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Die Angst in Lyrik umsetzen

Sexton, Anne: Dichterin, Briefeschreiberin, Leidende

Von Lisa Grotz

Anders als Sylvia Plath, die nach ihrer Selbsttötung 1963 von anderen zur Legende stilisiert wurde, war die 1928 aus Newton, Massachusetts, gebürtige Lyrikerin Anne Sexton bereits zu Lebzeiten ein Modell ihrer selbst. An ihren Dichterkollegen Snodgrass schreibt die um Anerkennung ringende Autorin: "Bin ich meine Mutter oder meine Tochter? Ich bin so wechselhaft . . . Neue Götter sind nicht in Sicht. Also muß ich mich zu mir selbst bekehren. Oder zu Christus oder zu was auch immer."

Von ihrer erstgeborenen Tochter Linda wird Sexton als eine sehr dramatische Frau, als Schauspielerin, publicitysüchtig und in geschäftlichen Dingen klug, beschrieben. Die allzu harte Abrechnung eines in jungen Jahren vernachlässigten Kindes, das sich vom mütterlichen Vermächtnis überfordert fühlt? Dem Vermächtnis einer reichen Erbschaft und eines sehr definitiven, aber doch radikal ehrlichen Geständnisses: "Du bist meine Verlängerung. Du bist mein Gebet. Du bist mein Glaube an Gott. Im Guten oder im Bösen wirst Du mich beerben."

Man weiß vom Lebensdrama der Kinder hochbegabter Eltern. Es soll hier - im Gegensatz zur Herausgeberin der Anne-Sexton-Werkausgabe, Elisabeth Bronfen - nicht bewertet werden. Denn Sexton war nicht nur die große, schöne, extravagante Dichterin. Sie entwickelte sich zusehends aufgrund ihres außerordentlichen Talents und ihres Widerspruchsgeistes zur gesellschaftlichen Außenseiterin, zu einer Frau, der Respekt und Mitgefühl gebühren, eine Anerkennung, die Bronfen ihr - aus welchen Gründen auch immer - vorenthält.

Anders als Sylvia Plath, die bis zu ihrem Lebensende, ihrem öffentlichen Auftreten nach, den Prototypus des amerikanischen Frauenideals verkörperte, verweigerte sich Anne Sexton der lebenslangen Rolle einer perfektionierten Hausfrau, der Rolle eines - um mit Plath zu sprechen - in die Nützlichkeit gejagten Wesens.

Vorzeitig brach sie ihre Schulausbildung ab, heiratete 20jährig heimlich den mittellosen Medizinstudenten Kayo Sexton, verdingte sich als Buchhändlerin und Fotomodell. Ihr anfängliches, ausschließliches Mutter- und Hausfrauendasein war für die Dichterin eine Kapitulation vor einem bürgerlichen Konformismus, den sie in ihrem späteren Leben vor allem durch das Schreiben von Gedichten und Briefen, aber auch durch Auftritte in der von ihr gegründeten Band "Anne Sexton and Her Kind" zu kompensieren versuchte.

Als sich Sexton nach der Geburt Lindas wegen Panikzuständen in psychiatrische Behandlung begab - ihr Ehemann hatte sich zu jenem Zeitpunkt freiwillig in den Koreakrieg einberufen lassen - wurde dieser Schritt zum Wendepunkt in ihrem Leben: Ermutigt von dem sie behandelnden Arzt, Gedichte zu schreiben, lernte sie im Verlauf langjähriger Psychotherapie der Sprache ihres Unbewußten Ausdruck zu verleihen. Auch wenn sie sich dieser therapeutischen Hilfestellung für ihr Schreiben stets verpflichtet fühlte, wenn sie in akuten Krisensituationen die Nervenheilanstalt zum Fluchtort wählte, so kämpfte sie doch zeit ihres Lebens gegen ihre Stigmatisierung als pathologische Dichterin. Mit der Ironie der Verzweiflung und ihrem eigensinnig-hintergründigen Humor wendet sie sich in einem ihrer zahlreichen Briefe an Snodgrass: "Herr Jesus, danke für die Psychiatrie." Gleichzeitig äußerte sie sich skeptisch über die Psychoanalyse: "Die Analyse geht schlecht voran. Ich glaube, der Kerl denkt, ich sei psychotisch . . . Und übrigens erwähne das keinem Menschen gegenüber, bei den meisten ziehe ich es vor, daß sie mich für normal halten . . . Und sogar bei Dir, mein Lieber; ich sage dazu nichts mehr, denn das alles ist sehr entmutigend."

