Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
  Lexikon    Glossen     Bücher     Musik  

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Monsieur de Balzac · eine Hommage zum 200. Geburtstag

Von Andrea Traxler

Balzac: Ein Gärtner, der Bücher züchtet

Während eines Aufenthaltes in Wien, 1835, logierte Honoré de Balzac im Hotel „Zur goldenen Birne", was um so trefflicher anmutet, als er eine Vorliebe für Obst, und
im speziellen für Birnen, Sorte poire de doyonné hatte. Léon Gozlan hat selbige festgehalten: „. . . Fleisch aß er wenig; Obst aber verzehrte er in großen Mengen. Nur die erlesensten Früchte,
herrlich anzuschauen und von köstlichstem Geschmack, kamen auf seinen Tisch. Sobald er eine kunstvoll getürmte Pyramide von saftigen Birnen und zartbunten Pfirsichen erblickte, zuckte es schon um
seinen Mund, Freude blitzte in seinen Augen auf, und er griff mit bebenden Händen zu.

Nicht ein einziges dieser Prachtstücke blieb übrig als stummer Zeuge für den Untergang der anderen: er verschlang sie allesamt. Es war ein Vergnügen, diese wilde Gier eines wahren Pantagruel unter
den Vegetariern zu beobachten; mitzuerleben, wie er mit abgelegter Krawatte, das Hemd weit offen, unter dröhnendem Gelächter und nicht minder genießerischen Schlückchen Wasser das Obstmesser schwang
und wortlos in eine Butterbirne einhieb." Bildergänzend eine bemerkenswert plastisch beschriebene, physiognomische Studie des Zeitgenossen Théophile Gautier anläßlich einer Darstellung von Louis
Boulanger: „Herr von Balzac ist nicht eigentlich schön. Seine Züge sind unregelmäßig, er ist klein und dick. Das scheint nicht verlockend für einen Maler, doch ist das nur die Kehrseite der
Medaille. Das Leben und das Feuer, das seine Physiognomie ausstrahlt, verleihen ihm eine besondere Schönheit.

In Boulangers Bild erscheint Balzac in die weiten Falten seiner Kutte eingehüllt: beide Arme ruhe- und kraftvoll gekreuzt, der Hals frei, der Blick fest und geradeaus; das von oben einfallende Licht
erhellt die Stirn und wirft volle Klarheit auf die bei Herrn von Balzac sehr entwickelten Protuberanzen; die schwarzen Haare geben dem Kopf ein eigenartiges Leben, das Auge, . . . blickt mit
überraschender Schärfe; die Nase, auf die Balzac den Bildhauer David d'Angers mit den Worten hinwies: ,Achten Sie wohl auf meine Nase, meine Nase ist eine Welt`, atmet stark durch breite rote
Nüstern, der fette und zumal in der Unterlippe wollüstige Mund lacht mit einem rabelaisischen Lachen, beschattet von einem Schnurrbart, dessen Farbe viel heller ist als die Haare, . . . die Wangen
von strotzender Fülle sind mit dem Rot einer saftigen Gesundheit gefärbt, und alles Fleisch ist von vergnüglichstem, beruhigendstem, gläzendstem Aussehen."

Am 20. Mai wiederholt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Honoré de Balzac. Angesichts der „runden Summe" an Gedenkjahren wird die Welt der Bücher mit Gesamtausgaben seiner „Comédie humaine"
bereichert, erfreulicherweise, denn dieses veritable literarische Vergnügen war in Übersetzung allzu lange Zeit nicht komplett zu bekommen. „Alle seine Bücher bilden nur ein einziges,
lebendiges, leuchtendes, tiefes Buch, worin man unsere ganze zeitgenössische Zivilisation in einem gleichsam aus Verstörtheit, Furchtbarkeit und ergreifender Wirklichkeit gemischten Zauber sich regen
und bewegen und kommen und gehen sieht · ein wunderbares Buch, welches der Verfasser ,Komödie` betitelt hat und das er ,Historie` hätte betiteln können, das alle Formen und Stile annimmt, . . . ein
Buch, welches Beobachtung und Imagination zugleich ist, welches das Wahre, das Innige, das Bürgerliche, das Triviale, das Materielle in verschwenderischer Fülle widerspiegelt und das auf Augenblicke,
durch die ganze plötzlich und breit zerrissene Wirklichkeit hindurch, das düsterste und tragischste Ideal ahnen läßt", formuliert Victor Hugo in seiner Grabrede zu Honoré de Balzacs Beisetzung am
20. August 1850.

