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Eine Marbacher Ausstellung erinnert an Franz Hessel

Hessel, Franz: Der Flaneur

Von Oliver Bentz

Der Berliner sei kein Spaziergänger · behauptete Kurt Tucholsky. Er tue „alles, was die Stadt von ihm verlangt · nur leben . . . das leider nicht", denn:
„der Berliner hat keine Zeit." Einer der wenigen, der sich im Berlin der zwanziger Jahre, in dem das „Tempo" zum Signum gesellschaftlichen Lebens wurde, die Zeit zum Spazierengehen nahm · zum
„Flanieren", der scheinbar ziellosen Form der Fortbewegung zu Fuß durch Straßen, Parks und Passagen ·, war Franz Hessel (1880 bis 1941). Das Marbacher „Schiller-Nationalmuseum" erinnert zur Zeit mit
einer vom Berliner Literaturhaus konzipierten, sehenswerten Ausstellung von Briefen, Fotos, Zeichnungen, Erstausgaben und Zeitungsausschnitten an das Leben dieses Journalisten, Schrifstellers und
Übersetzers.

In zahlreichen · heute wieder zu entdeckenden · Büchern wie etwa „Teigwaren leicht gefärbt" (1926), „Nachfeier" (1929) oder „Ermunterung zum Genuß" (1933) ließ der Flaneur die Leser teilhaben an
seinen Eindrücken und Entdeckungen im Dschungel der Großstadt.

Einem breiten Publikum ist ein Ausschnitt der Lebensgeschichte des 1880 in Stettin als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Bankiers geborenen Franz Hessel, der im Alter von acht Jahren mit seinen
Eltern nach Berlin übersiedelte, durch eine Kinolegende bekannt. Ist Hessel doch das reale Vorbild des Jules in François Truffauts Film „Jules et Jim".

Vor dem Ersten Weltkrieg trieb sich Hessel, der in München Literaturgeschichte studierte, in den Kreisen der Schwabinger Bohème herum und war der legendären Franziska zu Reventlow in unerwiderter
Liebe zugetan.

Es zog ihn 1906 nach Paris, wo er sich bis 19l4 überwiegend aufhielt und mit seinem Freund, dem Schriftsteller Henri Pierre Roché, und anderen Lebenskünstlern im legendären „Café du Dôme" die Zeit
vertrieb. Dort traf er auch seine spätere Frau Helen Grund, eine Übersetzerin und Modejournalistin. Hessel soll sie, so berichtete Helen Grund später, bei ihrem ersten Zusammentreffen mit den Worten
begrüßt haben: „Sie haben ja Augen wie Goethe in mittleren Jahren." Bald verliebte sich Helen auch in Henri Pierre Roché. lhrem Tagebuch · geschrieben in Deutsch, Französisch und Englisch ·
vertraute sie, die Hessel 1913 heiratete, diese komplizierte und turbulente Liebesgeschichte an. Das Tagebuch schickte sie an Roché, der daraus 1953 den Roman „Jules et Jim" machte. So entstand
jene ménage à trois, die Truffaut das Material zu seinem gleichnamigen, 1959 gedrehten Film lieferte.

Der Ehrentitel „Flaneur von Berlin" wurde Franz Hessel von seinem Freund Walter Benjamin anläßlich der Rezension seines Buches „Spazieren in Berlin" (1929) verliehen. Benjamin schrieb über das
Werk, ganz dessen innerstes Wesen erkennend: „ ,Spazieren in Berlin` ist ein Echon von dem, was die Stadt dem Kinde von früh auf erzählte. Ein ganz und gar episches Buch, ein Memorieren im
Schlendern, ein Buch, für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war." In diesem und mehreren anderen Büchern führt Hessel den Leser als Soziologe des Alltags zu Erkundungsgängen durch
Berlin und seine „zweite Heimatstadt" Paris.

Hessel begreift die Städte als illustrierte Bücher, die er, der Spaziergänger, zum Amüsement und Zeitvertreib durchblättert. Von Zeit zu Zeit hält er inne, vertieft sich begeistert in das
großstädtische Geschehen. Objekt seines Interesses ist das pulsierende Leben der Stadt, sind die Sensationen des Alltags, sind die kleinen Episoden aus dem Leben der Angestellten, der Modistinnen und
Verkäuferinnen, die sich dem aufmerksam verweilenden Beobachter · und nur ihm · offenbaren und die er mit stilistischem Esprit und humorvoll kommentierender Anteilnahme weitergibt. Er lehrt dabei
seine Leser, die Stadt zu sehen und zu erkennen, vielleicht sogar zu lieben.

