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Sebald: Kleine Mörder, große Opfer

Von Evelyne Polt-Heinzl

Als Nummer 158 der renommierten "Text + Kritik"-Bände ist soeben ein Heft zu W. G. Sebald erschienen, der 2001 bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist (siehe dazu auch Artikel oben, Red.). Die Beiträge beschäftigen sich mit Sebalds literarischem Werk ebenso wie mit seinem literaturwissenschaftlichen, auch mit jener Zürcher Vorlesung von 1997, die für einige Aufregung gesorgt hat. Unter dem Titel "Luftkrieg und Literatur" erschienen diese Thesen 1999 im Carl Hanser Verlag, ergänzt um einen Essay über nicht ganz lautere Bekenntnisse zur Stunde Null am Beispiel von Alfred Andersch und einen Nachtrag, der die Reaktionen auf seine Vorlesungen zusammenfasst.

Die Luftangriffe der Alliierten, so lautete Sebalds These, seien "nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden, vor allem wohl deshalb nicht, weil ein Volk, das Millionen von Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlangen konnte über die militärpolitische Logik, die die Zerstörung der deutschen Städte diktierte". Auch die Schriftsteller sind kaum "bereit oder imstande gewesen, etwas Konkretes zu Papier zu bringen". Was Sebald an literarischen Verarbeitungen aufzählt, ist tatsächlich dürftig. Texte aus den 40er und 50er Jahren von Hermann Kassack, Ernst Nossack, Peter de Mendelssohn, Heinrich Böll und Arno Schmidt sowie von Hubert Fichte und Alexander Kluge als Vertreter jener Generation, die die Bombardements als Kinder erlebt hat.

Dass Sebald ausgerechnet die beiden erschütterndsten Romane zum Thema Luftkrieg übersah, zeigt, wie schwer sich Literaturwissenschaft heutzutage tut, Fehler und Versäumnisse der Literaturkritik auszugleichen. Beide Romane waren zwar von der Kritik kaum beachtet und von den Verlagen gründlich vergessen worden, in einschlägigen Lexika wären sie freilich zu finden gewesen. Zumindest eines der beiden Werke hat die Diskussion über Sebalds Thesen wieder ins Gespräch und auch in die Buchhandlung gebracht: Gert Ledigs in seiner Nüchternheit fast unerträgliche Darstellung der Zerstörung mit dem provozierenden Titel "Die Vergeltung" wurde 1999 bei Suhrkamp wieder aufgelegt, 2003 gar in die Reihe "Romane des Jahrhunderts" aufgenommen und zumindest im "Nachtrag" kommt er nun auch bei Sebald vor. An das zweite Buch, so scheint es, hat bis heute noch niemand gedacht. Gisela Elsners Roman "Fliegeralarm" fand kaum positive Beachtung, er ist 1989 bei Zsolnay erschienen - und das war offenbar ein Jahrzehnt zu früh.

Sebald stellte die Frage nach Spuren der psychischen Deprivation durch die flächendeckende Zerstörung in der Literatur. Als eines der wenigen Beispiele führt er Nossacks Beschreibung einer Frau an, die nach dem großen Brand von Hamburg "in einem Haus, das einsam und unzerstört mitten in der Trümmerwüste stand, die Fenster putzte". Bei Gisela Elsner hätte er viele Szenen dieser Art gefunden.

Elsners Roman schildert die Bombardements auf Nürnberg aus der Perspektive zweier Kinder, die verbissen SS, KZ und Endsieg spielen - in schrecklicher Verwilderung, aber auch im verzweifelten Kampf gegen Angst und Haltlosigkeit. Sobald die Sirenen heulen, greift der kleine Junge zu seinem Talisman, einer Schachtel mit Miniaturnachbildungen der Wehrmacht samt Führer. Ebenso zwanghaft schnappt sich der Vater Mutters Nähkästchen aus der Abstellkammer. Im Keller schüttet er regelmäßig den Inhalt aus und versucht ihn für die Dauer des Bombardements angelegentlich und versunken neu zu schlichten - dem Chaos und der Todesangst setzt er die ordnende Tätigkeit an "Schweißblättern" und Garnen entgegen.

Der Kunstkniff, mit dem Elsner das Unbegreifliche darstellbar macht, liegt in ihrer Sprachartistik ebenso wie in der Kinderperspektive. Die Kinder spielen KZ-Wärter - tatsächlich kommt ein zum Juden ernannter Junge durch sie ums Leben -, Führer und Krieg, freuen sich über die Angriffe, die ihnen wunderschöne neue Bombenruinen bescheren, und hoffen, dass bald, nach dem Endsieg, gar nichts mehr übrig sein wird. Sie sind kleine Mörder und große Opfer - etwas wird bleiben in ihnen, und dieses Etwas, das macht Gisela Elsner deutlich, ist nachhaltig und auch gefährlich.

Freitag, 06. Juni 2003

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