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Der Märchenerzähler

Nabokov, Vladimi: Zum 100. Geburtstag

Von Bruno Jaschke

„Ich bin keinem Klub oder irgendeiner Gruppe zugehörig. Ich fische nicht, koche nicht, tanze nicht, schmiere keine Bücher an, signiere keine Bücher, unterzeichne keine Deklarationen, esse keine
Austern, betrinke mich nicht, gehe nicht in die Kirche, gehe zu keinem Therapeuten und nehme an keinen Demonstrationen teil". Vladimir Nabokov in einem BBC-Interview 1962.

W er oder was war Vladimir V. Nabokov? Einer der stilistisch brillantesten Schriftsteller dieses Jahrhunderts. Das ist auch schon ungefähr alles, worüber Einigkeit
herrscht. Was sonst in den Nonkonformisten und extremen Individualisten Nobokov hineininterpretiert werden mag, sei es philosophischer oder ideologischer Art, dafür gibt es so unbegrenzt viele
Möglichkeiten wie Deutungsweisen für sein monströses Roman-Gedicht „Pale Fire" („Fahles Feuer"), das als sein größter artistischer Wurf gehandelt wird. Man kann sich den Dichter vorstellen, wie
er in seinem Olymp, Nirvana oder sonstwo · wo halt genügend Schmetterlinge sind ·, ein mitleidiges, ganz leicht boshaftes Lächeln für all die Annährungsversuche zu seinem 100. Geburtstag erübrigt.

Biographie und Wirkung des am 22. April 1899 in Petersburg geborenen und am 2. Juli 1977 in Lausanne verstorbenen Vladimir V. Nabokov sind in gewissem Sinn spiegelverkehrt zu jener verkannter Größen
wie Franz Kafka, Robert Walser, Robert Musil, die in Armut gestorben und über den langen Atem der Geschichte zum Ballaststoff für gelangweilte Absolventen höherer Schulen avanciert (oder auch
degeneriert) sind. Der Sprößling einer russischen Aristokratenfamilie beendete sein · wenn auch mehrere Male am Rand des Abgrunds ausbalanciertes · Leben so, wie es ihm in die Wiege gelegt worden
war: wohlhabend. Ein skandalumwitterter Roman hat ihn in den Bestsellerlisten verewigt, und, indem er verfilmt wurde und einen griffigen Frauen-(Stereo-)Typ prägte, zu einem Teil der
Unterhaltungsindustrie gemacht. Wie wenig indessen sich sein Schaffen als bildungsbürgerliches Gemeingut etabliert hat, merkt man am besten daran, daß stets aufs neue Leser nachwachsender
Generationen vermeinen, mit Nabokov eine persönliche Entdeckung von seltener Exklusivität gemacht zu haben.

Natürlich hat Vladimir Nabokov in keinster Weise eine Rehabilitation nötig · sein Genie hat genügend Anerkennung bei Lesern, Kritik und Schriftstellerzunft gefunden. Das

„Time Magazine" bezeichnete ihn 1963 als den „größten Wortmagier seines Zeitalters", „den gescheitesten russisch schreibenden Autor der letzten Jahrzehnte und wahrscheinlich den
gescheitesten englisch schreibenden seit James Joyce". Angesehene Romanciers wie John Updike oder Thomas Pynchon bewegen sich ebenso in seinen Fußstapfen wie Salman Rushdie, der Nabokov in seinen
„Satanischen Versen" zweimal zitiert. Nicht zuletzt zeigt die faszinierende, mehrfach preisgekrönte, vom renommierten US-Nabokov-Forscher Jeff Edmunds initiierte Internet-Website „Zembla"
(http://www.libraries.psu.edu/iasweb/nabokov/zembla/htm), wie intensiv speziell bei den Amerikanern das Vermächtnis des adoptierten Heimatlosen fortlebt.