Alptraum der Schriftsetzer

Honoré de Balzac, aus dessen Feder diese bunte Vielfalt sprudelte, die immer wieder verführt sie zu lesen, zu bearbeiten, sich in sie zu vertiefen, in dessen Kopf hunderte Figuren herumtanzten,
der sich stundenlang seiner Umgebung entziehen und durchgehend Seite um Seite mit Worten füllen konnte, fasziniert ganz schlicht. Seine ersten Abzüge korrigierte er dermaßen umfangreich, daß die
Setzer sich weigerten mehr als eine Stunde seine Korrekturfahnen zu bearbeiten, waren doch selbige der Typographen-Alptraum schlechthin in Zeiten des Hand- und Bleisatzes, und es ist nur
verständlich, daß die derart Malträtierten für diese eine Stunde Mühsal den doppelten Tarif forderten, denn das Ordnen und Einfügen der Veränderungen gipfelte letztlich in der Herstellung eines
Neusatzes.

Nebst erhaltenen, bereits vielfach reproduzierten Dokumenten, liefert Stefan Zweig eine sehr anschauliche Beschreibung von Balzacs bewunderungswürdigen Korrekturfahnen: „Mit wilden Schlangenlinien
stellte er die Worte um, schaufelte ganze Sätze weg, stopfte Absätze zwischen die Zeilen, überschüttete mit sechs oder sieben Seiten neuen Manuskriptes die einzelnen Fahnen, ließ 100 Einschiebungen,
die vergebens mit Ziffern und Zeichen versehen wurden, auf einem Blatt wirr durcheinanderwirbeln, quer zwischen die einzelnen Fahnen wurde neues Manuskript gestopft, und was schließlich dem
erschreckten Auge sich darbot, war ein hieroglyphisches Durcheinander, anscheinend sinnlos, von Zeichen und Zahlen." Für Balzac wurden seiner Arbeitsweise entsprechend spezielle Abzüge
hergestellt, namentlich placards, die in der Mitte des Blattes einen nur kleinen gesetzten Textblock zeigten, rundherum aber verschwenderisch viel Freiraum boten, um diese überbordenden
Korrekturen unterbringen zu können.

