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Erinnerung an eine Chronistin der Armut in Wien

Feldmann, Else: Einfühlsame Unerbittlichkeit

Von Birgit Schwaner

„Absalon Laich machte seine tägliche Arbeit im Literaturcafé. Er saß an dem großen Tisch mit den vielen Zeitungen, wartete auf die englischen und amerikanischen Blätter, bis sie die
Herren neben ihm freigaben, und durchsuchte sie eilig. (. . .) Sie versetzten ihn in einen müden Rausch. Vom Leitartikel, der von der europäischen Krise handelte, bis zu den Reklamen: wie Damen
schöne Büsten bekommen könnten. Man sah Abbildungen von Männerköpfen, die im Augenblick in der Politik und im öffentlichen Leben der großen Städte eine Rolle spielten, neben Köpfen von Mördern und
Verbrechern, Bühnenlieblingen und das Bild einer getöteten Prostituierten; Bilder von neuen, großartigen technischen Erfindungen, einen Krebsforscher in seinem Laboratorium, die Trauerfeierlichkeiten
für den Mikado."

Ob sich in den letzten Jahrzehnten wirklich viel verändert hat? Angesichts der ersten Sätze aus Else Feldmanns erstmals 1924 in 41 Fortsetzungen in der „Arbeiter-Zeitung" erschienenem Roman
„Der Leib der Mutter" mag man zweifeln. Zu aktuell noch liest sich der kurze Abriß eines Sammelsuriums gedruckter Nachrichten · als daß man nicht versucht wäre, den „Büsten" in Gedanken
„Silikon" anzufügen, hinter die „Erfindungen" das Wort „Katastrophen" zu setzen und dem „Mikado" den Namen einer jüngst verstorbenen, prominenten Person zu geben . . .

Mühelos lassen sich auch in der Folge die Geschehnisse in's Gegenwärtige übersetzen; und auch der glücklose Held ist noch · da gekonnt und treffsicher skizziert · eine keineswegs unvertraute Figur.
Der Vertreter einer bestimmten Sorte von junger Mann, der, feinnervig und sensibel, fürs erfolgreiche Leben um die entscheidende Nuance zu wenig grob geriet. Betrachten wir ihn einmal kurz · mit den
Worten seiner zu Unrecht halb vergessenen Autorin: „Er sah auf der Straße wie ein wohlhabender Mann aus. Mittelgroß war er, schlank und schmächtig; seine Schuhe waren fein, ohne Flecken, von
tadelloser Form, sein Anzug, sein heller Überzieher, sein dunkelgrüner, weicher Filzhut, die grauen Lederhandschuhe, sein Spazierstock, alles sah sorgfältig und gediegen aus. Sein Gesicht mit den
lächelnden traurigen Augen, dem feinen Munde, den glattrasierten Wangen und dem zurückgestrichenen blonden Jünglingshaar hatte einen reinen und gütigen Ausdruck. Er war über die Mitte der Dreißig."
Wenn er so auf der zweiten Seite des Buchs aus dem Kaffeehaus tritt, kann man in ihm leicht einen Typus erkennen, der seit Ende des 19. und wohl bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts in
Wien oft anzutreffen war (bzw. ,stilisiert` wurde) · damals „Neurastheniker" genannt. Dieses Epitheton verlieh man all den ästhetisch begabten, so nervösen wie intelligenten jungen Männern zumeist
bürgerlicher, oft auch jüdischer Herkunft, die vor dem Hintergrund eines wohlhabenden Elternhauses „schöngeistig", philosophisch, künstlerisch oder journalistisch tätig waren. Ohne sie hätte es weder
ein „Wiener Feuilleton" noch die „Kaffeehausliteratur" noch überhaupt die „Wiener Moderne" gegeben.

Vom anderen, reichlich „coolen" Ende des 20. Jahrhunderts aus, könnten wir einen Mann wie Absalon Laich vielleicht als „weich", oder positiver · im Sinn des stereotypen, patriarchal bestimmten,
idealen Frauenbilds · als eher „weiblich" bezeichnen. Seine Erfinderin jedenfalls, die ihn aus der Nähe der Karpaten stammen und nach einem vierjährigen New-York-Aufenthalt in Österreich landen läßt,
stattete ihn mit der Fähigkeit zum Mitgefühl aus. Und mit der Unfähigkeit, soziale Gegensätze, Ungerechtigkeiten zu ignorieren.

