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Vor 200 Jahren starb der berühmte Abenteurer

Münchhausen: Die Wahrheiten des Lügenbarons

Von Hilde Weiss

So sensationell wie die Geschichten, ist ihre Karriere. Die Rede ist von Münchhausens Abenteuern, die bis heute zu den weltweit meistgelesenen Büchern der letzten zwei Jahrhunderte zählen. Viel Ruhm und Ehre, deren man sich natürlich im 200. Todesjahr des "Lügenbarons" wieder bewußter wird. Die Geschichte hat allerdings zwei Haken, und es ist wohl nicht zu früh, auch diese anläßlich des Jubiläums ins Bewußtsein zu lassen: Erstens sind die Geschichten nicht von Münchhausen und zweitens wehrte sich dieser, wenn auch erfolglos, gegen ihre Veröffentlichung. Wir zitieren also "seine" Geschichten bzw. seinen Namen bis heute gegen seinen Willen. Wie kam es dazu? Die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte erweist sich als fast so abenteuerlich wie die Geschichten selbst.


Dabei hat alles ganz normal begonnen. Baron Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen wurde am 11. Mai 1720 auf dem Familiengut Bodenwerder, zu dieser Zeit eine hannoversche Enklave im Braunschweigischen geboren und starb dort 77jährig am 22. Februar 1797. Das niedersächsische Adelsgeschlecht, bereits im 12. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, blickte bereits zu dieser Zeit auf eine ebenso wechselvolle Geschichte wie andere große Familien zurück: Pleiten, Mord, Verrat, Mesalliancen, Hofintrigen und ebenso viele Verdienste.


So gründete Baron Adolf von Münchhausen 1737 die Universität Göttingen, und Baron Otto von Münchhausen war ein bedeutender Naturforscher und Förderer der Landwirtschaft. 1750 ließ er den ersten englischen Garten in Deutschland anlegen. Bevor er als "Lügenbaron" zweifelhafte Berühmtheit erlangte, absolvierte auch Hieronymus eine für seine Zeit und seinen Stand ganz normale Karriere: er war im Militärdienst erfolgreich, zuerst in Braunschweig, dann in Rußland und in zwei Türkenkriegen. Als Soldat in Rußland hat es ihm offenbar, auch ohne außergewöhnliche Heldentaten, gut gefallen. Als er bereits als 20jähriger zum Leutnant ernannt wird, schreibt er seiner Mutter: "Ich befinde mich hier in Riga sehr wohl. Es geschieht mir von den Herren Edelleuten und den Dames viel Obligeance".


Ganz normal geht es auch weiter: Nach der Militärlaufbahn heiratet er standesgemäß, zieht sich nach einigen Familienstreitigkeiten auf sein Gut in Bodenwerder zurück und genießt in ländlicher Abgeschiedenheit sein Leben und seine adligen Privilegien und, ja, auch das ist belegt - ab und zu pflegt er im privaten Kreis recht abenteuerliche Geschichten zu erzählen.


Das klingt harmlos, aber von hier aus nimmt ein kurioses Abenteuer seinen Ausgang. Der Dichter Börries von Münchhausen (1874 bis 1945) gibt anhand von Familienquellen zu diesem wichtigen Punkt an: "Fast nur im vertrautesten Kreise von Freunden und Bekannten war er zum Erzählen zu bringen." In seinen "Geschichten aus der Geschichte einer alten Geschlechtshistorie" bescheinigt Börries seinem Vorfahren "Lust am Fabulieren" und nennt ihn einen "großen Erzähler", allerdings auch den "Lügenmünchhausen". Dem widersprechend sind zwei Belege von Zeitgenossen zu finden, wonach Münchhausen seine Geschichten sehr wohl auch außer Haus erzählt haben soll. Das klingt plausibel, denn irgendwie müssen Münchhausens Erzählungen ja an die Öffentlichkeit gelangt sein. Oder vielleicht doch nur das Faktum seiner Erzähllust? Das alles ist bis heute ungeklärt.


