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Der Sammelband "alles was Brecht ist" zeigt die Aktualität des Jubilars

Brecht, der Medienarbeiter

Von Michael Bienert

Im Sommer 1928 berichtete die Frankfurter Zeitung über eine wundersame Begebenheit im Studio einer sowjetischen Filmgesellschaft: Für Dreharbeiten zu einem Spielfilm über Pogrome im zaristischen Rußland fand sich ein Darsteller, der dem Verantwortlichen jener Greueltaten verblüffend ähnlich sah. Zwei jüdische Komparsen, Augenzeugen der im Film nachgestellten Judenverfolgung, erkannten in dem Darsteller den wirklichen Übeltäter wieder. Der frühere kaiserliche Gouverneur, von der Revolution um Amt und Vermögen gebracht, hatte sich um die Rolle bemüht, weil er damit ein wenig Geld zu verdienen hoffte.


Wenige Monate später vergab die Berliner Illustrierte Zeitung den 1. Preis eines hochdotierten Kurzgeschichtenwettbewerbs an den Autor einer Erzählung, die auf jener Zeitungsmeldung aus dem Sowjetreich basierte. Er hieß Bertolt Brecht und stand bei demselben Medienkonzern unter Vertrag, der auch die Berliner Illustrierte herausbrachte. Brecht übernahm alle Details des Zeitungsberichts, bis auf seinen erzählerischen Höhepunkt, das Wiedererkennen des Bösewichts durch seine Opfer. Er erzählte die Geschichte neu: als Lehrstück über die Darstellung der Wirklichkeit in den Medien. In seiner Version sind die Filmleute nicht in der Lage, das Schreckliche im Spiel des Darstellers zu erkennen, der sein früheres grausames Verhalten einfach wiederholt. Anstelle eines zerstreuten Schreibtischtäters wollen sie eine Bestie auf Zelluloid bannen. Sie bringen den Übeltäter dazu, ihnen eine Version zu erfinden, die bestialischer wirkt, aber mit der historischen Begebenheit nicht mehr viel gemein hat. Ein Schauspieler setzt die Erfindung kunstvoll in Szene und rührt so das ganze Filmatelier zu Tränen. Die wirkliche Bestie aber zieht unerkannt mit einem kleinen Anerkennungshonorar von dannen.


Brecht hat diese Geschichte aus der Flut von Nachrichten gefischt, mit denen der moderne Mensch in diesem Jahrhundert von verschiedenen Medien täglich gefüttert wird; er hat sie für die neuerliche Verwertung in den Medien bearbeitet und sie um eine medienkritische Pointe bereichert. Mit gutem Grund steht die Geschichte am Anfang eines Buches über Brecht und Medien, der als Begleitband zu den Retrospektiven der Sender 3sat und S2 Kultur aus Anlaß des 100. Geburtstags konzipiert ist. Denn die Auseinandersetzung mit der modernen Medienwelt zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Unermüdlich sammelte er Material, um es für die Verwertung in den unterschiedlichsten Medien zu bearbeiten. Anfang der zwanziger Jahre und im Exil schrieb er Dutzende von Filmszenarien, in der Frühzeit des Rundfunks trat er mit Stückbearbeitungen und programmatischen Aufsätzen hervor, kurz vor seinem Tod begann er, sich für die Möglichkeiten des Fernsehens zu interessieren. Nicht allein das Sprechtheater wollte er erneuern, sondern auch die Oper und das Kino. Seine letzte Buchveröffentlichung zu Lebzeiten, die Kriegsfibel , sollte vor allem die Kunst lehren, die Bilderwelt der journalistischen Medien kritisch zu betrachten. Wie kaum ein anderer Dichter seines Rangs dachte und arbeitete Brecht multimedial, immer darauf bedacht, alle Kommunikationswege zu nutzen, um öffentlich zu wirken.


Dabei ging er davon aus, daß die Medien ihre Funktion nur unzureichend erfüllten: "Der heutige Mensch, lebend in einer sich rapid ändernden Welt und sich selber rapid ändernd, hat kein Bild dieser Welt, das stimmt und auf Grund dessen er mit Aussicht auf Erfolg handeln könnte." Deshalb forderte Brecht eine - nicht bloß technische - Revolutionierung der Bewußtseinsproduktion. Die neuen Medien sollten, wie die traditionellen Künste, vor allem einem Zweck dienen: den Menschen zu helfen, "sich und die Welt zu meistern". Die zentrale Frage, die Brecht an das Theater stellte, richtete sich gleichermaßen an alle anderen bewußtseinsbildenden Institutionen: "Wie kann es aus dem geistigen Rauschgifthandel herausgenommen und aus einer Stätte der Illusionen zu einer Stätte der Erfahrungen gemacht werden?"


Der von Werner Hecht herausgebene Materialienband dokumentiert die zahllosen, oft gescheiterten Versuche Brechts, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Er hat es sich damit nicht so leicht gemacht, wie weithin angenommen wird, und in späten Schriften oft genug betont, daß sein episches Theater lediglich einen möglichen Weg der Erneuerung darstellte, keinesfalls aber den einzigen . Vor allem hat er unermüdlich experimentiert, ohne allzu große Rücksicht auf die eigenen Theorien. Diese Experimente fanden nicht selten in dem Bereich statt, den wir heute als "Off-Kultur" bezeichnen: Da die großen Bühnen seine agitatorischen Stücke in den frühen dreißiger Jahren ablehnten, nahm das Brecht-Theater die Gestalt eines revolutionären Wanderzirkus durch die Versammlungslokale der Arbeiterbewegung an. Der Tonfilm Kuhle Wampe entstand abseits der großen Studios und wäre beinahe an der Filmzensur gescheitert. Es wird oft vergessen, daß auch das Berliner Ensemble erst kurz vor Brechts Tod ein eigenes Haus erhielt - berühmt wurde es als mobile Truppe, die zunächst am Deutschen Theater Gastrecht genoß und durch die junge DDR tourte.


Betrachtet man Brecht nicht von seinen zu Dogmen geronnenen Antworten her, sondern von seinen Fragestellungen und in seiner ganz konkreten Arbeitsweise, zeigt sich ein überraschender Reichtum an aktuellen Bezügen. Der vorliegende Band leistet einen nützlichen Beitrag dazu, die Wahrnehmung Brechts aus der ideologischen Engführung zu befreien. Darüber hinaus dokumentiert er ausführlich Brechts Nachleben in den Medien Film, Rundfunk und Fernsehen. In der Zeit vom 6. Dezember 1997 bis zum 100. Geburtstag am 10. Februar 1998 hat allein der Fernsehsender 3sat fast 80 Stunden Theateraufführungen, Filme, Dokumentationen ausgestrahlt - darunter viele Seltenheiten wie der Stummfilm Mysterien eines Frisiersalons mit Karl Valentin aus dem Jahr 1923 oder längst vergessene Fernsehspiele nach Erzählungen von Brecht: Eine einmalige Gelegenheit, sein Lebenswerk in seiner ganzen Vielschichtigkeit wahrzunehmen, die so schnell bestimmt nicht wiederkehrt.


Werner Hecht (Hg.): alles was Brecht ist . . . Fakten - Kommentare - Meinungen - Bilder. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1997, 316 Seiten.

Dienstag, 03. Februar 1998

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