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Die „Cahiers" der Simone Weil: Rückhaltlos und radikal

Weil, Simone: Vom Abdanken des Denkens

Von Leopold Federmair

C ahiers: Hefte. Hefte mit Auf-

zeichnungen, die verschieden-

ste Themen betreffen. Ein Sammelsurium eher als eine Chronologie. In Italien verhalf Giacomo Leopardi, in Frankreich Paul Valéry dieser Literaturform zu einigem Ansehen. Zwar ist es noch nicht lange
her, daß Elias Canetti mit seiner „Fliegenpein" ein schönes Beispiel für dieses „romanische" Genre geliefert hat. Doch im allgemeinen hält man es im deutschen Sprachraum eher mit
Tagebüchern (journaux intimes,

sagt der Franzose und meint damit etwas ganz anderes als cahiers). Vergleicht man die „Cahiers" Simone Weils mit denen Paul Valérys · beide Werkkomplexe liegen nun in vollständiger
Ausgabe in deutscher Übersetzung vor ·, wird man kaum zweifeln, daß erstere nicht den sprachlichen und denkerischen Rang der letzteren erreichen. Die Aufzeichnungen Simone Weils sind über weite
Strecken ein Arbeitsjournal mit Exzerpten und Übersetzungsversuchen aus philosophischen, religösen, kulturgeschichtlichen Werken. Ihre eigenen Überlegungen knüpfen sich oft an fremde Texte, Heilige
Schriften, Märchen, klassische Tragödien, sie umkreisen bestimmte Themen wie die Leere, die Gnade, Gut und Böse, Notwendigkeit und Unmöglichkeit, springen zwischen diesen Themen hin und her, bleiben
abstrakt, treiben vorsätzlich die Abstraktion voran. Trotz der geistigen Strenge der Autorin sind viele ihrer Aussagen, stellt man sie nebeneinander, so widersprüchlich, daß sie sich wechselseitig
aufheben.

Dennoch beeindrucken diese Aufzeichnungen durch das persönliche Engagement Simone Weils, durch den Weg, den sie allein, rückhaltlos, radikal in die verstiegensten Gebiete des Geistes und des
Geistlichen geht. Man wird diesen selbstzerstörerischen Weg kaum zur Nachahmung empfehlen können, eher schon zur Abschreckung, auf alle Fälle aber zur Lektüre, die eine seltene · am Ende auch
ästhetische · Mischung aus Faszination und Befremden beschert. So meinte Ingeborg Bachmann in einem 1955 ausgestrahlten Radio-Essay: „Von diesem mystischen Sich-in-Beziehung-Setzen können wir
nichts nehmen. Es wäre unsinnig zu behaupten, daß man daran teilhaben kann, es sich wie eine Erkenntnis zunutze machen kann." Und Emmanuel Lévinas, der es unternahm, gegen eine Person zu sprechen,
die „wie eine Heilige gelebt und alle Leiden der Welt" durchgemacht hat, zog folgenden Schluß: „In unsere Achtung mengt sich großes Entsetzen. Unser eigener Weg verläuft anderswo."

Simone Weils Cahiers stammen aus ihrer letzten, christlich-mystischen Lebensphase. Davor liegt ihr Studium an der Pariser Ecole Normale Supérieure, zu einer Zeit, Ende der zwanziger Jahre, als dies
für Frauen alles andere als selbstverständlich war; dann ihre · nach den Kriterien der Schulbehörde · notorisch erfolgose Tätigkeit als Lehrerin, ihr gewerkschaftliches Engagement, die
Auseinandersetzung mit dem Marxismus, Monate als Hilfsarbeiterin in Fabriken und auf dem Land, Zeiten der Arbeitslosigkeit und des Hungers, ständige Kopfschmerzen.