Tatsache ist, daß er sehr erbost war, als die Geschichten unter seinem Namen erschienen. Börries gibt in der Familiengeschichte an, daß er sich gedemütigt fühlte und "den tiefen Verdruß darüber nie völlig verwunden" hat. Immerhin mußte er gegen seinen Willen mit seinem Namen herhalten und sich Spott und zahlreiche Schmähschriften gefallen lassen. Hilflos, denn ein Urheberrecht gab es noch nicht.


Während sich nun die Geschichten, für die er belächelt und angegriffen wurde, ganz ausgezeichnet verkauften, geriet der offen als "Lügenbaron" titulierte zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten, die laut Börries "sein Lebensende so überaus bitter" gestalteten. Den Profit der Veröffentlichungen strichen andere ein, Münchhausen starb "verbittert und gebrochen".


Dazu kam allerdings, daß seine Frau 1790, nach 46jähriger, laut Zeitgenossen sehr glücklicher Ehe, starb, und Münchhausen als 70jähriger nochmals heiratete, und zwar eine 17jährige. Börries sieht diesen Schritt als "die Ursache zu seinem gänzlichen Vermögensverfalle und in der Folge zu dem Verluste des 300 Jahre in der Familie befindlichen Gutes Bodenwerder". Natürlich hagelte es auch von hierher Spott. Viel war zu dieser Zeit am Ansehen Münchhausens aber nicht mehr zu ruinieren. Mittlerweile hatte sich der Begriff Münchhausiade für Lügendichtung und alles Unglaubwürdige und allzu Fantastische unwiderruflich etabliert. Der Name Münchhausen war von den Geschichten nicht mehr wegzubringen. Und ist es bis heute nicht, obwohl die Literaturwissenschaft inzwischen das Gegenteil nachgewiesen hat: Nur wenige der Geschichten kann Münchhausen - wenn überhaupt! - erzählt haben, und auch diese stammen nicht von ihm, denn es wurden auch für sie ältere Quellen, zum Beispiel Volksbücher und Schwanksammlungen, ausfindig gemacht.


Münchhausens fantastische Abenteuer haben also so gut wie nichts mit ihm tun. Wie sind die Geschichten dann aber zu seinem Namen gekommen? 1781 erschienen im "Vademecum für lustige Leute" die ersten dieser Geschichten. Vom Namen des angeblichen Erzählers waren nur einzelne Buchstaben angegeben, gerade genug, um von den Zeitgenossen als Münchhausen identifiziert zu werden. Das war für den Baron zwar ärgerlich, hätte aber durchaus auch wieder in Vergessenheit geraten können, wenn ein gewisser Herr Rudolf Erich Raspe nicht über seine Verhältnisse gelebt hätte und darüber in Schwierigkeiten geraten wäre . . .


Auch hier hat alles ganz normal begonnen. Als Adliger erhielt Raspe eine umfassende Ausbildung und war als Wissenschafter mit einer Professur in Kassel erfolgreich. Als Bibliothekar war ihm fremder Reichtum anvertraut, und der kollidierte eines Tages mit Raspes Verschwendungslust und Verschuldung insofern, als er sich an einer Sammlung wertvoller Goldmünzen vergriff und nach England floh.


Offenbar ging ihm in England rasch wieder das Geld aus, und er sattelte um auf das Leben eines Abenteurers und Hasardeurs. Auf viele Arten versuchte er zu Geld zu gelangen. Eine davon war 1785 die Übersetzung und Veröffentlichung der Geschichten aus dem "Vademecum" - mit durchschlagendem Erfolg. Und mit Münchhausens (diesmal) voll ausgeschriebenem Namen.