Was aber den Zugang von mitteleuropäischer, Thomas-Mann-geschulter Seite her betrifft, so ist er heute noch von Ambivalenz und Kompatiblitätschwierigkeiten mit scheinbar unumstößlichen Dogmen
gekennzeichnet. Mit seinem Grundsatz „Stil und Aufbau machen das Wesen eines Buches aus, große Ideen sind dummes Zeug" ließ Nabokov die Gretchenfrage „Was will uns der Autor sagen?" für
Sinnsuchende verächtlich links liegen. „Ich verfolge keine sozialen Absichten, keine moralische Aussage; ich habe keine Patentrezepte anzubieten, ich entwerfe nur Rätsel mit eleganten Lösungen."
Solchermaßen verweigert sich sein Werk auch entschieden politischen Zugangsweisen. Zwar machte Nabokov nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen den Marxismus (die auf Gegenseitigkeit beruhte, war
doch sein Werk in der Sowjetunion bis zur Perestroijka verboten). Aber schon hier spießt es sich mit der Eindimensionälität „logischer Argumentation": Zu einfach nämlich wäre der Schluß, diese
Ressentiments gründeten auf die Enteignung seiner Familie im Zuge der Obtoberrevolution 1917. „Einzig für den Schwachkopf, der mich zu verstehen glaubt, weil er sein Vermögen in irgendeinem
Börsenkrach verloren hat", stellt er in seiner Autobiographie „Speak Memory" („Erinnerung, sprich") klar, „daß meine alte Fehde mit der Sowjet-Diktatur nicht das geringste mit
Besitzfragen zu tun hat. Für einen Emigranten, der ,die Roten haßt`, weil sie ihm Geld und Land ,gestohlen` haben" (man beachte die Anführungszeichen!)„empfinde ich nichts als Verachtung. Die
Sehnsucht, die ich all diese Jahre hindurch gehegt habe, ist das hypertrophische Bewußtsein einer verlorenen Kindheit, nicht der Schmerz um verlorene Banknoten." Zum Objekt für Projektionen eignet
sich dieser Schriftsteller also denkbar schlecht. Vladimir Nabokov, das ist die Geschichte einer Entwurzelung mit derartig absurden Konsequenzen, daß das verbrüdernde (Mit-)Gefühl pathetischer Tragik
gewissermaßen verglüht, bevor es überhaupt aufflackern kann.

Im Rolls-Royce zur Schule

Mit mysteriösen Kinderkrankheiten begann, mit einer mysteriösen Virusinfektion endete das unglaublich robuste, besessene Leben, das diese Geschichte schrieb. Sohn eines vermögenden Politikers, der
seine liberale Gesinnung mit temporären Aufenthalten in zaristischen Kerkern büßte und 1922 in Berlin von russischen Rechtsextremisten ermordet wurde, genoß Vladimir Nabokov das Privileg einer von
Armut und Tristesse abgeschirmten Kindheit. Mit dem Rolls-Royce zur Schule gefahren, betrieb er als Halbwüchsiger eine intensive Puschkin-Personifikation, schrieb halbgare Gedichte und erging sich
früh in erotischen Abenteuern,„mehr, als meine Biographen je erfaßt haben".

1917 wurde diese verspielte Schattenwelt von der politischen Realität ausgelöscht, die ihn, einen kurzen Studienaufenthalt in Cambridge ausgenommen, bei seinen Aufenthalten auf der Krim, in Berlin
und in Paris immer wieder einholte, ehe er 1939 für 20 Jahre in die USA übersiedelte. Dort malträtierte er sich selbst als Autor (zweimal mußte er wegen Überarbeitung ins Spital) und Studenten
mehrerer Universitäten als Lektor („Hier wird nicht geraucht, gestrickt, geschlafen oder Zeitung gelesen. Ohne ärztliches Attest geht niemand auf die Toilette.") Er erlangte
naturwissenschaftliche Bedeutung als Schmetterlingsforscher, nach dem sogar einzelne Arten benannt worden sind.