Der größte Teil von Hessels vielfältigem literarischen Schaffen entstand in der Zeit der Weimarer Republik, während der er auch als Lektor des Rowohlt-Verlages und Übersetzer wie etwa Stendhal,
Casanova oder Proust arbeitete. In Berlin, dem „Chaos von Städten", wie es Alfred Döblin nannte, macht Hessel beispielsweise · wie sich die Dinge doch wiederholen · die architektonische
Entwicklung auf den Baustellen des damaligen Neuen Westens zum Thema, beobachtet das rasante Anwachsen des Verkehrs, besucht verrufene Viertel und Hinterhöfe, Wärmehallen und Tageskinos, zeigt die
sozialen Verwerfungen der ausgehenden Weimarer Republik und fängt in seinen Skizzen und Berichten · die Kurt Tucholsky als „bezaubernd leichte Dingelchen" bewunderte · das „Atmosphärische" im
pulsierenden alltäglichen Leben der Hauptstadt ein. „lch darf", so schrieb Hessel im Schicksalsjahr 1933, „in diesen ,ernsten Zeiten` das Spazierengehen getrost empfehlen. Es ist wirklich
kein spezifisch bürgerlich-kapitalistischer Genuß. Es ist ein Schatz der Armen und fast ihr Vorrecht." So zeigt er sich ganz als Flaneur, der als selbstlos Liebender genießt, was er nicht hat.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit Schreibverbot belegt · aber von Rowohlt weiter heimlich beschäftigt · und mit der ständigen Gefahr der Verhaftung lebend, verläßt Hessel „sein"
Berlin · erst nach eindrücklicher Aufforderung durch seine Frau · im Herbst 1938 und übersiedelt zur Familie nach Paris, wo er bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lebt. Sein literarischer
Abgesang auf die Stadt an der Seine gibt die Stimme eines Trauernden, der sich des Verlustes seiner Welt (der Zeit zwischen den Kriegen) gewahr wird. Mit dem Kriegsausbruch ereilt ihn das Schicksal
vieler deutscher Emigranten · er wird von den Franzosen in einem Pariser Sportstadion, dem „Stade de Colombes", als feindlicher Ausländer interniert. Wieder freigelassen, zieht er mit den Seinen in
die Enklave der deutschen literarischen Emigration, ins südfranzösische Sanary-sur-Mer, wo man im Haus des Schriftstellers Aldous Huxley unterkommt. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich erfolgt
im Mai 1940 die erneute Internierung im Lager von Les Milles bei Aix-en-Provence. Wieder freigelassen, stirbt Franz Hessel am 6. Jänner 1941. Eine Grabstelle ist nicht erhalten. Nur die Rechnung des
Bestattungsunternehmers, eines der letzten Dokumente der Ausstellung.

Alfred Polgar, der sich von Hollywood aus um Eireisepapiere für Hessel in den USA bemühte, schrieb im New Yorker „Aufbau" den Nachruf auf den Freund:„Am 6. Februar dieses Jahres starb der
deutsche Dichter und Refugié Franz Hessel in und an Frankfreich, das er wie seine zweite Heimat liebte . . . Zum Dank für all seine panegyrische Liebe, die er ein Leben lang Frankreich erwies,
sperrten sie im Herbst 1940 den 60jährigen, kränklichen Mann in eines ihrer abscheulichen Lager . . . Er war eine reine Seele, ohne Tropfen Bosheit, und schrieb ein reines Deutsch, in dem die rechten
Worte auf dem rechten Fleck stehen."

Im Nachkriegsdeutschland gerieten Franz Hessels Werke weitgehend in Vergessenheit. Erst in den achtziger Jahren, als eine Renaissance der Feuilletonisten der Zeit um die Jahrhundertwende
einsetzte, wurden auch Hessels Skizzen und Romane der Leserschaft zugänglich gemacht. Der Berliner Verlag „Das Arsenal" legte Hessels Schriften in Auswahlbänden vor. Für das Frühjahr 1999 hat
der Igel-Verlag (Oldenburg) eine fünfbändige Franz-Hessel-Werkausgabe angekündigt.

„Franz Hessel · Nur was uns anschaut, sehen wir." Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, bis 24. Jänner 1999, täglich von 9 bis 17 Uhr. Zur Ausstellung ist ein lesenswerter Katalog
erschienen.

Freitag, 08. Jänner 1999

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