Die verschiedenen Formen des Leidens scheint Simone Weil immer wieder gesucht und durchgemacht zu haben. Seit 1938 hat sie mystische Erlebnisse, erfährt sie Zustände der Ekstase. Der Großteil der
Aufzeichnungen der Cahiers stammt aus dieser späten Phase. 1943 stirbt sie im Londoner Exil. Auf dem Totenschein steht: „Versagen des Herzens . . . infolge Unterernährung und Lungentuberkulose.
Die Verstorbene tötete sich selbst durch ihre Weigerung zu essen, während ihr seelisches Gleichgewicht gestört war." Von einem gestörten seelischen Gleichgewicht zu sprechen, ist nach gängigen
Psychologen-Kriterien wohl plausibel. Das Wort „Selbstmord" scheint allerdings fehl am Platz. In einer Aufzeichnung vom Februar 1942 schreibt Weil: „Das Geschöpf hat sich nicht erschaffen, und es
ist ihm nicht gegeben, sich zu zerstören. Es kann nur in seine eigene Zerstörung einwilligen, die Gott bewirkt." Im Zurücktreten, Verschwinden, Verlöschen der eigenen Person sah sie tatsächlich
ein letztes Ziel, das ihrem sozialen Engagement und der mystischen Erfahrung, diesen beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Lebensabschnitten, gemeinsam ist. Platz machen, aus Demut, aus
Menschheits- und schließlich aus Gottesliebe: „Wenn ich es verstünde, zu verschwinden, dann gäbe es die vollkommmene Liebesvereinigung zwischen Gott und der Erde, auf der ich gehe..." Natürlich
ist das unmöglich, aber gerade das Unmögliche muß man, so Weil, mit ganzer Kraft wollen. Die eingangs erwähnte Abstraktheit ihrer Texte ist möglicherweise ein Merkmal mystischen Schreibens überhaupt.
Dem mystischen Autor geht es nicht darum, von Erfahrugen zu berichten, die seiner Überzeugung nach unaussprechlich sind, sondern darum, alles Irdische aus dem Denken und aus dem Text zu beseitigen.
Simone Weil bezeichnet die Denkfigur der Tautologie, in der das Denken eigentlich abdankt („abdanken" ist eines der Wörter, die Weils Verlangen bezeichnen), als „höchste Lehre": nach dem göttlichen
Vorbild des namenlosen „Ich bin der ich bin" sind auch die Dinge immer nur, was sie sind, die Rose ist eine Rose ist eine Rose usw. In diesen Sog des Tautologischen geraten nach alter Tradition
mystischer Antithetik auch Widersprüche und, mit zunehmender Denkschärfe, Paradoxa wie die von Sünde und Gnade, Endlichkeit und Unendlichkeit, Fülle und Leere · bis das Sein schließlich mit dem
Nichts zusammenfällt. Der Denkprozeß selbst, der zur Selbstaufgabe führen soll, wirkt auf das denkende Subjekt als Seelendressur.

Der Selbsthaß

Diese „Gewaltanwendungen sich selbst gegenüber" verraten mitunter etwas von jüdischem, auch weiblichem Selbsthaß (beide Haßrichtungen sind, wie zu Beginn des Jahrhunderts der Fall Weininger
zeigt, seltsam verwandt). Dennoch kann man sie mit ebensoviel Recht der christlich-katholischen Ideologie zuordnen. Viele Absätze der „Cahiers" knüpfen an die kämpferischen Aspekte des in der
Bibel vermittelten, vielschichtigen, ja widersprüchlichen Christusbildes an. Den Tempel niederreißen, durch das Schwert regieren · Simone Weil scheint von diesen aggressiven Gesten mehr angezogen zu
sein als von der lammfrommen Passivität des Menschensohns. Allerdings sieht sie sich selbst als menschliches, daher unendlich gottfernes Subjekt, niemals als Akteurin, sondern als Leidende, und sie
gesteht eine Herrschaft durch das Schwert zwar im geistlichen, niemals aber im weltlichen Reich zu. „Die Sklaverei", schreibt sie, „ist ein Verbrechen derselben Art wie Mord oder
Vergewaltigung, insofern sie zwischen Menschen eine Beziehung herstellt, die nur zwischen Gott und dem Menschen angebracht ist. Gott allein hat das Recht die Seelen der Menschen zu töten, zu
vergewaltigen, zu versklaven. Eine über jedes Gute hinaus begehrenswerte Gewalt."