In Pantoffeln

Sucht man nach einer deutschsprachigen Balzac-Biographie die gegenwärtig zu bekommen ist, so hat man jene von Stefan Zweig und jene von Gaetan Picon zur Verfügung. Ein Band zu Balzacs Leben und
Werk läßt sich noch finden, eingeleitet mit einem Porträt von Georges Simenon, worin unter anderem Aufsätze von Zeitgenossen wie Théophile Gautier, Alfred de Vigny, Edmond Werdet (Balzacs Verleger),
die Grabrede von Victor Hugo und ein kleiner Beitrag von Léon Gozlan versammelt sind. Arbeitet man sich durch die Karteikästen und -kärtchen des alten Bestands der Bibliotheken, findet man nebst
wenig Beeindruckendem eine 1926 erschienene Biographie von Anton Bettelheim, die sich durch einen sehr detaillierten, interessanten Anmerkungsapparat auszeichnet, bedauerlicherweise aber der
Vergessenheit anheimgefallen ist. Wühlt man gelegentlich an jenen Plätzen, wo Bücher billig feilgeboten werden, kann man mit Glück einen wunderlichen Titel finden, der nicht mehr zu bekommen ist:
„Balzac in Pantoffeln". Der Autor ist jener, der im erwähnten Band „Leben und Werk" mit einem kleinen Beitrag vertreten und anfangs schon zitiert worden ist: Léon Gozlan. Ein kleiner Beitrag,
der Balzac bei Tisch beschreibt, drei Seiten nur erstaunlicherweise, wobei Gozlans Buch die einzige umfangreiche, zeitgenössische Beschreibung von Balzacs Leben anbietet, die zu finden ist. Gozlan,
der über viele Jahre mit Balzac eng befreundet war, berichtet in nicht weniger bunten Farben als Balzac sie selbst in Anwendung gebracht hat, von Erlebnissen die sie gemeinsam hatten, auf
Literaturkritik hat er verzichtet. „Da ich das Glück und das unsäglich kostbare Privileg hatte, einige Jahre in Balzacs nächster Nähe zu leben, habe ich von jenen schönsten Jahren die besten
Erinnerungen aus gemeinsam verbrachten Stunden bewahrt: Gespräche auf dem Lande, zwischen den von ihm selbst gepflanzten Bäumchen, oder Abende am Kaminfeuer. Solch vertraulicher Austausch im eigenen
Heim des Dichters hat den Vorteil, einem die Wesensart eines Menschen in der Ungezwungenheit der Kleidung, in Negligé und Pantoffeln zu erschließen, so daß man sich von der Forderung, die
sternenweite Überlegenheit eines großen Dichters als Maßstab nehmen zu müssen, ganz befreit fühlt." Viel ist über Léon Gozlan nicht in Erfahrung zu bringen. Einiges weiß Louis Jaffard in seinem
Nachwort zu Gozlans Balzac-Buch zu berichten. Demnach wurde Gozlan am 1. September 1803 in Marseille geboren, und verstarb am 15. September 1866 in Paris. Ein Band Novellen und eine beachtliche Reihe
Theaterstücke sollen ihm zwar keine besondere Anerkennung beschert haben, wurden aber dennoch zum Teil ins deutsche, ungarische, polnische übersetzt. Zwei Romane aber haben laut Angabe von Edmond
Werdet, der auch Balzacs Verleger war, selbst den Erfolg von Victor Hugos „Notre Dame de Paris" übertroffen: „Le Notaire de Chantilly" und „Le Médecin du Pecq", Teile einer
geplanten und nicht zu Ende geführten Reihe von Sittenbildern. Léon Gozlan muß ein breites Spektrum an buchstäblichen Interessen gehabt haben, finden sich doch weiters zwei Bände, die „Les
châteaux de France" zum Thema haben, ein kleines, amüsantes Büchlein mit dem Titel „Ce que c'est qu'une Parisienne. Les maitresses à Paris . . .", und ein Gedicht, das von Charles Gounod vertont
wurde: „Donne-moi cette fleur". Wenngleich Anton Bettelheim in den Anmerkungen zu seiner Balzac-Biographie formuliert, „Léon Gozlans Balzac-Bücher verleugnen nicht dessen Marseiller Abkunft in
ihren schnurrigen Übertreibungen", was sich durchaus von der anekdotischen Färbung seiner Darbietungen ableiten läßt, sind sie überaus vergnüglich zu lesen, und es bleibt nur sich über dieses
„Marseiller Spezifikum" zu freuen, gewinnt man doch dadurch einen recht lebhaften Eindruck in so manche balzacsche Eigentümlichkeit und Sichtweise, und in jene Tendenz zu „verschwenderischer Fülle",
die Victor Hugo im Zusammenhang mit Balzacs Werk erwähnte.

Der Pfirsich von Montreuil

Illustrativ eine von Léon Gozlan wiedergegebene Unterhaltung, die sich zwischen Balzac „die Finger in einem großen Montreuiler Pfirsich vergraben, den er gerade mit seinen Eberzähnen anbeißen
wollte" und François Eugène Vidocq entsponnen hat: „Was sagten Sie soeben, Monsieur Vidocq?" „Ich sagte, Sie ließen es sich allzu viel Mühe kosten, Monsieur de Balzac, um Geschichten über eine
erfundene Welt zu schreiben, wo doch die Wirklichkeit unmittelbar vor Ihren Augen liegt, ganz nah Ihrem Ohr und greifbar Ihren Händen!" „Ach, Sie glauben an die Wirklichkeit! Das rührt mich; für so
naiv hätte ich Sie gar nicht gehalten. Die Wirklichkeit! Erzählen Sie mir doch davon, Sie kommen ja aus diesem schönen Land. Wir Dichter sind es jedoch, die erst diese Wirklichkeit schaffen." „O
nein, Monsieur de Balzac." „O doch, Monsieur Vidocq! Sehen Sie, die wahre Wirklichkeit ist etwa dieser schöne Montreuiler Pfirsich. Der Pfirsich, den Sie als wirklich bezeichnen, wächst natürlich
wild. Nur taugt der aber gar nichts, denn er ist klein, sauer, bitter, ungenießbar. Aber der hier in meiner Hand ist der eigentlich wirkliche: Er stammt aus 100jährigem Anbau, man hat diese Bäumchen
auf bestimmte Weise verschnitten, man hat sie verpflanzt, auf einen trockenen oder leichten Boden, hat sie gepfropft, bis man endlich die Frucht erzielte, die für uns genießbar ist und deren Duft und
Geschmack uns so sehr bezaubern. Und diesen köstlichen Pfirsich haben allein wir Menschen erschaffen: Er ist der einzig wirkliche Pfirsich! Genau so verhält es sich mit mir. Ich schaffe in meinen
Romanen Wirklichkeit, wie Montreuil sie in seinen Pfirsichen hervorbringt. Ich bin ein Gärtner, der Bücher züchtet."