Fürbitterin für Arme

Die Liberalisierung der Wirtschaft hatte einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung (weitere) Armut gebracht.

Else Feldmann, engagierte Sozialistin, Mitbegründerin der Internationalen Antikriegsvereinigung „Clarté" und in Wien bekannt „als Fürbitterin für arme Kinder, für arme Mütter, für verlorene
Existenzen" (Felix Salten), war eine, die hier hinsah · und schrieb. So wird ihr Protagonist mit den schmalen Händen bald mit dem Elend seiner Zeit konfrontiert, um nicht zu sagen, davon magisch
angezogen: Er mietet ein Zimmer in der Vorstadt, bei einem Fabrikarbeiter und seiner Familie.

Er wird Zeuge, wie seine Wirtin laufend schwanger wird und ihre Babys, durch regelmäßige Nadelstiche in den Hinterkopf, langsam tötet. Der „Leib" dieser verwahrlosten Mutter wird ihm Symbol für die
Stadt, die ihre Armen gleichgültig sterben läßt.

Laich selbst ist durch seine behutsamen und deshalb oft der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegebenen Versuche, anderen zu helfen, in Verbindung mit dem damals wie heute unsicheren Beruf eines freien
Journalisten einem abrupten Wechselbad zwischen Verelendung und der Chance auf sozialen Aufstieg ausgesetzt. Seine Verbundenheit zum Milieu der Ärmsten wird begünstigt durch seine psychische
Disposition: Einsamkeit. Durch das Gefühl, von der eigenen Familie abgelehnt zu werden, Außenseiter bleiben zu müssen. Er ist zu sanft, um sich durchsetzen · das Buch endet mit seinem Tod auf der
Gasse. Also dem Tod der Figur, die, soweit ihr möglich, auf Respekt und „Würde" auch angesichts eines materiell heruntergekommenen Daseins bestanden hatte.

Zunehmende Armut: ein Thema der Gegenwart, beklemmend eindringlich sich spiegelnd im abstrakten Glanz von Euphemismen wie „Globalisierung", „Zweidrittelgesellschaft", „Sozialabbau", „Liberalisierung"
und ähnliche elegante Wendungen. Was es konkret heißen kann, läßt sich durchaus in den Texten Else Feldmanns nachlesen, die durch ihre prägnanten, düster-realistischen Schilderungen in Erinnerung
bleiben: „Schon im Hausflur verdüsterte sich meine Seele. Die bläulich geweißten Wände, welche überdies schmutzig waren, die engen Spiraltreppen, die finsteren Gänge, die sich noch durch das
Schuhwerk so furchtbar kalt anfühlten; die Fenster, die in den Lichthof gingen und in den Vorhof des nächsten Hauses; die Öllämpchen, die nicht leuchteten, nur glimmten, der trostlos eisigkalte
Kellerhauch, der im Stiegenhaus lag, und ein Geruch von verdorbenem Fett, schmutzigen, dunstigen Kleidern, ein schrilles Getön von Kindergeheul und rohen Scheltworten, dumpfe Schläge von
Männerfäusten und das ersterbende Gewinsel eines alten, räudigen Hundes · dies alles getaucht in eine Flut von moderiger Kühle. Tür an Tür nisteten Menschen."

Herbert Exenberger zitierte 1990 im Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands diese Passage aus dem Roman „Löwenzahn" als autobiographische Aufzeichnung („Auf den
Spuren von Else Feldmann: eine Wiener Schriftstellerin · Opfer des Holocaust"). Die Autorin und freie Journalistin dürfte zeit ihres Lebens materieller Not ausgesetzt gewesen sein.

