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Vor zwanzig Jahren starb der Autor in Montreux

Nabokov, Vladimir:Sex, Schach und andere Obsessionen

Von Gabriele Vasak

Er verehrte Marcel Proust, James Joyce, Jorge Luis Borges und Alain Robbe-Grillet und belächelte Fjodor Dostojewski, Iwan Sergejewitsch Turgenjew, Honoré de Balzac und Joseph Conrad. Er schrieb über profane Begierden und verpackte verbotene Liebesgeschichten in formal komplizierte Netzwerke voller literarischer Anspielungen. Er war ein begeisterter Schmetterlingssammler, ein beseelter Literaturwissenschafter und ein genialer Darsteller menschlicher Abgründe. Vladimir Nabokov war keiner, den man leicht auf einen Nenner bringen könnte, keiner, der in eine Schublade paßt, keiner, dessen Werk eindeutig eingeordnet und festgemacht werden kann. Er liebte keine Seelenergießungen, entzog sich, ein Meister des Vexierspiels, allen Festlegungen und Rubrizierungen - und ist doch in jeder seiner Konstruktionen, in jedem seiner Sätze ganz unverkennbar gegenwärtig. "Seine Zu- und Abneigungen waren groß, . . . einer Avantgarde gehörte er nie an; dafür hat er viele überlebt", schrieb Dieter E. Zimmer in seinem 1977 in der "ZEIT" erschienenen Nachruf auf einen der Großen dieses Jahrhunderts.


In der Tat entzieht sich selbst das unstete Leben des Vladimir Nabokov einer eindeutigen Einordnung. Geboren wurde er am 22. April 1899 in St. Petersburg als erstes von fünf Kindern einer großbürgerlichen Juristenfamilie, in der Liberalismus, westliche Orientierung und Vielseitigkeit dominierende Werte waren. Der Vater - Mitglied der Duma und ausgeprägt anglophil - bestand darauf, daß seine Kinder von mehreren Hauslehrern unterrichtet wurden, damit sie verschiedene Rassen, Nationen und Sprachen kennenlernten. So konnte Vladimir Nabokov im Alter von sechs Jahren Englisch lesen und schreiben, nicht aber Russisch. Seine Liebe zur Sprache entwickelte sich früh - ebenso wie die von der Mutter geförderte Passion für die Natur, vor allem die Entomologie. Mit 17 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband, und im selben Jahr begann das Leben für den jungen Nabokov unstet zu werden. Als Lenin Ende 1916 die Macht übernahm, schickte der Vater die ganze Familie auf die Krim. Bis auf ein paar Juwelen, die für künftige Notfälle sorgfältig versteckt wurden, waren sie Nabokov zufolge "vollkommen ruiniert".


Im Mai 1919 brach die Familie dann nach Berlin auf, um im Westen ein Leben im Exil zu führen. Der junge Nabokov ging nach Cambridge, um am Trinity College Slawistik, Romanistik und Entomologie zu studieren. Seiner Autobiographie zufolge lebte er in diesen Jahren in einer selbstgeschaffenen "artifiziellen" russischen Umgebung, pflegte mit anderen Menschen nur sehr zufällige Kontakte und hatte in dem "Fünfteljahrhundert, das ich in Westeuropa zubrachte, unter den wenigen deutschen und französischen Bekannten alles in allem nicht mehr als zwei gute Freunde."


Als der Vater im Jahr 1922 in Berlin einem Attentat zum Opfer fiel, bedeutete das den Zerfall der Familie. Die Mutter ging mit den drei jüngeren Kindern nach Prag, der Zweitälteste nach Paris und Vladimir blieb in Berlin, wohin er nach seinem Abschluß in Cambridge zurückgekehrt war. Seinen Unterhalt verdiente er sich mit Englischunterricht für deutsche Jugendliche und Geschäftsleute, mit Tennisstunden und Auftritten in deutschen Filmen. In dieser Zeit entstand der Großteil seiner Gedichte - Werke, die er selbst später als "unreif" bezeichnete. 1925 heiratete Nabokov Vera Jewsejewna Slonim und veröffentlichte seinen ersten Roman, "Maschenka", in der Folge acht weitere, geschrieben in russischer Sprache und veröffentlicht unter dem Pseudonym Sirin.


Illusionen Schon in dem Roman "Lushins Verteidigung" (1930) zeigt sich eines der Hauptmerkmale Nabokovscher Prosa - seine Vorliebe für Charaktere, die Illusionen und Obsessionen verfallen. Wie der Autor selbst betont, reimt Lushins Name auf "Illusion". Das Schachwunderkind entwickelt eine Obsession für das Königsspiel und gewinnt erst damit Sinn und Orientierung im Leben, doch emotionale Verödung und geistiger Zusammenbruch sind die Folge. Psy~chiater verordnen Schach-Abstinenz, doch Lushin spielt im Geist weiter und sieht am Ende die ganze Welt als riesiges Schachbrett, auf dem er gegen einen mysteriösen Opponenten spielt.