Die Konzeption einer idealen Gesellschaft, die in den Cahiers hier und da aufblitzt, ist ein milder Abglanz solcher Gottesherrschaft. Sie erinnert an die soldatischen Utopien eines Ernst Jünger; ihre
beiden Pole sind Gehorsam und Aufmerksamkeit. In ihrer Sehnsucht, sich aufzuopfern, und zwar weniger (oder bloß indirekt) für den Nächsten oder für ein konkretes Anliegen, sondern zugunsten einer
recht abstrakten, masochistisch genossenen „Gottesliebe", steht Simone Weil für Legionen katholischer Frauen. Die Umleitung des Sexualtriebs in Bahnen, die vom eigenen Körper wegführen, hat sie
ausdrücklich zum Programm erhoben: „Die sexuelle Energie des Menschen hängt nicht von den Jahreszeiten ab. Das ist das beste Zeichen, daß sie nicht für einen natürlichen Gebrauch bestimmt ist,
sondern für die Liebe zu Gott." Noch ihre Weigerung, der katholischen Kirche beizutreten, hatte etwas Quälendes, und den Gipfel der Gottesliebe sah sie in der Verleugnung Gottes · ganz nach dem
Vorbild Christi, der am Kreuz seinem Vater den Vorwurf macht, ihn verlassen zu haben. Eine wahrhaft heilige (folglich radikale) Existenz scheint im zwanzigsten Jahrhundert · nach Auschwitz, aber wohl
auch schon vorher · nur im Grenzbereich des Atheismus möglich zu sein. „Die Religion als Quelle des Trostes ist ein Hindernis für den wahren Glauben, und in diesem Sinn ist der Atheismus eine
Reinigung", liest man im zweiten Band der „Cahiers".

Was Maurice Blanchot am meisten an den Schriften der Simone Weil erstaunt, ist die Gewißheit, die sie ungeachtet aller Schwankungen und Widersprüche immer wieder zum Ausdruck bringen. Tatsächlich ist
der fraglose, zweifelsfreie, herrische Sprechakt des Behauptens eines der auffälligen Stilmerkmale ihres tautologischen Schreibens. Dessen strategisches Ziel besteht nun gerade darin, Widersprüche
ineins fallen zu lassen, vorgängige Bewegungen zur Umkehr zu zwingen und Schwankungen in ein Oszillieren zu steigern, in welchem Diesseits und Jenseits ununterscheidbar werden. Die Letzten werden die
Ersten sein, und „wer sich erniedrigt, der wird erhöht werden."

Simone Weil findet für ihre radikalisierenden Umkehrbewegungen genügend Nahrung im Neuen Testament. Es zeigt sich freilich, daß die Abkehr vom Stolz hin zur größten · eigentlich kleinsten · Demut
niemals so weit gehen kann, daß nicht hinter ihrem Rücken doch wieder ein Hochmutsschimmer auftaucht. Auch in dieser Hinsicht hat Blanchot klar gesehen: Über die ekstatische Erfahrung kann man nur
schweigen; auf dem Weg des Denkens · erst gar des Schreibens · kann man nicht zu einem so vollständig verborgenen, unendlich fernen Gott gelangen. Die Cahiers selbst sind mit jedem einzelnen Wort
Zeichen und Akte von Hochmut, auch und gerade dann, wenn sie von Strafe, Gehorsam und Zwang reden. Die Entsagung verkörpert eine Lustmöglichkeit; die Schönheit dieser Welt, die doch ursprünglich ein
Fehler Gottes ist, gibt die irdische Signatur jenes höchsten Guten, nach dem die sich erniedrigende Seele strebt, ohne es je erreichen zu können.

Die Gewißheit

Inmitten all dieser Turbulenzen steht unbewegt die Gewißheit. Das innerste Schweigen, dieses Undenkbare, wird mit Gerede getarnt. Lesend/schreibend springt man von Definition zu Definition: „Ich
bin der ich bin" wird zu „Ich weiß was es ist". Ich weiß, daß ich nichts weiß. Ich weiß alles. Aber Wissen von etwas, und sei es von allem, ist keine Glaubensgewißheit. Das einzig Gewisse bleibt
unsagbar. Kann man es, wie Wittgenstein meinte, zeigen? Warum sollte man es zeigen können, wenn man es nicht sagen kann? Das Gewisse, der unaussprechliche Name, das Nichts (lauter falscher Verrat):
Man kann nur daran teilhaben · es sein, sich vernichten.

