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Ein Gespräch mit dem amerikanisch-jüdischen Schriftsteller

Potok, Chaim: "Menschen wählen mit den Füßen"

Von Evelyn Adunka

Der amerikanisch-jüdische Schriftsteller Chaim Potok ist der Verfasser von sieben vielfach preisgekrönten und neu aufgelegten Romanen, von denen drei ins Deutsche übersetzt wurden ("Mein
Name ist Ascher Lev" 1987, "Die Erwählten" 1992, der auch verfilmt wurde, und zuletzt "Novembernächte", siehe Besprechung unten). 1978 veröffentlichte er eine umfangreiche Geschichte der Juden mit
dem Titel "Wanderings".

Potok wuchs in Brooklyn im orthodox-jüdischen Milieu auf und studierte am Jewish Theological Seminary in New York City, dem Rabbinerseminar der nichtorthodoxen konservativen jüdischen Bewegung, übte
den Rabbinerberuf aber nie aus. Er studierte danach Philosophie und englische Literatur an der University of Pennsylvania und arbeitete von 1965 bis 1974 als Editor des großen und traditionsreichen,
1888 gegründeten Verlags "The Jewish Publication Society". Von 1955 bis 1957 nahm er als army chaplain am Koreakrieg teil.

Potoks Romane spielen alle im amerikanisch-jüdischen Milieu und beschreiben den Konflikt zwischen den traditionellen jüdischen Werten und den Herausforderungen und Verlockungen der Moderne. Wie Saul
Bellow, Cynthia Ozick, Philip Roth, Herman Wouk und der bereits verstorbene Bernard Malamud, so unterschiedlich deren Rezeption des Judentums auch ist, gehört Potok zu den bedeutendsten Autoren der
amerikanisch-jüdischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die "Wiener Zeitung" traf Chaim Potok anläßlich einer Präsentation und Lesung seines Romans "Novembernächte" im Wiener Jüdischen Museum zu einem Gespräch.

Wiener Zeitung: In einigen Ihrer Bücher, vor allem in "Davita's Harp" und "In the Beginning" beschreiben Sie Menschen, die ihre Jugend in Wien verbracht haben. Sind diese nach realen Personen aus
Ihrem Bekanntenkreis geformt? Haben Sie eine geistige Beziehung zu Wien und zu seinem kulturellen jüdischen Erbe?

Chaim Potok: Ich kannte Menschen, die aus Wien kamen oder dort studierten, als ich am Jewish Theological Seminary studierte und als ich von 1973 bis 1977 in Jerusalem lebte, zum Beispiel den
Historiker Salo W. Baron, den israelischen Staatspräsidenten Salman Schasar oder die Literaturwissenschafter Shalom Spiegel und Gershon Shaked. Ich war nur einmal zuvor zwei Tage lang in Wien, vor
ungefähr neun Jahren. Meine Eindrücke von Wien sind daher eher impressionistisch. Aber aufgrund der Begegnungen mit den genannten Personen hatte ich mein ganzes Leben lang Verbindungen zu Wien. Aber
wovon wir sprechen, ist das Wien vor dem Holocaust. Außerdem gebe ich an der Unversity of Pennsylvania einen allgemeinen Kurs über Sigmund Freud.

W. Z.: Welchen Eindruck erhielten Sie aus allen diesen Begegnungen von dem kulturellen Erbe des mitteleuropäischen Judentums?

Potok: Es war sehr sophisticated, sehr wienerisch und jüdisch auf eine ganz spezielle Weise, nämlich sehr offen, tolerant, elegant und high class. Es war eine sehr gute Brücke zwischen
den osteuropäischen Juden, die sehr verschlossen gegenüber der modernen Welt waren, und den westeuropäischen Juden, die ihr gegenüber so aufgeschlossen waren, daß sie darüber fast ihr Judentum
verloren hätten. Ich hatte den Eindruck, daß das Judentum hier beides zugleich versuchte, jüdisch zu bleiben und gleichzeitig offen zu sein.

W. Z.: Am Ende von "Wanderings" schreiben Sie: "Most of the gentle Jews are dead . . . The gas chambers and ovens have brought a new kind of Jew into the world. Even the Hasidim are no longer
gentle." Damit formulierten Sie etwas, das ich immer fühlte und das speziell an der Veränderung der Orthodoxie sehr gut beobachtbar ist. Wie sehr spürten Sie das in den Jahren nach 1945 in den USA?