"Lushins Verteidigung" und die weiteren auf russisch erschienenen Romane, die in dieser Zeit entstanden, brachten Nabokov erste Anerkennung und Etablierung in Fachkreisen, sein Leben indes ging unstet weiter. 1937 übersiedelte er mit seiner Frau Vera und dem 1934 geborenen Sohn Dmitri nach Paris, und im Mai 1940 schiffte er sich nach Amerika ein, wo er eine "neue und geliebte Welt" fand. Nabokov lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten, 1943 erhielt er den Guggenheim-Award, 1945 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an, 1951 wurde er als Gastprofessor nach Harvard eingeladen.


Perfektionismus und Liebe zum Detail kennzeichneten die Arbeit des Schriftstellers, und sie fanden auch in der akademischen Tätigkeit Niederschlag. Als Professor für Europäische Literaturen an der Cornell Universität konfrontierte Nabokov seine Schüler mit spitzfindigen Fragen wie etwa der nach der Farbe von Anna Kareninas Handtasche.


Sein Perfektionismus galt aber in erster Linie sich selbst. In den USA hatte er begonnen, auf Englisch zu schreiben, und seine Auseinandersetzung mit der literarischen Arbeit in der Fremdsprache war intensiv und - für ihn - von Selbstzweifel gekennzeichnet: "Meine private Tragödie, die niemanden etwas angehen kann, ja niemanden angehen sollte, besteht darin, daß ich mein natürliches Idiom aufgeben mußte, meine ungebundene, reiche und unendlich gefügige russische Sprache, um sie gegen eine Art zweitklassiges Englisch einzutauschen, welchem alle jene Requisiten abgehen - der Trickspiegel, der schwarzsamtene Hintergrund, die mitschwingenden Assoziationen und Traditionen -, deren sich der heimische Illusionist mit wehenden Frackschößen bedienen kann, um bei seinen Kunststücken das Erbe auf ganz eigene Weise zu transzendieren", schrieb er in seinem Nachwort zu "Lolita".


Dessen ungeachtet zählte und zählt seine englische Prosa zum besten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat: "Vladimir Nabokov scheint deutlich der beste englischsprachige Prosaschriftsteller der Gegenwart mit amerikanischer Staatsbürgerschaft zu sein", schrieb Schriftstellerkollege John Updike 1964 neidlos in der "New Republic".


Lolita Doch es war nicht nur die Anerkennung er- und belesener Fachkreise, die Nabokov in seiner neuen Heimat fand, auch finanzieller Erfolg und Weltruhm stellten sich ein. Mit "Lolita" schuf er einen Mythos und landete einen Sensationserfolg, doch zunächst wollte es gar nicht so scheinen. Die Geschichte des 40jährigen Literaturwissenschafters Humbert Humbert, der eine brennende Leidenschaft für die zwölfjährige Lolita hegt, erschien einigen amerikanischen Verlegern zu heiß, und sie lehnten das Manuskript ab. In seinem Nachwort zu "Lolita" beschreibt Nabokov die moralische Entrüstung der Lektoren nicht ohne treffend beißenden Sarkasmus: "Ihre Weigerung, das Buch anzukaufen, gründete sich nicht darauf, wie ich mein Thema behandelte, sondern auf dieses Thema selbst, denn wenigstens drei Themen gibt es, die für die meisten amerikanischen Verleger absolut tabu sind. Die beiden anderen sind: eine Heirat zwischen Schwarz und Weiß, die zu einer glücklichen Ehe mit einer Unzahl von Kindern und Enkelkindern führt; und der absolute Atheist, der ein glückliches und nutzbringendes Leben führt und mit 106 Jahren sanft entschläft." Nicht ohne Ironie berichtet er auch von den Vorschlägen, die dem Autor unterbreitet wurden, um das Manuskript doch druckreif zu machen. Ein Verleger ließ Nabokov wissen, daß sein Verlag die Veröffentlichung vielleicht in Erwägung ziehen würde, wenn er seine Lolita in einen zwölfjährigen Jungen verwandelte, der von Humbert, einem Farmer verführt wird, ein anderer meinte, wenn er Lolita drucke, kämen er und Nabokov ins Gefängnis, und ein dritter bedauerte, daß in dem Buch keine guten Menschen vorkämen.


Wie auch immer, Nabokov fand einen Verlag, der den Roman ohne Wenn und Aber annahm, publizierte und die zu erwartende Welle der Entrüstung mittrug. Im prüden Amerika wurde "Lolita" zum Skandalerfolg, der Nabokov mit einem Schlag berühmt-berüchtigt machte.