Wie die Geschichten nach England gelangt sind, ist also geklärt. Ein Rätsel hingegen bleibt ihr Weg ins Vademecum. Manche Forscher mutmaßen auch hier in Richtung Raspe. Selbst wenn das so wäre, bleibt die Frage: Woher kannte er die Geschichten? Von Münchhausen selbst mit Sicherheit nicht. Vom Hörensagen? So weit und vor allem so ausführlich können sich Münchhausens private Erzählungen nicht herumgesprochen haben. Aus Schwanksammlungen und älteren Quellen, bis auf die Antike zurück, hätte er sie wohl zusammenstellen können. Warum hat er sie aber ausgerechnet mit dem Namen Münchhausen so untrennbar verbunden?


Seinen eigenen Namen wollte Raspe offenbar sauber halten, denn es war in der Zeit nicht gerade eine Ehre für einen gebildeten Adligen, solche Geschichten zu erzählen. Das war für Münchhausen schlimm, aber immerhin im relativ fernen England . . .


Aus Münchhausens Sicht: leider, aus der unsrigen: zum Glück, fiel dann aber das 48seitige Büchlein, das bereits in mehreren Auflagen explodierte, einem gewissen Herrn Gottfried August Bürger in die Hände, und die atemberaubende Weltkarriere war nicht mehr aufzuhalten. Bürger übersetzte die Geschichten ins Deutsche zurück und gab sie 1786 heraus: "Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen, wie er dieselben bey der Flasche im Circel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt."


Münchhausens Abenteuer erreichten enorme Auflagen, wurden im Eiltempo in zahlreiche Sprachen übersetzt und der "Lügenbaron" zum Gegenstand einer Flut von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und später Verfilmungen. Die Geschichten selbst wurden ständig neu bearbeitet, erweitert und illustriert. Bald existierten Hunderte verschiedener Ausgaben.


Diese schwindelerregende Best- und Longsellerkarriere hat allerdings einen Schönheitsfehler: Sollten die ursprünglichen Geschichten auch nur das geringste mit Münchhausen zu tun haben, die uns heute überlieferten haben es mit Sicherheit nicht. Raspe hat nämlich nicht nur übersetzt, sondern kräftig mitgedichtet, und zwar unter gnadenloser Plünderung sämtlicher in Frage kommender Quellen. Damit jedoch noch nicht genug: auch die jeweiligen englischen Herausgeber haben deutlich mit- und aus zeitgenössischen Memoiren zugemischt.


Aber auch das ist noch nicht alles. Bürger war schließlich auch Dichter und nicht nur Übersetzer. Viele der heute berühmtesten Geschichten gibt es in der englischen Ausgabe noch nicht, wir haben sie dem Einfallsreichtum und der literarischen Belesenheit Bürgers zu verdanken: so den Entenfang mit Speck, den Ritt auf der Kanonenkugel, den Sprung durch die Kutsche, die Rettung aus dem Morast . . .


Auch Bürger war es selbstverständlich, Münchhausens Namen wider dessen Willen zu verwenden. Allerdings war er gleichzeitig um Ehrenrettung bemüht. So dichtete er Münchhausen eine moralisch-didaktische Absicht an. Demnach wollte der Lügenbaron Prahlerei durch die Übertreibungen bloß bloßstellen, also Aufschneiderei durch Aufschneiderei austreiben. Anders brachte es Bürger offenbar nicht übers aufklärerische Herz, das Fantastische unters Volk zu bringen, das ja gerade sehr rational und moralisch aufgeklärt werden sollte. Seine diesbezüglichen Verrenkungen in den jeweiligen Vorreden erklären den Geist der Aufklärung besser als so manches wissenschaftliche Werk.


Um "berüchtigte Prahlhänse" zu bessern, war jedes Mittel recht. "So klein und frivol es immer scheinen mag", verteidigt Bürger das Buch, "ist es leicht mehr wert als eine große Menge dickbeleibter ehrenfester Bücher." Von jenen Aufklärern, die sich weniger für ausgelassenen Humor und überbordernde Fantasie erwärmen konnten, hagelte es dennoch erneut Vorwürfe und vernichtende Kritik. Nicht auf den ehrenwerten Bürger, sondern auf den "Lügenbaron".