Seinen Lebensabend in Montreux verbrachte er mit seiner Frau Vera, in Gesellschaft seiner Romanfiguren sowie „buckliger Enten und behaubter Taucher im Genfer See". Über die Ambientes seiner
Bücher lassen sich einigermaßen schlüssig die Wechselfälle dieses Lebens nachvollziehen, insoferne eignen ihnen durchaus autobiographische Elemente: Wie seine in den zwanziger und frühen dreißiger
Jahren in Berlin auf russich geschriebenen Romane und Erzählungen eine geisterhafte, surreale Stimmung zeichnen · vom Alltagsleben der Stadt kapselte sich Nabokov wie viele seiner emigrierten
Landsleute ab ·, so lassen spätere, auf Englisch verfaßte Werke die fundamentale Melancholie und Einsamkeit eines ewig Vertriebenen spüren · am schönsten in „Pnin", das auch den gelungensten Schlag
auf sein zweites großes Feindbild, die Psychoanalyse, landet: „Plötzlich fühlte Pnin · ging es etwa ans Sterben? · wie er ins Kinderland zurückglitt. Die Empfindung besaß die Schärfe jener
Rückerinnerung, die das dramatische Vorrecht Ertrinkender sein soll · ein Phänomen des Erstickens, das ein in Ehren ergrauter Psychoanalytiker, dessen Name mir entfallen ist, folgendermaßen erklärt:
der im Unterbewußtsein wachgerufene Schock der Kindtaufe löst eine Explosion der zwischen dem ersten und letzten Untertauchen liegenden Erinnerungen aus." Nichts wäre indessen falscher, als diese
Bücher als persönliche Bekenntnisse zu lesen. „Ich habe immer sehr darauf geachtet, meine Charaktere jenseits meiner Identität zu halten", betonte der Sprachvirtuose, der generell gegen
literarischen Realismus eine tiefe Abneigung hegte. „Wer eine Geschichte ,wahr` nennt, beleidigt Dichtung und Wahrheit zugleich", belehrte er sein Auditorium auf der Cornell University in
Ithaca, New York, wo er zwischen 1948 und 1958 Vorlesungen über europäische Literatur hielt. „Entstanden ist Literatur nicht an dem Tag, da ein Junge aus dem Neandertal gelaufen kam, weil ihm ein
großer grauer Wolf auf den Fersen war; sie trat in jenem Augenblick ins Leben, da ein Junge gelaufen kam und schrie, ein Wolf verfolge ihn, ohne daß es an dem war. In Wirklichkeit sind bedeutende
Romane großartige Märchen."

Der Erfolgsroman

„Lolita", das „Märchen" um die Liebe des alternden Gelehrten Humbert Humbert zu seiner zwölfjährigen Stieftochter, erscheint in diesem Licht wegen seiner enormen Publizität · und nicht zuletzt
angesichts neu entflammter Diskussionen, er propagiere Kindesmißbrauch · schutzbedürftiger gegen biographische Spekulationen als die um nichts weniger „perversen", durch ihre stärkeren
Verfremdungseffekte aber in weit geringerem Ausmaß identifikationstauglichen Werke „Pale Fire" oder „Ada Or Ardor" („Ada oder Das Verlangen"), deren Handlungsgefüge Päderastie bzw. Inzest
prominent integrieren.

„Lolita", dessen Titelheldin am Ende bei der Entbindung ihres Kindes stirbt, war buchstäblich eine schwere Geburt: Bereits 1939, knapp bevor er Europa von Paris aus für 20 Jahre den Rücken
kehrte, hatte Nabokov die Grundpläne für seinen bekanntesten Roman angelegt. Ehe der Text 1953 fertiggestellt wurde, war er etliche Male durch Krankheiten und die zeitweilige Resignation des Autors
gefährdet gewesen; dann wurde er von vier Verlagen abgelehnt. 1955 ging die obszöne Geschichte ohne obszönes Wort in Paris bei Olympia Press in Druck, 1958 in den USA bei Putnam. Sechs Monate
notierte sie an der Spitze der amerikanischen Buch-Charts, ehe sie von Pasternaks „Dr. Schiwago" abgelöst wurde. 1961 wurde der Roman von Stanley Kubrick verfilmt, Nabokov beteiligte sich am
Drehbuch. Als „explosivster, umstrittenster Film aller Zeiten" war vom Londoner „Daily Express" der Streifen mit James Mason und Sue Lyons in den Hauptrollen annonciert worden, als
enttäuschend bieder wurde er kritisiert, als er ein Jahr später anlief.

Tatsächlich verweigerte sich Kubrick mit seinem lakonischen Wegblenden vor „heiklen" Szenen geradezu demonstrativ voyeuristischen Begierden · in diesem Punkt übrigens ziemlich genau das Gegenteil von
Adrian Lynes mattem 98er-Remake mit Jeremy Irons und Dominique Swain · und kreierte statt dessen, eine vielfach unterschätzte Stärke der Vorlage herausstreichend, eine frühe Form des Road-Movies:
Motels, Parkplätze, Autos, Tankstellen, Werkstätten, die Straße · ein Leben, das Nabokov aus erster Hand kannte, ironischerweise aber durch jenes seiner Werke, das es am stärksten exponiert, obsolet
geworden war.

Nicht mehr angewiesen auf Nebenerwerbstätigkeiten und ständige Wohnsitzwechsel, verließen Vera und Vladimir Nabokov Amerika und siedelten sich in Montreux an. Dieser Aufenthalt war ursprünglich nur
als temporär vorgesehen und hatte hauptsächlich den Zweck, ihrem (1934 geborenen) Sohn Dimitri nahe zu sein, der in Mailand an einer Opernkarriere arbeitete, ansonsten oft seinem Vater bei den
englischen Übersetzungen seiner frühen russischen Novellen zur Hand ging und heute seinen Nachlaß verwaltet. Er wurde aber endgültig, wenn auch das Paar aus dem angewöhnten Gefühl der Nicht-
Seßhaftigkeit heraus nie andere Unterkünfte als Hotelzimmer bewohnte.

Wiewohl er in Montreux noch einige seiner inspiriertesten und vitalsten Werke schreiben sollte · „Pale Fire", „Ada Or Ardor", oder „Transparent Things" („Durchsichtige Dinge") ·
vermittelt der späte Vladimir Nabokov den Eindruck eines über den Dingen stehenden Grandseigneurs; „ein milder alter Gentleman", wie er sich selbst charakterisierte, der seinen Frieden mit
einer Welt geschlossen hatte, deren Signale ihm nicht sonderlich gefielen: Mit seinem fundamentalen Mißtrauen gegen auch nur geringste Anzeichen von Vermassung konnte er keine andere als ablehnende
Haltung zu Bewegungen wie der sogenannten sexuellen Befreiung, der Popmusik, dem Drogenkult oder der grassierenden Demonstrationswut beziehen. So er erfuhr er denn auch, anders als Hermann Hesse oder
Henry Miller, dessen perfekter Anti-Pol er war, keine Idolisierung durch den Zeitgeist der sechziger Jahre.

Wenn er nicht in den benachbarten Alpen Schmetterlinge jagte, entwarf er Kreuzworträtsel, ersann diffizile Schachprobleme und sah sich · in seinen jungen Jahren Tormann · gerne auch mal Fußballspiele
im Fernsehen an. Hätte ihm eine Laune des Schicksals genau jene diktatorischen Befugnisse in die Hand gelegt, deren exzessiven Ge-und Mißbrauch er am Sowjet-Regime so heftig verabscheute, so wären
seine Maßnahmen gewesen: „Ich würde Lkws und Transistorradios verschwinden lassen, ich würde das teuflische Röhren von Motorrädern für gesetzeswidrig erklären, ich würde der Berieselungsmusik in
öffentlichen Plätzen den Hals abdrehen. Ich würde Bidets aus Hotelbadezimmern verbannen und dafür Platz schaffen für größere Badewannen. Ich würde Bauern den Einsatz von Insektoiden verbieten und
ihnen nur einmal im Jahr das Mähen ihrer Wiesen erlauben, im späten August, wenn alles sicher geschlüpft ist."

Mit seiner alten Heimat hatte Nabokov längst abgeschlossen. „Zuweilen stelle ich mir vor, daß ich sie mit falschem Paß und unter falschem Namen wieder aufsuche. Es ließe sich bewerkstelligen. Doch
ich glaube, ich werde es niemals tun. Zu vergeblich und zu lange habe ich davon geträumt", hatte er schon in „Erinnerung, sprich" seinen definitiven Abschied deklariert.

Vera Nabokov

Mehr als nur ein Ersatz für den Verlust seines Kindheitsparadieses, betonte er später, 1972, in einem Interview, sei seine glückliche Ehe. Vera Nabokov starb, nicht von ihrem Mann, wohl aber von
dessen Chronisten ungebührlich vernachlässigt, 1991 in Montreux. In den 14 Jahren, die sie Vladimir Nabokov überlebte, hatte sie einiges zur Ordnung von dessen künstlerischer Hinterlassenschaft
beigetragen, sich mit Wissenschaftern, Übersetzern und Verlegern herumgeschlagen und nicht zuletzt „Pale Fire" ins Russische übersetzt. Eine von Stacy Schiff verfaßte Biographie der als Vera
Slonim geborenen Anwaltstochter, die 1925 in Berlin zur Gattin eines wie sie emigrierten Schriftstellers geworden war, wird in Kürze erscheinen.

Das Werk Nabokovs ist auf Deutsch in einer mustergültigen Ausgabe des Rowohlt-Verlags erschienen, die von Dieter E. Zimmer herausgegeben und meist auch übersetzt worden ist. Zu Nabokovs
Geburtstag werden die wichtigsten Bände in einer preisgünstigen Taschenbuchedition neu aufgelegt.

Freitag, 16. April 1999

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