Anders als Sylvia Plath, die von Kindheit an von einer ehrgeizigen Mutter zum Schreiben angehalten wurde, bekannte Anne Sexton, die Dichtung habe sie an der Hand genommen und aus dem Wahnsinn herausgeführt. Dennoch war ihr Weg hin zum Terrain öffentlicher Selbstbehauptung ein von Schuldgefühlen gepeinigter: Ihre eigene, nicht erfolglos dichtende Mutter hatte die ersten Schreibversuche ihrer jüngsten Tochter stets als kläglich epigonal bezeichnet. Um so begreiflicher erscheint Sextons Ringen um dichterische Anerkennung, das sie, nach und nach, zu einer einzigartigen, unvergleichlich originellen Stimme in der englischsprachigen Literatur werden ließ. - Sextons Mutter mußte erst an Krebs sterben und im Bewußtsein ihres nahenden Todes ihrer Tochter die Schuld an ihrer Krankheit zuweisen, bevor sich Anne, im Zeichen eines solchen, intriganten Vorwurfs, als eine der erfolgreichsten und bestbezahlten Dichterinnen Amerikas behaupten konnte. Ihre wiederholten Selbstmordversuche, die 1974 endgültig zum Freitod führten, jahrzehntelange Depressionen und eine exzessive Selbstverschwendung waren nicht zuletzt der Tribut, den sie der mütterlichen Hybris zollte. Angst in Lyrik umzusetzen war die Triebfeder von Anne Sextons 18jähriger Schriftstellerkarriere. Und es gelang ihr nur mühsam, unterbrochen von Schüben heftiger Verzweiflung, den Schein zu wahren, den Anschein einer starken Frau, die mit Hilfe einer eigenständigen Sprache zu einer unangreifbaren Identität gelangt.

Elisabeth Bronfen, Anglistik-Professorin in Zürich sowie Herausgeberin eines Buches über "Tod, Weiblichkeit und Ästhetik", hat sich der Lebensgeschichte Anne Sextons mit analytisch unterkühlter Arroganz und ohne Verständnis für die Fragilität ihrer Person bemächtigt. Hart, ja selbstgerecht, geht sie mit den Schwächen ihres angemaßten Schützlings ins Gericht, übergeht Sextons Suchtproblematik und mißdeutet ihre Psychiatrieerfahrung als theatralische Selbstinszenierung. Wie soll der unvoreingenommene Leser die unterschwellige Polemik im Vorwort der Herausgeberin verstehen? Neidet die Professorin der Dichterin die Kraft ihrer Poesie, ihre Schönheit, ihre Publizität? - Anders als in Bronfens Vorwort zu Sextons "Liebesgedichten" und zu "Verwandlungen" , dem ersten Band der Sexton-Werkausgabe, aus denen die Herausgeberin die frühkindlichen Traumata herauszulesen vermag, begegnet Bronfen den persönlichen und privaten Offenbarungen der Dichterin in Briefform als eine Fürsprecherin von Sextons Hinterbliebenen, die sie zu Opfern stilisiert.

Warum ist es nach wie vor ein Tabu, die Bilder einer Dichterin für sich sprechen zu lassen? Wem ist damit geholfen, Bilder der Hoffnung zu desillusionieren? Bei Sexton heißt es: "Wenn ich rats (Ratten) schreibe und entdecke, daß rats rückwärts gelesen star (Stern) meint und wenn erstaunlicherweise star wunderbar und gelungen ist, weil ich es in rats gefunden habe, ist dann star nicht wahr?"

Gewiß verweist ein solches Palindrom, wie Bronfen betont, auf die Vorstellung Sextons, ihr Selbst sei Schauplatz eines Wechselspiels zwischen ihrem kranken, privaten Ich und dessen Verwandlung in ein prächtiges, auf öffentlichen Erfolg und persönliches Glück gerichtetes lyrisches Ich: Sextons Erfolg war das gefährdete Gegenstück zu einer psychischen Störung, für die es keine Diagnose gab und angeblich keine Heilung. Doch widerspricht eine solche, der nackten Angst entsprungene Idealvorstellung der Integrität der Dichterin?

Es sei dahin gestellt, ob Sextons "Heilung" anders verlaufen wäre, hätte ihre Liebesbeziehung zu einem ihrer Psychiater nicht zu einer intensiven Irritation ihres Familienlebens geführt, wie Linda Sexton später behaupten sollte. In ihren Briefen an Snodgrass, den ihr liebsten Gesprächspartner und vertrautesten Dichterfreund, fand die überforderte Mutter zweier Töchter nie ein hartes Wort gegenüber ihrem Ehemann. Sie fühlte sich jedoch alleingelassen von Kayo als nüchternem Geschäftsmann und Handlungsreisenden und zeigte sich befremdet von seiner Vorliebe für die Jagd: "Er tötet zu gern. Auch Gott, ich wünschte, er täte das nicht. Ich wünschte ihn mir sensibler, aber Menschen wünschen sich ja immer etwas von Menschen. Sei anders!"

Anders als Sylvia Plath, die Anne Sexton aus einem Robert-Lowell-Lyrik-Seminar kannte, glaubte Sexton den Grund ihrer als psychotisch diagnostizierten Schübe zu kennen. Mit manischer Rasanz suchte sie nach Bildern für den neurotischen Nährboden ihrer Biographie, die kein Geheimnis aus ihrem Inzesttrauma machten. Das früh entwürdigte Kind mußte kapitulieren vor den zerstörerischen Kräften eines väterlichen Mißbrauchs. Nach der Veröffentlichung von "The Death Notebooks" , den "Todesnotizen" und ihrem im Deutschen noch ausstehenden Gedichtband "The Awful Rowing Toward God" ("Das schreckliche Rudern hin zu Gott") , nahm sich die tabletten- und alkoholabhängige Dichterin 1974 das Leben, nachdem sie zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, darunter auch den Pulitzer-Preis, erhalten hatte.