Eisenfedern für Korsette

Allerdings sind die Informationen über ihr Leben sehr lückenhaft: Geboren am 25. Februar 1884 in Wien, war Else Feldmann das zweitälteste von fünf Kindern des als „Handelsmann, Kassier, Kaufmann
oder Agent" tätigen Ignatz Feldmann und seiner Frau Fanny. Während ihrer Kindheit wechselte die Familie mehrmals die Wohnungen im 2. und 20. Bezirk (der sog. „Mazzesinsel"). Else Feldmann war
Armenschülerin, besuchte als Sechzehnjährige kurz eine Schule zur Lehrerinnenausbildung · bis der Vater seine Arbeit verlor und sie in eine Fabrik ging, wo Eisenfedern für Korsette erzeugt wurden. Ab
1911 ist sie im Meldearchiv der Stadt Wien registriert: „Schriftstellerin, mosaisch, ledig." Die Artikel, die sie ab etwa dieser Zeit für verschiedenste Zeitungen verfaßte, trugen Titel wie:
„Vorfrühling im Wiener Armenbezirk", oder „Man gewöhnt sich. Gespräch mit einem Gefängnisdirektor",oder „Arbeiterjugend und Alkohol". Es sind vielfach Sozialreportagen, die sie neben
Romanen, Erzählungen, Theaterstücken (verschollen), Gedichten (verschollen), Feuilletons und Artikeln über von ihr geschätzte Künstler (z. B. Heinrich Zille, Käthe Kollwitz) schreibt. Sie
recherchiert, ab 1923 als ständige Mitarbeiterin der „Arbeiter-Zeitung", in Wärmestuben, Gefängnissen, Spitälern, in dunklen Hinterhöfen und schmutzigen Cafés · und recherchiert vielleicht auch
immer etwas ihrer Kindheit nach. In der Hoffnung, als Schriftstellerin und „Chronistin der Armut", aufzuzeigen und aufzuwecken? Dazu der Maler Carry Hauser, der 1924 „Der Leib der Mutter"
illustrierte, in einem Katalogtext aus dem Jahr 1982: „Vor etwa sechzig jahren, als ich einen fortsetzungsroman in der damaligen AZ zu illustrieren hatte, der in einem ärmlichen und
niedergedrückten milieu spielt, sagte mir ein arbeiter, er möge nicht die schilderung einer welt, in der er täglich und nächtlich zu leiden habe. Er erwarte von der kunst etwas, das ihn freier,
froher macht · und seien es bloß schöne formen und farben ..." Den Vorwurf, daß ihre Beschreibungen des proletarischen Milieus zu drastisch seien, zu wenig geschönt, wird Else Feldmann mehr als
einmal gehört haben. Konsequent antwortet sie darauf 1925 in einem Brief an Otto Koenig, Volksbildner und Kulturredakteur der „AZ": „. . . ein Arbeiterpublikum erlebt ja täglich selbst die
krassesten und fürchterlichsten Dinge, so kraß konnte nicht einmal Zola sie schildern, als sie den Tatsachen entsprechen, und diese Dinge ernsthaft behandelt zu sehen, sollten sie abschrecken · ich
glaube, das müßten dann meist solche sein, die insgeheim noch Betschwestern sind, und die sollten erst recht aufgerüttelt werden. Ich bin unbedingt für das Marx-Wort: das Volk muß vor sich selbst
erschrecken!"