Hälmchen für Hälmchen

In einem 50 Jahre nach Balzacs Tod erschienenem Schmalbuch, sieht der deutsche Professor Dr. A. Schmidt „allgemeinverständlich bearbeitet" die Interesse evozierende Titelfrage: „Was muß man von
der französischen Literatur wissen?" beantwortet, wenn er darbietet: Balzacs Romane „sind vorzügliche Sitten- und Charakterschilderungen, entbehren aber jedes idealen Elementes und sind oft von
empörendem Naturalismus." Abgesehen von der sonderbaren Verstiegenheit, in einer Sitten- und Charakterschilderung das „ideale Element" zu vermissen, dürfte Schmidt ein viel wesentlicheres Element
in der Entwicklung des französischen Romans im 19. Jahrhundert entgangen sein, das Stendhal in dem legendären Satz wunderbar verbalisierte: „Un roman est un miroir qui se promène sur une grande
route. Tantôt il reflète á vos yeux l'azur des cieux, tantôt la fange des bourbiers de la route." Ein Spiegel hat nun einmal keinen Anspruch „ideale Elemente" zu spiegeln, unverblümt zeigt er
sowohl Schönes als auch Häßliches, das Blau des Himmels wie auch den Straßendreck, gewissermaßen.

Unschwer kann man sich den Grad von Schmidts Empörung errechnen, hätte er gewußt was Balzac nicht so genau hatte beschreiben können, wie er gewollt hätte, da er es im einzelnen nicht zu benennen
wußte. „Als ich vorhatte, ,Le lys dans la Vallée` zu schreiben, wollte ich eine wundervolle Landschaftsschilderung in mein Buch einbauen. Von dieser Idee ganz durchdrungen, tauchte ich wie ein
pantheistischer Heide in der Natur unter. Ich fühlte mich als Baum, als Horizont, als Quelle, Stern oder das Licht schlechthin. Und da uns nun die Wissenschaft soviel Handhaben bietet, wollte ich
Namen und Eigenart einer Menge Pflanzen wissen, die ich gern in meine Schilderung eingestreut hätte. In erster Linie galt mein Interesse all den Gräsern, auf denen wir allerorts achtlos herumtreten,
ob nun einfach am Wegrain, auf den Wiesen oder sonstwo."

Balzac wandte sich zunächst an seinen Gärtner: „Ich möchte wissen, wie diese Millionen Gräser heißen · hier, ich rupfe eine Handvoll davon aus!" „Ja, Herr, das ist halt Gras." Auch „ein
vielgereister Botaniker", ein berühmter Naturforscher, und die Bauern in der Touraine, der Schauplatz des Romans, konnten Balzac die Gräser namentlich nicht nennen.

„Daher konnte ich, als ich ,Le Lys dans la Vallée` schrieb, jene grünen Matten nicht so genau, wie ich gern wollte, beschreiben, und es hätte mich doch so gefreut, sie Hälmchen für Hälmchen zu
schildern, ganz auf die bedächtige und farbenreiche Weise der Flamen." Es wäre gewiß ein ganz erhebliches Vergnügen, sich in eine von Balzac beschriebene „grüne Matte" zu legen, seine Comédie
humaine zu lesen, oder ihm beim Bücherzüchten zuzusehen.

Freitag, 14. Mai 1999

Aktuell

Kollidierende Kleinplaneten
Japan greift sich mit der Weltraummission "Hayabusa" ein Stück des Asteroiden Itokawa
Zu Fuß zum Schneeberg
In drei Tagen von Wien auf den Gipfel – Wandern wie vor 200 Jahre n
Countdown für Olympia 2014
Mit Kreativität könnte sich Salzburg gegen das favorisierte PyeongChang durchsetzen

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum