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Michel Houellebecq · ein hochgespieltes Medienereignis und zugleich ein radikal moderner Autor

Houellebecq: Vive le trash!

Von Manuel Chemineau

„D as Leben ist schmerzvoll und enttäuschend. Es hat daher wenig Sinn, noch einmal realistische Romane zu schreiben. Was die Wirklichkeit im allgemeinen
betrifft, so wissen wir bereits, woran wir uns halten müssen; und wir haben wenig Lust, mehr darüber zu erfahren. Die Menschheit in ihrem gegenwärtigen Zustand weckt allenfalls noch eine mäßige
Neugier in uns . . ." So beginnt die Biographie, die Michel Houellebecq 1991 über Howard Philipp Lovecraft veröffentlichte. Damals wußte man noch nichts von „houellebecqianischen" Figuren, und es
gab auch noch keine „Affäre Houellebecq". Man findet daher in dieser Biographie erst im Rückblick die Elemente eines bereits klar umrissenen literarischen Universums. Ein Schriftsteller, der diesen
Namen verdient und den zu lesen sich auszahlt, muß in jedem Fall etwas Neues bringen: eine Stimme, einen bestimmten Blick auf die Wirklichkeit, eine literarische Form, die dem entspricht.

„Ausweitung der Kampfzone", der erste Roman von Michel Houellebecq, wurde bei seinem Erscheinen (1994) von der französischen Kritik durchwegs als Ausdruck von etwas Neuem, noch nicht
Dagewesenen begrüßt. So zeigte sich etwa der Rezensent von „Le Monde" „verblüfft" über ein Buch, das er als „einzigartig" bezeichnete. Der Schriftsteller Houellebecq hatte einen sehr guten
Start. Dennoch blieb der Erfolg auf die literarisch interessierten Kreise beschränkt. Der Ruhm stellte sich dann mit dem Erscheinen seines zweiten Romans ein. „Les particules élémentaires"
(deutsch: Die Elementarteilchen) erzielte in kurzer Zeit mehrere Neuauflagen, bedingt auch durch einen Gerichtsprozeß wegen übler Nachrede, der zur Werbekampagne für das Buch wurde. Der Autor
beschreibt darin · auf Seiten, die zu den besten des Buchs gehören · eine Ferienkolonie im New Age-Stil an der französischen Atlantikküste. Houellebecq findet sich plötzlich auf dem Kampfplatz der
Medien wieder, die ihn häufig angreifen, verunglimpfen, als Faschisten (?!) oder, wenn das Urteil milder ausfällt, als Nihilisten behandeln. Gleichzeitig erklimmt der Roman die Gipfel der
Bestsellerlisten, erhält Preise, wird zum besten Buch des Jahres 1998 gewählt, der Autor zu allerlei Fernsehsendungen eingeladen. Kurz, es entsteht eine Affäre Houellebecq (Dossiers dazu bieten
„Le Monde" und „Libération" im Internet an).

Ein Buch als Glücksfall

Wie immer in solchen Fällen sagen die Debatten mehr über die Streitenden als über den Gegenstand selbst; literarische Fragen kommen nur am Rande vor. Nur wenige haben sich ernsthaft mit dem Text
auseinandergesetzt und das, wovon sie sprachen, auch wirklich gelesen. Das ist umso bedauerlicher, als der erste Roman Houellebecqs, der nun in einer sorgfältigen Übersetzung von Leopold Federmair ·
EXTRA-Lesern als Essayist bekannt · vorliegt, literarisch anspruchsvoller ist als der zweite.

„Ausweitung der Kampfzone" ist tatsächlich ein erstaunliches Buch, ein großer und seltener Glücksfall. Dieser Roman folgt abwechselnd in Innen- und in Außenperspektive dem Weg eines etwa
30jährigen Mannes (das Alter des Autors bei der Abfassung des Buchs), der als Informatiker in einem großen Dienstleistungsbetrieb arbeitet. (Houellebecq selbst arbeitete als Informatiker bei der
Französischen Nationalversammlung, ließ sich nach dem Erfolg seines zweiten Romans aber beurlauben.) Die Erfahrungen dieses jungen Mannes in einer Welt, die unschwer als unsere heutige erkennbar ist,
geben Anlaß zu Depression und Verzweiflung. „Ein Depressiver", schreibt Houellebecq, „ist jemand, der die Fähigkeit verloren hat, sich für das Uninteressante zu interessieren. Beispiel: Ein
sportlicher Depressiver ist unvorstellbar. Dagegen kann man sich sehr gut einen depressiven Verliebten vorstellen." Allenthalben stößt der Ich-Erzähler auf das Elend einer Gesellschaft, die sich
immer noch mit dem Attribut „Wohlstand" versieht; er sieht die Symptome der Niederlage in den kleinsten Details · etwa in der Sprache eines bürokratischen Berichts, dessen groteske Sätze er zu seinem
Zeitvertreib aufschreibt. Der Weg des Ich-Erzählers endet in einem merkwürdig ungewissen, zweideutigen Schlußkapitel in einer abgelegenen Gegend des französischen Zentralmassivs. Houellebecq ist hier
ein außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, das an den Beginn von Büchners „Lenz" erinnert, der seinerseits von Deleuze und Guattari am Beginn ihres „Anti-Ödipus" zitiert wird:
„Dort aber ist er im Gebirge, im Schnee, mit anderen Göttern oder ganz ohne Gott, ohne Vater noch Mutter, er ist mit der Natur."

Die Rauheit der Sprache

Die französische Kritik hat ausführlich über die rauhe Sprache Houellebecqs geschrieben, über deren Mangel an Höflichkeit. Nach Meinung einiger zeugen die Frauenfiguren von einer aggressiven
Antipathie des Autors. Dieser Mangel an sozialer und sexueller Korrektheit wurde vom Standpunkt billiger Entrüstung aus kritisiert, wobei man außer Acht ließ, daß alle Figuren, die männlichen ebenso
wie die weiblichen, an diesem totalen ethischen Desaster teilhaben, das der Autor bisweilen karikaturhaft zuspitzt. Andere Kritiker stießen sich an bestimmten Positionen des Autors/Erzählers, die in
einer Kultur wie der französischen, die in der Regel auf Konsens abzielt, besonders explosiv wirkten. Dessen ungeachtet bleibt jedoch die literarische Herausforderung des ersten Romans von
Houellebecq hervorzuheben, der streckenweise die Form einer Abhandlung, eines Manifests annimmt: „Die Romanform ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müßte
eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form."

Jenseits von allen Polemiken ist „Ausweitung der Kampfzone" das Ergebnis eines gewagten und letztlich gelungenen literarischen Unternehmens. Die Arbeit an der Form, die Houellebecq hier
leistet, zeugt von einem unablässigem Streben nach Reduktion, die für ihn gleichbedeutend ist mit Perfektion. Lakonismus, eine vorsätzlich „trashige" Schreibweise, Kunst des Porträts,
Beschreibungspotenz: das souveräne Porträtieren der Figuren verbindet sich bei Houellebecq paradoxerweise mit einer entschiedenen Abweisung jeder Art von Realismus. „All diese wunderbar
verfeinerten ,Darstellungen`, diese ,Situationen`, Anekdoten . . . Wenn wir das Buch wieder geschlossen haben, trägt das alles nur dazu bei, uns in jenem leichten Ekelgefühl zu bestätigen, das durch
einen beliebigen Tag des ,wirklichen Lebens` bereits genügend Nahrung erhält." Lakonismus und Verweigerung jeder Schönmalerei, Einführung der Form des Traktats in das Romangeflecht · in der
Kombination dieser Verfahrensweisen erzeugt Houellebecq einen Text von großer formaler Einheit, dessen Nähe zum Trash Teil seines antiästhetizistischen Programms ist.

Unterschwellig wird der Roman von der kühleren Form des Essays gestützt. „Wenn der Roman dem Menschen isomorph ist", sagt Houellebec, „dann muß in ihm alles Platz haben." Der Essay und
die wissenschaftliche Abhandlung verleihen ihm jene lakonische Dimension, die den Erzähler zugleich im Außen wie im Innen der Figur plaziert und ihm die Möglichkeit einer neuen Sprache gibt.

Foucault und Popmusik

Umgekehrt ist Houellebecqs Essay über Lovecraft ein literarisches Werk. Auch in seinen Essays findet man „trashige" Züge, sie weisen jeden Ästhetizismus von sich. Ein Beispiel ist der kurze Text
„Jacques Prévert ist ein Depp", der im letzten Heft der Zeitschrift „Freibeuter" erschienen ist. Darin greift Houellebecq einen der Hauptvertreter des poetischen Realismus an, dessen Werk
ihm als „Entfaltung eines riesigen Klischees" erscheint. Der Ton, den Houellebecq hier anschlägt, ist für seine Verhältnisse relativ mild, vielleicht deshalb, weil sich der arme Prévert nicht
mehr wehren kann. Houellebecq geht es vor allem darum, den Bruch mit einer Tradition zu unterstreichen, die ihre Wurzeln tief im 19. Jahrhundert hat. Seine eigenen Anknüpfungspunkte sind der
Gegenwart näher. Sie finden sich in der Kultur der siebziger Jahre, bei Deleuze oder Foucault, in der Popmusik und im damaligen französischen Chanson, in der New-Age-Strömung und den Comics, in der
unglaublichen Leichtigkeit der letzten dreißig Jahre, in der die Generation Houellebecqs aufgewachsen ist.

Houellebecq hat eine Vorliebe für die Soziologie als Zugangsweise des Individuums zu seinem Leben; die Bilanz, die er in der Beschreibung der kaputten Existenzen seiner Helden zieht, ist
katastrophal.

Was ist das Faszinierende an den Romanen Houellebecqs? Vor allem wohl ihre fundamentale Unhöflichkeit, die Verachtung der Konsenskultur, die das Individuum in einem ausweglosen Elend erstickt; die
unnachgiebige Art, wie sie alles herausfordern, was „politisch korrekt" ist; der Angriff auf den uniformen Schleier, der sich über alles gelegt hat. Bei der Lektüre der zahllosen Einzelheiten, die
Houellebecqs Romane zu einem Gewebe des Abscheus verknüpfen, stellt sich nach und nach eine Freude ein, die mit der Reinheit und der Gewalt zusammenhängt, mit der die unmenschliche
Gesellschaftsmaschinerie für einen Augenblick angehalten wird · eine Lust am Text als Zerstörungslust angesichts der Zwänge, deren Erfahrung wir tagtäglich machen und die es Houellebecq kenntlich zu
machen gelingt.

Zu Beginn des neunten Kapitels der zweiten Hälfte von „Ausweitung der Kampfzone" zitiert Houellebecq als Motto den folgenden Satz von Roland Barthes (in dem ein berühmter Satz Arthur Rimbauds
anklingt): „Plötzlich war es mir gleichgültig, ob ich modern war oder nicht." Gerade weil er eine vergleichbare Haltung einnimmt, ist Houellebecq zur Zeit einer der wenigen französischen
Autoren, die sich als radikal modern erweisen.

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Roman. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Wagenbach-Verlag 1999.

Freitag, 02. April 1999

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