Die Denkbewegungen der Simone Weil sind inkonsequent. Auch darin liegt letztlich eine Konsequenz, denn das Denken betreibt sein eigenes Abdanken. Dennoch halten wir es lieber mit Ingeborg Bachmann
und Emmanuel Lévinas. Unser Weg ist anderswo; unser Weg könnte der Zweifel, die Unsicherheit, die Annäherung sein. Seltsam · nein, konsequent, daß Simone Weil den Zweifel Christi nicht sieht, obwohl
sie die Bibelstelle mehrmals kommentiert: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Das ist keine Verleugnung Gottes, sondern eine Frage, der letzte und größte Zweifel am Sinn des Opfers, des Todes,
des christlichen Heilsprogramms. Aussteigen, nicht mehr mitmachen ·das könnte dieser Schrei auch bedeuten. Und eine Konsequenz für uns könnte sein: Agnostizismus. In der Gestalt Simone Weils jedoch,
die auf einzigartige Weise ihre Imitatio Christi lebte, verkörpert sich der Geist (Pneuma oder Ungeist) des 20. Jahrhunderts, des Zeitalters der Extreme. Atheismus und Glaubensfanatismus oszillieren
in ihrem Werk, dieser kann sich in jenen verkehren, und dieses ständige Überschreiten einer inneren Grenze ist die Qual, der sie sich unterziehen muß, will sie ihre niederschmetternd geringen
Aussichten auf das Heil bewahren.

Es versteht sich von selbst, daß die Sprache eines so abstrakten Werks alles andere als bilderreich ist. Umso stärker wirken gewisse Bilder der Selbsterniedrigung, die an die Tierwelt Kafkas
erinnern: „Ein Eichhörnchen, das in seinem Kreis läuft, und die Umdrehung der Himmelssphäre. Äußerstes Elend und äußerste Größe. Wenn der Mensch sich als Eichhörnchen sieht, das in einem
kreisförmigen Käfig seine Runden läuft, dann ist er, falls er sich nicht belügt, dem Heil nahe."

Die Poesie

Es ist ein weiterer Widerspruch, ein Widerspruch zu den Intentionen der Autorin, daß die „Cahiers" so etwas wie einen poetischen Überschuß enthalten, der sich nur mit gewissen
Schwierigkeiten aus der Leidensmystik erklären läßt, eine Schönheit, auf die auch Ingeborg Bachmann hingewiesen hat. Vielleicht gibt es doch Elemente im Denken Simone Weils, die wir annehmen können,
etwa die Definitionsversuche einer zum Leiden komplementären „Freude" als „Gefühl der Wirklichkeit" und die Vorstellung von Schönheit als Tor, das durch die sinnliche Welt hindurch zum Geistigen
führt. (Cioran hingegen sah ausschließlich ihren „Hang zum Unglück".)

Die Selbsterniedrigung entspricht nach Simone Weil göttlichem Vorbild, insofern die Menschwerdung eines Gottes immer ein Herabsteigen bedeutet. Diese Imitatio enthält in sich einen Keim der Erhöhung
zum Göttlichen. „Nachahmung/Umkehrung" heißt das Programm.

Die Schrift der „Cahiers" verfolgt eine doppelte Bewegung der Erhöhung/Erniedrigung, der Schwerkraft und der Photosynthese, der „aufsteigenden" und der „absteigenden" Bewegung; sie gehört einer
im eigentlichen Sinne „barocken", die Vertikale betonenden Ästhetik an, die Simone Weil, die Ungetaufte, bei katholischen Meßfeiern bewunderte: „Schönheit der Riten. Messe. Die Messe kann den
Verstand nicht berühren, denn der Verstand erfaßt nicht, worum es dabei geht. Sie ist vollkommen schön und von sinnlicher Schönheit, denn die Riten und Zeichen sind sinnlich wahrnehmbare Dinge. Schön
in der Art eines Kunstwerks."

Simone Weil: Cahiers. Aufzeichnungen. 4 Bände, herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. München·Wien: Carl-Hanser-Verlag 1993·1998. Beiträge von Maurice Blanchot, E. M.
Cioran und Emmanuel Lévinas in: Akzente 4 (1998).

Freitag, 19. März 1999

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