Geld hat dieser keines bekommen, dafür aber die "Schläge". Noch in unserem Jahrhundert läßt ihn Börries von Münchhausen in einer Ballade wegen seiner angeblichen Lügen bestraft werden: In "Das Fegefeuer des hannoveranschen Adels" erzählt der "Lügenbaron" die Geschichte von der Wolfsjagd. "Die war arg lügenhaft", und so bekam er bei jeder Lüge den "Teufelsbesen" zu spüren.


Sowohl Raspe als auch Bürger sind zwei Jahre vor Münchhausen gestorben. Das hat diesem aber auch nichts mehr genützt: Die Lawine war nicht mehr zu stoppen. Der Name Münchhausen wird von den Geschichten wohl nie mehr wegzubringen zu sein. Sogar in die Psychologie ist er vorgedrungen: Das Münchhausen-Syndrom steht für lügenhafte Angaben über Beschwerden, hinter denen keine bestimmte Absicht, wie die auf Krankschreibung oder vorzeitige Pensionierung erkennbar ist.


Auch die kuriosen Geschichten, die sich um die Person Münchhausens ranken, versiegten nicht. So wurde ein Jahrhundert nach seinem Tod eine Exhumierung und Neubestattung angeordnet. Der Grund: In der Kirche, wo er (nicht als einziger) begraben liegt, war die Luft stickig geworden. Ein Mitglied der Ausgrabungskommission und ein Augenzeuge berichten übereinstimmend, daß "der Unsterbliche" "wie lebendig erhalten geblieben" ist: "Haar, Haut und Gesicht waren unversehrt". Erst durch die frische Luft sei er, in Sekundenschnelle, zum Skelett verfallen: "wie ein Spuk fiel die Form und Gestalt in sich zusammen, durch einen Zauber oder ein Wunder". So schaufelte man das Grab wieder zu, denn der Grund für die Geruchsbelästigung war somit wohl ausgeräumt.


Wieso das alles? Woher kommt die Aufregung, mit so viel verdrehter Ablehnung und Verleugnung im Schlepptau, bei gleichzeitig unwiderstehlicher, wenn auch oft ängstlich gefärbter Anziehungskraft? Eine mögliche Erklärung ist, daß die Geschichten sehr viel weniger weit hergeholt sind, als es scheint. Die psychotherapeutische Praxis und Methoden wie das aktive Imaginieren beweisen ihre verwirrende Wirklichkeitsnähe. Das alles gibt es wirklich, in dem Sinn, daß es nachweislich in uns wirksam ist.


Nur der äußeren Wirklichkeit widersprechen die Geschichten. Wie wirklich ist aber diese Wirklichkeit? fragt nicht nur Paul Watzlawick und mittlerweile der Großteil der Wissenschaft. Schon zu Zeiten Münchhausens wies u. a. Immanuel Kant darauf hin, daß wir nie von der Welt, sondern nur von Bildern der Welt sprechen können.


"Münchhausen" erzählt, daß er sich, sogar samt Pferd, am eigenen Haarzopf aus dem Sumpf gezogen habe. Watzlawick interpretiert das im Buch "Münchhausens Zopf", das besser "Bürgers Zopf" heißen sollte, als ein sich am eigenen Schopf aus dem (Bild-)Rahmen der Welt Ziehen, um sie dann von außen neu sehen zu können. Er ist überzeugt, "daß das Wesen wirksamer Therapie im Herbeiführen dieses Kunststückes liegt".


Der erzählende "Münchhausen" besteht in den Geschichten immer wieder darauf, die reinste Wahrheit zu sagen. Aus psychologischer Sicht tut er das, was jeder auf inneren Reisen nachprüfen kann. Dabei wird er aber vermutlich auch die Erfahrung machen, daß das mitunter recht brisant und verwirrend ist - und sich immer weniger über das historische Münchhausen-Spektakel wundern.

Dienstag, 31. März 1998

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