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Über Ungarn, Literatur und die Sprache

Esterházy, Peter: Literatur ist unwichtig geworden

„W. Z.": Haben Sie sich schon überlegt, worüber Sie bei der Eröffnung des Ungarn-Schwerpunktes in Frankfurt sprechen werden?

Esterházy: Nein. (Kurze Pause) Aber ich werde · das ist ein sehr origineller Gedanke · über Literatur sprechen. Das ist schon etwas, daß ich nicht über das Land sprechen werde oder über Europa,
nicht über West-Ost-Beziehungen, nein, ich werde über Literatur sprechen. Aber weil Literatur unbegrenzt ist und alles bedeuten kann, kann es wiederum alles werden. Keine Ahnung.

„W. Z.": Sie haben in einem Text geschrieben, den Begriff „Mitteleuropa" in den Mund zu nehmen, sollte mit dem Entzug des Vermögens geahndet werden. Sie werden also nicht über Mitteleuropa
sprechen?

Esterházy: Ich hoffe nicht. In einem Text schreibt es sich leicht, daß man eine Abneigung gegen den Begriff Mitteleuropa hat. Aber wer weiß, vielleicht wird es eine große Mitteleuropa-Rede werden.

„W. Z.": Ihre Literatur ist sehr vielseitig, sie funktioniert vor allem über Andeutungen und ist zwischen den Zeilen zu entschlüsseln. Ist dies eine Schreibweise, die typisch für den Sozialismus
war?

Esterházy: Also da müßte man schon präzisieren. Meiner Ansicht nach ist zur Zeit zwischen den Zeilen nichts zu lesen. Es gibt tatsächlich viele Andeutungen, aber die sind in den Zeilen zu lesen.
Die Zwischen-den-Zeilen-Methode · man könnte das Methode nennen · das ist eine rein politische. Das gehörte zur Diktatur. Diktatur bedeutet, dass man über die Diktatur nicht sprechen kann. Also
schweigt man über die Diktatur. Und dieses Schweigen ist dann zwischen den Zeilen zu finden. Das war sehr wichtig, aber das ist jetzt passé. Das funktioniert nicht mehr. Wer glaubt, daß das noch
funktioniert, der irrt sich.

„W. Z.": Gegenfrage: Kann jetzt alles gesagt werden?

Esterházy: Politisch ja. Aber ansonsten, wie wir wohl wissen, kann man nicht alles sagen. Man kann seiner Mutter nicht sagen, daß man sie haßt. Das ist schwer zu sagen. Aber auch dem Vater, daß
man ihn liebt. Also alles kann man nicht sagen. Gott sei Dank. Das wäre schrecklich, wenn alles gesagt werden würde. Denken Sie darüber nach.

„W. Z.": Die Wende hat die materielle Situation für Schriftsteller in Ungarn deutlich verschlechtert. Auch der Leserrückgang war drastisch. Sind Sie auch davon betroffen? Hätten sie sich eine
andere Entwicklung gewünscht, was den Umgang mit Literatur betrifft?

Esterházy: Die Situation ist nicht schlechter geworden, sondern eine ganz andere. Vielleicht, daß man statt 50.000 Büchern nur 30.000 verkauft. Aber das ist nicht schlimm. Das ist eine finanzielle
Unannehmlichkeit, aber vielleicht bekommt man dadurch höhere Prozente. Richtig ist, daß sich die Wichtigkeit der Schriftsteller oder der Literatur geändert hat, nämlich: Literatur ist unwichtig
geworden. Aber das ist normal. Das ist gut, wenn Literatur unwichtig ist. Denn ihre Wichtigkeit war keine literarische, sondern eine politische, die wie Staub auf der Literatur pickte. Das war ein
moralischer, ein sehr wichtiger Staub, aber den brauchen wir jetzt nicht mehr. Sie haben recht, es gibt viele, die darunter leiden, und für die dieses Prestige wichtig war, ein Schriftsteller zu
sein. Aber mich interessiert das mäßig.

„W. Z.": In Ungarn, hat man den Eindruck, wird jährlich das Eintreffen des großen ungarischen Romans erwartet. Gibt es den schon? Schreiben Sie daran?

Esterházy: In Deutschland fragt man auch: Wo ist der große zeitgenössische Roman? · Zufälligerweise schreibe ich einen Roman, an dem ich viel gearbeitet habe. In dem Sinn ist er groß. Ich habe
große Mühe damit gehabt. Ich werde, wenn alles gut geht, und es geht nie alles gut, im Herbst damit fertig sein. Also ich bin bereits fast fertig. Aber es ist ein sehr großer Schritt vom fast fertig
zum fertig sein. Nächstes Jahr wird er in Ungarn erscheinen. Man wird sehen, wann er ins Deutsche übersetzt werden wird.

„W. Z.": Welches Buch von Ihnen wird bei der kommenden Buchmesse in Übersetzung erscheinen?

Esterházy: Ein Erzählband, der die Vielschichtigkeit meiner Arbeiten zeigen soll. Der Titel ist schön. Er lautet „Thomas Mann mampft Kebap am Fuße des Holsten-Tors".

„W. Z.": Sie gelten als Vertreter einer spielerischen, sprachkritischen Literatur. Zweifeln Sie an ihrem Arbeitsinstrument Sprache?

Esterházy: Ich glaube, das tut jeder. Angeberisch formuliert handelt es sich um dieses Heißenbergsche Erlebnis, daß sich ein Objekt mit seiner Anschauung verändert. Für Autoren bedeutet das: Wenn
wir etwas formulieren, wird dadurch das, was wir formulieren wollen, etwas anderes. Das ist ein Prozeß, nichts Statisches. Aber dieses Anzweifeln: Das kennen wir schon seit knapp 100 Jahren. Gerade
in Wien muß ich das nicht erklären. Inzwischen zweifeln wir auch am Zweifel. Aber das bedeutet nicht, daß der Zweifel dadurch aufgehoben wird. Nur entsteht nicht mehr diese schöne Energie beim
Zweifeln, diese Kraft. Man zweifelt, aber dieser Zweifel ist kein heroischer.

„W. Z.": Hat der Zweifel in der ungarischen Literatur Tradition oder nehmen Sie eine Einzelstellung ein?

Esterházy: Wie Sie wissen hat eine Literatur immer mehrere Traditionen. Die ungarische Literatur hat eine so gehobene, ich würde sagen, auch schöne Tradition, die mir aber fremd ist. Ich wähle
eine andere Tradition aus dem Ungarischen, eben diese mehr spielerische. Das ist auch eine Tradition. Es gab eine Zeit, wo darüber wenig gesprochen wurde. Aber manchmal wird die eine Tradition
wichtig, manchmal die andere . . . bei den vielen Traditionen.

Mit Peter Esterházy sprach Werner Schandor.

Freitag, 23. April 1999

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