Daß ihre Texte so lange unübersetzt blieben und nun - leider oft allzu dürftig - von Silvia Morawetz ins Deutsche übertragen wurden, dürfte mit der gesellschaftlichen Thematisierung des Inzests zu tun haben, als dessen eindeutiges Opfer Sexton sich verstand. Um so ärgerlicher ist die nachlässige Übersetzung. Deutlich wird diese vor allem in Sextons Märchendeutungen, die - von der Dichterin immer wieder grandios gegen den patriarchalischen Strich gebürstet -, im Deutschen viel zu gezähmt in ihrer Metaphorik wiedergegeben werden. So wird die zu einer selbsterklärten Schönheit stilisierte Stiefmutter in Sextons "Schneewittchen"-Interpretation bei Morawetz zu einer Frau, die auf ihre Art auch eine Art Schönheit verkörpert und aus der Textpassage eines Liebesgedichtes, in dem es heißt "on the eve that great men call for death" wird der "Abend, wo große Männer nach dem Tod verlangen."

Der Wunsch, den Vater sterben zu lassen, indem sie ihn lächerlich macht und gleichzeitig immer wieder seine Abhängigkeit von der Übermacht des Weiblichen betont, zeichnet viele von Sextons Texten aus. Die Frau als Gebärmaschine wider Willen, die mörderische Absichten gegen ihre Vereinnehmbarkeit als Lustobjekt hegt, die schmerzhafte, durch nichts wieder gut zu machende Zerstörung des eigenen mütterlichen Eros aufgrund der Inzesterfahrung, macht Anne Sexton zu einer Frau, die redet und sich mit Reimen reinigt. So heißt es in "Iron Hans":

"Take a woman talking,/ purging herself with rhymes,/ drumming words out like a typewriter,/ planting words in you like grass seed./ - You'll move off."

"Nimm eine Frau die redet/ und sich mit Reimen reinigt/ die Wörter hinaustrommelt wie eine Schreibmaschine/ und Wörter in dich einpflanzt wie Grassamen./ Du wirst dich abwenden." (Deutsch von Lisa Grotz)

Die Prophezeiung, angewidert verlassen zu werden, zieht sich als ernüchternde Gewißheit durch den gesamten Text. Die Verzweiflung, daß der sogenannte Normale das sogenannte Verrückte nicht zu ertragen vermag, mündet in "Iron Hans" in die noch ernüchterndere Absage an die Möglichkeiten der Dichtkunst, sich selbst zu befreien und widerspricht der etablierten Behauptung vom therapeutischen Nutzen des Schreibens.

Das Eingeständnis des Eisenhans, eine erlösungsbedürftige Kreatur zu sein, bestätigt dies: "I was a professional,/ but you have saved me/ from the awful babble/ of that calling." ("Ich war ein Profi, aber Du hast mich errettet von dem schrecklichen Gestammel dieser Berufung.")

Die Befreiung von dem schrecklichen Gestammel ihrer Berufung fand Anne Sexton im selbst gewählten Tod, nach den Torturen von Elektroschockbehandlungen, süchtig geworden nach Medikamenten und Alkohol, ausgeliefert an eine mit bürgerlichen Ideologien befrachtete Psychotherapie. Daß ihre therapeutische Behandlung auf Anpassung hin ausgerichtet war und letztlich das Kapital ihrer grandiosen Fantasie boykottierte, war ihr ebenso bewußt wie die Tatsache, daß sie von den Mitgliedern ihrer Familie nur dann als Dichterin anerkannt werden würde, wenn es ihr gelingen sollte, sich mit barer Münze zu behaupten: "Ich muß das Geld hochhalten und sagen können: seht ihr. Dies muß für das Schreiben sein, und ich muß Zeit dafür haben. Dann kann ich einen Babysitter anrufen und mich in Frieden an meinen Schreibtisch setzen."

Was der Dichterin bleibt, ist der Gongschlag der Zeit, der über die "dünnen Stimmchen" der großväterlichen Uhr - einem von Anne Sexton geliebten Hochzeitsgeschenk - den guten Erinnerungen eine Absage erteilt.

Als "Braut ohne Bräutigam" , wie sich die von Kayo geschiedene Dichterin schließlich sah, dem politischen Zeitgeschehen völlig entrückt, weltabgewandt auf die eigenen inneren Stimmen zurückgeworfen, bis zu ihrem Tode erfolgreich ringend um Anerkennung als Dichterin, weiß Sexton doch in aller Klarheit, daß ihre Zähigkeit vom Schreiben aufgebraucht wurde und daß sie auf diesem Weg des Sich-selbst-Verzehrens in vollkommener Vereinsamung sterben wird: Ohne ein Wort des Abschieds, das die gängige Rede vom Freitod rechtfertigen könnte.

Dienstag, 19. Mai 1998

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