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Vor 200 Jahren starb Ulrich Bräker, der „arme Mann im Tockenburg"

Bräker, Ulrich: „Die Welt ist mir zu eng..."

Von Oliver Bentz

Hans Mayer nannte ihn den „wohl ersten plebejischen Schriftsteller in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland". Sein autobiographischer Roman „Lebensgeschichte
und natürliche Abentheuer des Armen Mannes im Tockenburg" (erschienen 1789), „bei schwacher Lampe an Sonntagen oder sonst in freien Augenblicken" den Nachkommenden „zur Vermahnung"
verfaßt, erzählt auf beeindruckende Weise den Versuch, sich aus den Fesseln bitterster materieller Armut und geistiger Enge zu befreien. Ulrich Bräker, Autor dieses außergewöhnlichen Zeitdokuments
aus der Welt der Kleinbauern und armen Leute, geboren am 22. Dezember 1735 auf einem Bauernhof bei Näbis im Toggenburg (Schweiz), starb heute vor 200 Jahren in Wattwil.

Die Familie, in die Ulrich Bräker hineingeboren wurde, lebte mit ihren acht Kindern in ärmlichsten Verhältnissen. Diese Situation und seine Abenteuerlust, die ihn lebenslang treiben sollte, zogen ihn
1755 aus der heimatlichen Enge fort. Er fiel betrügerischen Werbern in die Hände und erfuhr als Söldner den harten Drill der preußischen Armee Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Krieg (1756 bis
1763). Aber schon in der ersten Schlacht, im Oktober 1756 bei Lobositz, gelang es ihm zu desertieren. Auf abenteuerlichen Fluchtwegen schlug er sich in seine schweizerische Heimat durch, wo er · wie
sein Vater, der 1754 durch Konkurs seinen Hof verlor · als Bauer, Tagelöhner, Knecht und Salpetersieder sein kümmerliches Dasein fristete.

Bräker, der als Junge nur sechsmal zehn Wochen zur Schule gehen konnte, entwickelte eine große Liebe zu Büchern und zur Schriftstellerei, und vertrieb sich die langen Winterabende mit der Lektüre von
Shakespeares Dramen. Seine Zwiesprache mit den Gestalten, die ihm in diesen Werken begegneten, brachte mit „Etwas über William Shakespeares Schauspiele" eines der noch heute interessantesten
und originellsten Bücher über den englischen Dichter hervor. Das Drama „Die Gerichtsnacht", mit dem er Shakespeare nacheiferte, siedelte Bräker im heimischen Bauernmilieu an.

Sein Hauptwerk, den „Armen Mann im Tockenburg", hat Bräker aus den Einträgen seines mehr als 3.500 Seiten umfassenden Tagebuchs, mit dessen regelmäßigem Verfassen er während der großen
Hungersnot im Jahre 1770 begann, „zusammengeflickt". Er stellt sich damit in die Reihe der autobiographischen Romane seiner Zeit · wie etwa Karl Philipp Moritz „Anton Reiser" (1785) ·, in denen
pietistisch orientierte Selbstanalyse betrieben wird. Im Gegensatz zu seinen „Schriftstellerkollegen" schildert Bräker den Alltag der Menschen aus seiner, der niedrigsten, Stufe der Gesellschaft und
liefert damit auch ein einzigartiges Panorama vom Leben einer aus dem Blickfeld der zeitgenössischen Literatur weitgehend ausgeschlossenen Mehrheit der damaligen Bevölkerung.

Bräkers Beschäftigung mit Literatur und dem aufklärerischen Denken entfremdeten ihn zusehends von seiner Umgebung und trieben ihn in die Isolation. Auch von seiten seiner streng religiösen und
zänkischen Frau Salome, die er 1761 heiratete, hatte er keinerlei Verständnis für seine schöngeistigen Interessen zu erwarten. Zeitlebens empfand er die Ehe mit ihr · die seinen intellektuellen
Wissensdrang als unnütz erachtete und von ihm kaufmännische Tüchtigkeit forderte · als unglücklich. Seine Versuche, die finanzielle Situation durch allerlei Kleinhandel, unter anderem mit Baumwolle
und Webereien, zu verbessern, schlugen fehl, beim Hausbau verschuldete er sich; Geschäft wie Ehe taumelten von Krise zu Krise. Ein Jahr vor seinem Tod mußte er den Gläubigern sein Haus auf der
Hochsteig bei Wattwil überlassen.

Fluchtmöglichkeiten aus den deprimierenden Verhältnissen boten sich für den von seinen Nachbarn als Sonderling Gemiedenen nur in der Literatur und der eigenen Schriftstellerei. „Die Welt ist mir
zu eng. Da schaff ich mir denn eine neue in meinem Kopf", notiert er am 30. Jänner 1791 in sein Tagebuch. Seine autodidaktisch angeeignete Bildung ermöglichte ihm 1776 den Zugang zum gelehrten
Kreis der „Moralischen Gesellschaft im Toggenburg" sowie die Benutzung von deren umfangreicher Bibliothek. Mit einigen der zeitgenössischen geistigen „Berühmtheiten" der Schweiz · wie Johann Caspar
Lavater oder Johann Gottfried Ebel · übte Bräker rege Konversation.

Im Gegensatz zu seinem Landsmann Jeremias Gotthelf ist Ulrich Bräker weder ein gestaltender Erzähler, noch ein moralisierender Prediger. Lebensnähe und Ursprünglichkeit sind vielmehr die Kennzeichen
seiner meist autobiographischen Schriften. Seine literarische und kulturgeschichtliche Bedeutung wurde lange unterschätzt. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die enorme gesellschaftskritische
Relevanz seiner Werke · die trotz ihrer Beschränktheit auf den privaten, engsten Erfahrungsbereich durch dessen „unverbildete" Widerspiegelung zur Anklage der damaligen Lebensverhältnisse eines
großen Teils des Volkes werden · und die „ehrliche" Unmittelbarkeit seines Schreibstils, vor allem von Hugo von Hofmannsthal, wieder entdeckt.

Wie sehr Bräker die Literatur und das Schreiben brauchte, wie sehr sie ihm Lebenselexir wurden, bezeugt ein Tagebucheintrag vom 6. September 1798, wenige Tage vor seinem Tod, als ihm das Schreiben
und also auch das Leben unmöglich wurden: „Aber ach die Hand ist schwach und langsam und kann den Gedanken nicht nachschreiben · und auch die stumpfen sich nach und nach ab: so wie die
Lebensgeister nach und nach in allen Gliedern in allen Nerven abstumpfen bis sie sich auf den Hauptgeist verlieren · und dieser sich zuletzt auch in den unendlichen Revieren verliert."

Anläßlich des 200. Todestages von Ulrich Bräker ist soeben eine Biographie von Holger Böning erschienen, die nicht nur Leben und Werk dieses Schriftstellers aus der sozialen Unterschicht im Ancien
Régime der Schweiz beschreibt, sondern auch den zeitgeschichtlichen Hintergrund profund ausleuchtet.

Literaturhinweis

Holger Böning: Ulrich Bräker. Leben und Werk des armen Mannes aus dem Toggenburg. Orell-Füssli-Verlag, Zürich 1998, 260 Seiten.

Freitag, 11. September 1998

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