Mit der amerikanischen Ausgabe des Romans avancierte Nabokov vom Untergrundstar zum Bestsellerautor. Er selbst übersetzte "Lolita" 1967 ins Russische und schrieb auch ein Drehbuch, das 1961 von Stanley Kubrick mit James Mason und Sue Lyon verfilmt wurde. Allerdings verwendete Kubrick - sehr zum Ärger des Autors - für seine Version der Geschichte nur einen kleinen Teil des Nabokovschen Drehbuchs. Noch später wurde der Stoff dramatisiert und kam in einer Bühnenfassung von Edward Albee zur Uraufführung, und Nabokov war so populär, daß selbst eine Zeitschrift wie der "Playboy" den Autor zum Interwiew bat.


Kein Buch für Voyeure Doch entgegen allem Skandal und aller moralischen Entrüstung, die das Buch hervorrief, ist Lolita alles andere als ein Roman, der banale voyeuristische Bedürfnisse befriedigt. Die Beziehung zwischen dem Wissenschafter und der Kindfrau ist von Anfang an viel mehr als bloße Lüsternheit eines älteren Mannes und schuldhaft-schuldlos aufreizendes Verhalten eines zwölfjährigen "Nymphchens". Auf 500 Seiten gibt es nur eine Szene, die man als eindeutig "schlüpfrig" bezeichnen könnte, und was das eigentliche Fundament dieser liaision dangereuse ausmacht, ist die selbstquälerische, von Abhängigkeit gekennzeichnete Liebe des Humbert Humbert und seine verzweifelten und oft vergeblichen Versuche, die fatale Tatsache zu verdrängen, daß Lolita ihn nicht liebt.


Abseits der verbotenen Liebesgeschichte stellt der Roman auch so etwas wie On the road-Literatur dar, denn Humbert und Lolita sind mehrere Jahre lang mit dem Auto quer durch Amerika unterwegs, und Nabokov liefert in dem Roman auch ein satirisch-ironisches Bild der Motelzivilisation, das seinesgleichen sucht. Zudem mokiert er sich offen über manche Auswüchse des American way of life, über Psychoanalyse, Freudianismus und Marxismus, konstruiert ein vielschichtiges System von inneren Bezügen und spart nicht mit literarischen Anspielungen auf Poe, Dante, Merimée oder de Sade - allesamt Autoren, die wie er über die verbotene Liebe zwischen einem alternden Mann und einer Kindfrau geschrieben haben.


Sprachspielereien Abgesehen von all dem erweist Nabokov sich als glänzender Stilist und Meister des Rhythmus. Der Wortfetischismus, den er Humbert Humbert in die Seele legt, zeigt sich schon an den ersten Sätzen, die den Roman eröffnen: "Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei drei gegen die Zähne. Lo.Li.Ta. Sie war Lo, kurz Lo, am Morgen, 1,50 m groß in einem Söckchen. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Aber in meinen Armen war sie immer Lolita." Wie in den Sprachspielereien ist Nabokov auch in anderen formgebenden Elementen seiner Dichtung ein detailverliebter Perfektionist. Das Universum eines Humbert Humbert oder das der Lolita sind durchdacht und durchkonstruiert bis ins letzte: Da stimmt alles von der Krawattennadel bis hin zur Sprache des Literaturwissenschafters, von seinen Vorlieben für gewisse Formulierungen bis hin zur Farbe seines Autos, von den Söckchen der Lolita bis zur Schulmappe, von ihrer Art, Eis zu schlecken, bis zum trotzig-provokanten Protest.


Der Erfolg von "Lolita" brachte Nabokov nicht nur weltweite Bekanntheit, sondern erlaubte ihm auch, die akademische Lehrtätigkeit aufzugeben und sich nur mehr dem Schreiben zu widmen. In den nächsten Jahren veröffentlichte er 25 Romane, und zu Beginn der sechziger Jahre erfüllte der im Herzen wohl immer ein russischer Schriftsteller Gebliebene sich einen Traum und zog mit seiner Frau nach Montreux in der Schweiz. "Es steht einem russischen Schriftsteller wohl an, sich in dieser Gegend niederzulassen. Tolstoj kam als junger Mann hierher, Dostojewski und Tschechow haben sie aufgesucht, und Gogol hat in der Nähe seine ,Toten Seelen` angefangen", sagte er, als man ihn fragte, was ihn dazu bewogen hatte, seinen Lebensabend ausgerechnet hier zu verbringen. In den gemieteten Räumen im sechsten Stock des Hotel Montreux Palace führte Vladimir Nabokov sein Leben des geistigen Exils fort. Er starb am 2. Juli 1977.

Dienstag, 31. März 1998

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