Wenn Sentimentalität eine Stimmung ist, die auf diffuser, verdrängter Trauer beruht · dann mögen Sätze wie diese uns heute dazu veranlassen: Wir, wahrscheinlich, können nicht mehr so recht glauben,
daß Erschrecken zum Handeln motiviert. Zu sehr gehört das Spiel mit angsterregenden Effekten zu Medienwelt und Unterhaltungsindustrie. Gerade, weil in bezug auf die Arbeiten von Else Feldmann
keinesfalls von Sentimentalität geredet werden kann, sind sie nicht veraltet. Es ist ihre einfühlsame Unerbittlichkeit, die sie auch in Gegensatz zu vielen der naturalistischen und
expressionistischen Texte, zumeist männlicher Autoren, stellt · die oft das Leben in Armut nicht minder kannten, es aber trotzdem eher dämonisierten als beschrieben. Was besonders galt, wo es um
Frauen ging, und um einen wesentlichen Frauentyp der damaligen Literatur: die Prostituierte. Wie Absalon Laich eine gescheiterte Variante des Kaffeehausliteraten ist und als Figur die Nachtseite des
Autoren- oder Reporterlebens verkörpert, so ist auch Martha aus Else Feldmanns letztem Roman „Martha und Antonia" ein authentischer Gegenentwurf zu den Massen programmatischer Huren, die als
Inbegriff des Verführerischen, wo nicht Bösen, männlichen Literatenhirnen entsprossen sind. Martha versucht, nach dem Tod der Mutter die Familie mitzuernähren (wofür sie als Hausmädchen oder
Fabrikarbeiterin zuwenig verdient hätte) · was ihr gelingt um den Preis gesellschaftlicher und familiärer Verachtung.

Das Ende

„Martha und Antonia" ist bis jetzt Fragment. Vor dem Abdruck der letzten Folge verbot die Dollfuß-Regierung die sozialdemokratische Partei und mit ihr u. a. die „Arbeiter-Zeitung". Man
datierte den 12. Februar 1934, Beginn des Arbeiteraufstands und dreitägigen Bürgerkriegs, dessen Ende die Konstituierung des Austrofaschismus brachte. Else Feldmann verlor nicht nur ihre wichtigste
Publikationsmöglichkeit. Fast sämtliche Institutionen, in deren Rahmen sie sich sozial und sozialistisch engagiert hatte, waren verboten. Unter ihnen die im Jahr zuvor gegründete „Vereinigung
sozialistischer Schriftsteller" 1935 starb ihr Vater. Im März 1938 wurde ihr und ihrer Mutter die kleine Wohnung im (mittlerweile ansprechend renovierten) „Toeplerhof", einem Gemeindebau in der
Währinger Straße gekündigt. Sie konnte den Mietzins nicht mehr zahlen · doch im städtischen Vermerk fehlt keineswegs der Zusatz: „Mieterin ist Volljüdin." Im gleichen Jahr wird „Der Leib der
Mutter" auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" gesetzt. Es dauert keine fünf Jahre, bis die Familie ausgelöscht ist: 1940 stirbt Else Feldmanns Mutter im Altersheim der
Israelitischen Kultusgemeinde. Ihr Bruder Richard Heinrich wird im Dezember 1941 nach Riga „verschickt", die geisteskranke Schwester, die in der Anstalt Steinhof lebt, wird Opfer des
nationalsozialistischen Euthanasieprogramms.

Else Feldmann, die, mittellos, seit 1938 fast alle sechs Monate die Wohnung wechseln mußte, wird 1942 von der Gestapo geholt und ins Vernichtungslager Sobibor abtransportiert, dort ermordet. Seit
Herbert Exenbergers Spurensuche sind drei ihrer Romane neu erschienen, zuletzt, 1997, „Martha und Antonia". Das Nachwort hierzu stellt einen der wenigen neueren Texte zu Else Feldmann vor (und
eine der spärlichen Informationsquellen dieses Artikels). Unter anderem schreiben dort die Herausgeber Adolf Opel und Marino Valdez, daß sich in den letzten Jahren zunehmend Menschen melden, die die
Schriftstellerin gekannt haben. Und „Zellengenossinnen aus der Gestapo-Haft, die über die letzten Stationen ihres Lebens- und Leidensweges berichten können, melden sich zu Wort". Vor vier Jahren
wurde eine „Verkehrsfläche" nach ihr benannt, im 2. Bezirk: „Else-Feldmann-Gasse."

Wie sie wohl heute über Wien geschrieben hätte?

Erhältliche Bücher von Else Feldmann:

Löwenzahn. Wien 1993, Verlag für Gesellschaftskritk (heute: Döcker-Verlag).

Der Leib der Mutter. Wien 1993, Wiener Frauenverlag (heute: Milena-Verlag).

Martha und Antonia. Wien 1997, Milena-Verlag.

Freitag, 28. August 1998

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