Potok: Ich erlebte diese Veränderungen, ich sah sie, während ich die Yeshiva besuchte. Zu den Menschen, die den Holocaust überlebten, konnte man nicht sehr leicht sprechen. Entweder, weil
sie fühlten, daß sie aus einem Grund überlebten, und dieser Grund war, unter allen Umständen jüdisch zu bleiben, und daß sie daher der säkularen Welt, die sie, wie sie glaubten, getötet hatte, den
Rücken kehrten. Oder es waren jene Juden, die mehr daran interessiert waren, die Welt der Torah als jene der Wissenschaften wiederaufzubauen. Mein Gefühl ist auch, daß jene, die überlebt haben, die
Harten waren. Wenn sie nicht hart waren zu Beginn, waren sie es zumindest am Ende, und fast alle der Sanftmütigen starben. Deshalb haben wir heute die Extremisten. Und weil diese mitteleuropäische
Brücke zerstört wurde, haben wir heute niemanden, der Yiddishkeit hat und der diese Extreme ausgleicht.

W. Z.: Haben Sie damals eine derartige Renaissance des orthodoxen Judentums vorausgesehen?

Potok: Es gab vergleichbare Katastrophen in der jüdischen Geschichte und es gab keinen Grund, nicht zu glauben, daß diese Menschen nicht zumindest versuchen würden, zurückzukehren. Was sonst
hätten sie tun sollen? Zum Christentum übertreten? Für sie bedeutet die Rückkehr zum orthodoxen Judentum, daß Hitler verloren hatte. Und vielleicht haben sie recht. Also gehen sie zurück mit all
ihrer Kraft und Hartnäckigkeit. Und weil die amerikanischen Juden ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen wegen des Holocausts hatten, unterstützten sie sie und ließen sie alles machen. Und jetzt
sind sie sehr einflußreich, vor allem in Israel, wegen des dortigen politischen Systems. Sie haben zwar keinen Einfluß auf die jüdische Welt im allgemeinen und die säkulare jüdische Gesellschaft,
aber sie benützen in Israel ihre Macht sehr geschickt und innerhalb der Gesetze.

W. Z.: Aber das vernichtete osteuropäische Judentum war nicht nur orthodox. Es gab auch eine sehr reiche säkulare und jiddische Kultur, die zum Teil in den USA fortgesetzt wurde. Und auch diese
gehört fast nur mehr der Vergangenheit an. Oder ist etwas davon geblieben?

Potok: Nein, es ist vergangen. Es war eine Schöpfung von Europa in den letzten 100 Jahren. Wäre es geblieben, wäre daraus vielleicht eine außerordentlich reiche Antwort auf die moderne Kultur
entstanden. Aber es wurde zerstört. Und in den USA konnte es nicht so fortgesetzt werden, denn jene, die auswanderten, waren nicht die gebildeten Intellektuellen. Die erste Generation war damit
beschäftigt, ihr Leben aufzubauen. Ihre Kinder und Enkel bauen jetzt die jüdische Gemeinde auf, aber es ist ein amerikanisches Judentum, das hier entsteht. Was neu ist, ist die Dringlichkeit, das
Gefühl, daß, wenn wir es nicht jetzt versuchen, es zu spät sein wird. Zum Teil ist auch die israelische Rechte dafür verantwortlich, die die amerikanischen Juden dazu veranlaßte, ihre Beziehung zu
Israel und ihre eigene Zukunft zu überdenken.

W. Z.: Sie schrieben zuletzt über die Geschichte des russischen Judentums. Glauben Sie aus heutiger Sicht, daß die Juden der ehemaligen Sowjetunion sich erholen werden von den Wunden, die ihnen
der Kommunismus und Stalinismus geschlagen hat?

Potok: Das ist heute eine der größten Fragen für das jüdische Volk. Die Frage ist, ob wir Geld, Energie und Personal in diese Gemeinden investieren sollen, wie es Ronald S. Lauder tut, oder man es
nur temporär versucht, mit der Perspektive, daß langfristig alle auswandern. Mein Gefühl ist, daß die Menschen selbst über ihr Schicksal entscheiden werden. Die Menschen wählen mit ihren Füßen. Wenn
sie entscheiden, daß sie bleiben wollen, dann glaube ich, wird das Judentum in der Welt ihnen helfen. Wir haben nicht das Recht und können und sollen ihnen nicht sagen, was sie tun sollen. Sehr
interessant ist auch, was zur Zeit in Deutschland geschieht.

W. Z.: Sie waren dort gerade auf einer Lesereise?

Potok: Ja, und mein Gefühl ist, daß die deutsche jüdische Gemeinde sehr ambivalent eingestellt ist. Es gibt dort ein sehr schnelles Wachstum. Aber mein Eindruck ist auch, daß die Menschen hier
nicht wissen, wie bedeutend das Wiener Judentum einst war, und daß sie in Deutschland ebenfalls keine Ahnung haben von der Größe des einstigen deutschen Judentums. Das heißt, alles was dort
geschieht, beginnt von neuem. Meine erste Lesereise in Deutschland war vor drei oder vier Jahren und sogar in dieser kurzen Zeit hat sich vieles zum Besseren verändert. Wenn es so weitergeht, wird
das Judentum erreichen, was wir "culture mass" nennen, es wird von sich aus kreativ werden. Die ersten Anzeichen dafür sind vielleicht die jüdischen Schriftsteller.

Freitag, 17. Juli 1998

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