiges Panorama deutscher Geschichte,
das über den gesetzten Rahmen hinausgreift. „Leben ist wie Steinchen ins Wasser werfen", heißt es einmal im Roman. Geschichten erzählen ist Leben, ist man versucht, hinzuzufügen.

Die meisten Bücher aus den Sechzigern und Siebzigern sind vergriffen, Taschenbuchausgaben von „Saumlos" und „Der dreißigjährige Friede" sind manchmal in Wühlkisten diverser Buchantiquariate
anzutreffen. „Die Herren des Morgengrauens" wurde in der Reihe Rotbuch Bibliothek wiederveröffentlicht. Der Satirenband „Kannibalen" erschien bei Elefanten Press, die Romanstudien „Tod durch Leere"
bei Oberon. Die beiden Bände „Mein Schatz unterm Dachboden" und „Die Rückkehr des Hausherrn" mit Erzählungen bei Eremiten Presse. Der Roman „Das Wespennest" wurde vor kurzem im Rotbuch Verlag
verlegt.

Mitte Juni begeht Peter O. Chotjewitz seinen 65. Geburtstag und kommt am Mittwoch, dem 16. Juni, zur 30-Jahr-Feier der Zeitschrift „Wespennest" in die Alte Schmiede nach Wien. Beginn: 19 Uhr

Freitag, 11. Juni 1999

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